Entscheidungsstichwort (Thema)

Landeserziehungsgeld. Anspruchsberechtigung. Staatsangehörigkeit. Türkei. EG-Mitgliedstaat. Revisibilität. Verletzung von Bundesrecht. Auslegung von Landesrecht. Europäische Sozialcharta. Assoziationsabkommen. Assoziationsrat. Auslegung. der Beschlüsse. Diskriminierungsverbot. Arbeitsentgelt. Arbeitsbedingungen. Zweck des Erziehungsgeldes. Gleichheitssatz. Schutz von Ehe und Familie

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es verstößt weder gegen die Europäische Sozialcharta noch gegen das Assoziationsrecht zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei und auch nicht gegen den Gleichheitssatz oder das Schutzgebot des Grundgesetzes für Ehe und Familie, daß türkische Staatsangehörige vom Bezug des bayerischen Landeserziehungsgeldes ausgeschlossen sind.

2. Begründet das Tatsachengericht die Auslegung von Landesrecht mit der Annahme, die nach Wortlaut und Sinn der Regelung an sich gebotene anderweitige Auslegung verstoße gegen Bundesrecht, so ist die Auslegung des Bundesrechts revisibel, obgleich die Anwendung bundesrechtlicher Auslegungsgrundsätze nicht revisibel ist.

 

Normenkette

GG Art. 3, 6, 100; SGG § 162; EuSC Art. 16; EWGAbk Türkei Art. 12; BErzGG § 1; BayLErzGG § 1; EWGV 1408/71 Art. 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Bayreuth (Urteil vom 29.10.1992; Aktenzeichen S 10 Eg 2/92)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 29. Oktober 1992 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie lebt seit 1977 in Bayern und ist seit 1989 mit einem deutschen Staatsbürger verheiratet. Ihren Antrag, für ihren am 22. Juli 1991 geborenen Sohn im Anschluß an das Bundeserziehungsgeld (BErzG) Landeserziehungsgeld (LErzG) nach dem Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetz (BayLErzGG) zu gewähren, lehnte das beklagte Land mit Bescheid vom 29. Oktober 1991 und Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 1992 ab: Die Klägerin erfülle nicht die Anspruchsvoraussetzung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft (EG). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 29. Oktober 1992 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin LErzG zu gewähren. Nach Auffassung des SG fällt die Klägerin bei verfassungs- und europarechtsgemäßer Auslegung der landesrechtlichen Vorschriften unter den begünstigten Personenkreis, weil sie als türkische Staatsangehörige aufgrund der Europäischen Sozialcharta (EuSC) und dem Assoziierungsabkommen zwischen der EG und der Türkei den Staatsangehörigen der EG-Mitgliedsländer gleichzustellen sei.

Dagegen richtet sich die vom SG zugelassene Sprungrevision des Beklagten. Er rügt eine Verletzung des bundesrechtlichen und landesrechtlichen Gleichheitssatzes sowie der europarechtlichen Vorschriften bei der Auslegung des bayerischen Landesrechts.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und regt hilfsweise an, zur Entscheidung der Frage, ob die EuSC Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 2 Grundgesetz (GG) einzuholen, sowie die Frage, ob Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung und Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 19. September 1980 einen Anspruch für türkische Staatsangehörige auf alle im Bundesgebiet gewährten sozialen Leistungen begründet, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des beklagten Landes ist statthaft. Das SG hat zwar möglicherweise verfahrensfehlerhaft gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Sprungrevision auf Antrag des Beklagten durch Beschluß zugelassen, obwohl die Zustimmung der Klägerin beim Antrag auf nachträgliche Zulassung innerhalb der Frist dem SG nicht in der vorgeschriebenen Schriftform, sondern lediglich wie der Antrag selbst in Form einer Telekopie (Telefax) zugegangen ist. Es ist zwar in der Rechtsprechung inzwischen allgemein anerkannt, daß prozessuale Erklärungen, insbesondere Rechtsbehelfe, fristwahrend durch Telefax eingelegt werden können (vgl. BSG SozR 1500 § 160 a Nr. 53; BSGE 70, 197 = SozR 7833 § 1 Nr. 7; BGH NJW 1990, 188; BAGE 50, 348; BFHE 136, 38). Die Formgültigkeit prozessualer Erklärungen ist allerdings höchstrichterlich nur für solche Telekopien anerkannt worden, die eine eigene Erklärung des Absenders in schriftlicher Form mit seiner Unterschrift wiedergeben. In der Instanzrechtsprechung wird auch die Übermittlung einer Prozeßvollmacht, also einer Erklärung eines Dritten, durch Telefax als ausreichend angesehen (LSG Essen, CR 1991, 232; zustimmend Ebnet, NJW 1992, 2985, 2989). Der Senat hat Bedenken, ob dies zutreffend ist und in gleicher Weise für die Zustimmungserklärung des Gegners zur Einlegung der Sprungrevision gilt, wenn der Gegner diese Zustimmung nicht selbst durch Telekopie gegenüber dem Gericht erklärt, sondern der Antragsteller die schriftliche Erklärung des Gegners durch Telekopie übermittelt. Einer solchen Telekopie kommt kein höherer Beweiswert zu als der Übersendung einer unbeglaubigten Fotokopie der Zustimmungserklärung, die nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (vgl. Urteil vom 2. Dezember 1992 – 6 RKa 5/91 –, NZS 1993, 471) in Abweichung von der früheren Rechtsprechung (vgl. BSGE 20, 154 = SozR Nr. 17 zu § 161 SGG) nicht ausreicht. Eine etwaige fehlerhafte Zulassung der Sprungrevision durch das SG bleibt hier jedoch folgenlos. Gemäß § 161 Abs. 2 Satz 2 SGG ist das BSG an die Zulassung gebunden (vgl. für den Fall fehlender Zustimmungserklärung BSG SozR 1500 § 161 Nr. 31; ferner Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 161 RdNr. 8).

Die Revisionsrüge des Beklagten, das Urteil des SG verstoße gegen den landesrechtlichen Gleichheitssatz, ist allerdings unzulässig. Der Senat hat materiell-rechtlich nur zu prüfen, ob das angefochtene Urteil Bundesrecht verletzt, weil das BayLErzGG sich in seinem Geltungsbereich nicht über den Bezirk des (übersprungenen) Berufungsgerichts hinaus erstreckt (§ 162 SGG). Von der in Art. 99 GG eingeräumten Befugnis, die Zuständigkeit der obersten Gerichtshöfe des Bundes in solchen Sachen zu begründen, bei denen es sich um die Anwendung von Landesrecht handelt (vgl. dazu BSGE 22, 196, 198), hat der bayerische Landesgesetzgeber keinen Gebrauch gemacht.

Im übrigen ist die Revision zulässig. Der Beklagte hat insoweit die Verletzung von Bundesrecht schlüssig dargelegt. Hätte das SG mit der Annahme, der Anspruch auf LErzG ergebe sich bei EG-rechtskonformer und verfassungsgemäßer Auslegung des bayerischen Landesrechts, das nach Auffassung der Revision verletzte Bundesrecht lediglich zur Auslegung irrevisiblen Rechts herangezogen, so würde das die Revisibilität nicht begründen (vgl. BSGE 55, 115 = SozR 1500 § 162 Nr. 17; BVerwGE 1, 76, 78; Meyer-Ladewig, § 162 RdNr. 5). Es ist vom Revisionsgericht nicht zu prüfen, ob die vom Tatsachengericht vorgenommene Auslegung möglich war, ohne gegen – dem Bundesrecht angehörige – allgemeine Auslegungsgrundsätze zu verstoßen. Nicht revisibel wäre ferner, wenn das SG Bundesrecht lediglich zur Ergänzung lückenhafter landesrechtlicher Regelungen herangezogen hätte (vgl. dazu BVerwGE 2, 22; 32, 252, 254; 44, 351, 354; BVerwG Buchholz 310, § 137 VwGO Nr. 173; st Rspr). In solchen Fällen der ergänzenden Heranziehung von Bundesrecht, soweit es nicht von Verfassungs wegen vorrangig ist (Art. 31 GG), beruht die Verbindlichkeit des Rechts auf dem Gesetzesbefehl des Landesgesetzgebers. Das SG hat aber angenommen, der Rechtsanspruch der Klägerin ergebe sich entgegen dem klaren Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Nr. 5 BayLErzGG, der den Anspruch auf LErzG abweichend vom Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) auf Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der EG beschränkt, durch zwingende Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts und damit aus dem Bundesrecht (BVerwGE 35, 277; Kopp, VwGO, 9. Aufl 1992, § 137 RdNr. 5). Das SG hat deshalb den Inhalt von Landesrecht mit der Annahme zwingenden Bundesrechts bestimmt und damit Bundesrecht „angewendet”. Bundesrecht ist gleichermaßen verletzt, wenn dort bestehende zwingende Vorschriften nicht angewendet werden wie wenn sie unrichtig angewendet werden, dh Rechtsfolgen daraus abgeleitet werden, die das Bundesrecht nicht begründet. Solche Rechtsfehler zu korrigieren, ergibt sich auch aus der Aufgabenstellung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, die Einheit des Bundesrechts zu wahren (vgl. BGH MDR 1967, 1004; BVerwGE 17, 322; BVerwG Buchholz 230, § 127 BRRG Nr. 53).

Die Revision ist auch begründet.

Nicht zu überprüfen ist die stillschweigende Annahme des SG, daß der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben ist, obwohl der Ausschluß von Verfahrensrügen bei einer Sprungrevision (§ 161 Abs. 4 SGG) die Zulässigkeit des Rechtswegs, die grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen ist, nicht umfaßt (BSG SozR 1500 § 161 Nr. 26). Nach § 17 a Abs. 5 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) idF durch Art. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlicnen Verfahrens vom 17. Dezember 1990 (BGBl I 2809) hat das Rechtsmittelgericht jedenfalls dann nicht mehr über die Zulässigkeit des Rechtswegs zu befinden, wenn sie nicht in der Vorinstanz gerügt worden ist und das Gericht deshalb nicht vorab darüber unter Eröffnung des Beschwerdewegs zu entscheiden hatte (§ 17 a Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 3 GVG in der genannten Fassung; vgl. dazu BGHZ 120, 204; weitergehend Baumbach/Lauterbach/Albers, ZPO, 51. Aufl 1993, § 17 a GVG RdNr. 15: Ausschluß der Überprüfung selbst bei Verfahrensverstoß der Vorinstanz). So war es hier. Bei der ausdrücklichen Rechtswegzuweisung in Art. 8 Nr. 1 Buchst f des Gesetzes zur Gewährung eines Landeserziehungsgelds und zur Ausführung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BayLErzGG) vom 12. Juni 1989 (GVBl S 206) hat auch der Senat wegen des eingeschlagenen Rechtswegs keine Zweifel.

Das SG hat zu Unrecht angenommen, daß aus übergeordnetem Bundesrecht bzw Europarecht die Klägerin hinsichtlich der Gewährung von LErzG einem Staatsbürger der EG-Mitgliedstaaten gleichzustellen ist. Da sich allein nach den landesrechtlichen Vorschriften, an deren Auslegung durch das SG der Senat insoweit gebunden ist, ein Anspruch der Klägerin nicht ergibt, kann der Senat abschließend in der Sache entscheiden mit der Folge, daß die Klage abzuweisen ist.

Ein Anspruch auf Gleichstellung ergibt sich nicht aus Art. 16 EuSC vom 18. Oktober 1961 (BGBl II 1964, 1261). Nach dieser Vorschrift verpflichten sich die Vertragsparteien, zu denen auch Deutschland und die Türkei gehören, die erforderlichen Voraussetzungen für die Entfaltung der Familie als einer Grundeinheit der Gesellschaft zu schaffen, indem sie den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens fördern, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen, steuerliche Maßnahmen, Förderung des Baus familiengerechter Wohnungen, Hilfen für junge Eheleute ua geeignete Mittel jeglicher Art. Wie das BVerwG mit Urteil vom 18. Dezember 1992 (DVBl 1993, 787 == NVWZ 1993, 778) zum LErzG in Baden-Württemberg nach Maßgabe der dortigen Richtlinien des Landesministeriums für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung – die dem BayLErzGG entsprechende Regelungen enthalten mit Ausnahme der besonderen Rechtswegzuweisung – zutreffend ausgeführt hat, handelt es sich bei den Regelungen der Charta grundsätzlich nicht um Rechtssätze, die einer unmittelbaren, gerichtlich überprüfbaren Anwendung im innerstaatlichen Recht zugängig sind. Dies ergibt sich neben der allgemein gehaltenen Formulierung der EuSC ausdrücklich aus Teil III ihres Anhangs, der gemäß § 38 EuSC Vertragsbestandteil ist, wonach zwischen den Vertragspartnern Einverständnis darüber besteht, daß die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält, deren Durchführung ausschließlich der in Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt. Die dort vorgesehene „Überwachung” enthält aber ausschließlich Berichtspflichten und die Möglichkeit, Empfehlungen an die Vertragsparteien zur Umsetzung der Vertragsziele in innerstaatliches Recht zu geben. Ohne diese Umsetzung in innerstaatliches Recht begründet die EuSC keine Rechtsansprüche (so auch die Erklärung der Bundesregierung in ihrer Denkschrift vom 25. März 1964 zum Entwurf eines Gesetzes zur EuSC ≪BT-Drucks IV/2117, S 1, 28≫ sowie gewichtige Literaturmeinungen ≪vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, S 399; Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag. Bd. 4, Art. 228 RdNr. 59 und Art. 210 RdNr. 54; Hailbronner, Ausländerrecht, 2. Aufl 1989, RdNr. 401; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl 1990, S 656 RdNr. 13; Konzen, JZ 1986, 157, 162; Wengler, Die Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta im Staat, 1969, S 10 f; offen gelassen von BVerfGE 58, 233, 254≫). An einer solchen innerstaatlichen Umsetzung durch Bundesrecht fehlt es hier.

Entgegen der Auffassung des SG ergibt sich auch nicht aus dem Assoziationsrecht zwischen der EG und der Türkei ein Anspruch auf Gleichbehandlung hinsichtlich der Gewährung von LErzG. Das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (Abkommen), verkündet mit Gesetz vom 13. Mai 1964 (BGBl II 509), ist zwar ebenso wie das später abgeschlossene Zusatzprotokoll vom 23. November 1970, verkündet mit Gesetz vom 19. Mai 1972 (BGBl II 385) integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung geworden (EuGHE 1987, 3719 = NJW 1988, 1442, BSGE 60, 230, 232 = SozR 6100 Allg Nr. 1). Im wesentlichen enthält es aber auch nur Programmsätze zur schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs bis zur völligen Rechtsangleichung. Gemäß Art. 12 des Abkommens vereinbaren die Vertragsparteien, sich von den Art. 48, 49 und 50 des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. Art. 36 des Zusatzprotokolls sieht vor, daß die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen dem Ende des 12, und dem Ende des 22. Jahres nach Inkrafttreten des Abkommens schrittweise hergestellt wird. Der von den Vertragsparteien eingerichtete Assoziationsrat soll die dafür erforderlichen Regeln festlegen. Die Vertragsparteien waren sich somit darüber einig, daß das Abkommen der weiteren Umsetzung bedarf; selbst nach Ablauf der vorgesehenen Übergangsphase begründet das Abkommen allein noch keine Rechtsansprüche auf Sozialleistungen (vgl BVerwGE 78, 192, 195; EuGHE, aaO).

Eine Umsetzung im Sinne der Begründung eines Rechtsanspruchs auf Gleichbehandlung bei sozialen Leistungen wie dem Erziehungsgeld (Erzg) ist entgegen der Auffassung des SG nicht durch den Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4) und auch nicht – vom SG nicht erwähnt – den Beschluß Nr. 3/80 vom selben Datum (ABl EG 1983, Nr. C 110 S 60) geschehen. Nach Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 räumen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt. Ungeachtet der fehlenden amtlichen Veröffentlichung – die der Begründung eines Rechtsanspruchs nicht entgegensteht – (vgl. dazu EuGH vom 20. September 1990 – RsC 192/89 – NvWZ 1991, 255, 256; anders noch BSGE 60, 230 = SozR 6100 Allg Nr. 1) kann sich die Klägerin deshalb nicht auf diese Regelung berufen, weil das hier streitige LErzG weder zum Arbeitsentgelt noch zu den sonstigen Arbeitsbedingungen zählt (ebenso BVerwG vom 18. Dezember 1992, aaO). Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 begründet zwar für türkische Staatsangehörige die gleichen Rechte und Pflichten wie für Staatsangehörige des EG-Mitgliedstaates, in dem sie wohnen, soweit ua Familienleistungen betroffen sind (Art. 4 Abs. 1 Buchst h des Beschlusses). Wie das BVerwG ebenfalls in der zuletzt genannten Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, betrifft diese Vorschrift damit nur solche Leistungsansprüche, die an die Eigenschaft des Leistungsempfängers als Arbeitnehmer anknüpfen oder die den Familienangehörigen wegen ihrer Eigenschaft als Angehörige eines Arbeitnehmers gewährt werden. Das bayerische LErzG hängt aber ebenso wie das BErzG nicht von der Arbeitnehmereigenschaft oder Familienangehörigkeit, sondern von der persönlichen Kindesbetreuung ab. Es will die Leistungen des BErzGG ergänzen. Dessen Hauptzweck besteht darin, es zu ermöglichen oder zu erleichtern, daß sich ein Elternteil der Betreuung und Erziehung des Kindes in dessen erster Lebensphase widmet (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1251 a Nr. 8). BErzG wird aber ohne Rücksicht auf eine frühere oder spätere Erwerbstätigkeit an Erziehende gezahlt, die keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausüben (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 und 4 BErzGG). Für Arbeitnehmer ist darüber hinaus die Gewährung von Erziehungsurlaub vorgesehen (§ 15 BErzGG). Das BayLErzGG setzt zwar nicht voraus, daß der Berechtigte zuvor Erzg nach dem BErzGG bezogen hat (Art. 1 Abs. 2 BayLErzGG), deckt sich aber hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen im übrigen weitgehend mit dem BErzGG mit der hier bedeutsamen Einschränkung, daß neben einem gewöhnlichen Aufenthalt von mindestens 15 Monaten in Bayern die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EG verlangt wird (Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 und 5 BayLErzGG). Auch für das BayLErzGG läßt sich im Grundsatz feststellen, daß es sich um eine Sozialleistung handelt, die nicht nur Arbeitnehmern oder deren Familienangehörigen zugute kommt.

Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 begründet für solche Sozialleistungen keinen Gleichstellungsanspruch von türkischen Staatsangehörigen mit Angehörigen von EG-Mitgliedstaaten. Das läßt sich mit hinreichender Deutlichkeit aus der Rechtsprechung des EuGH ableiten, selbst wenn – soweit ersichtlich – diese konkrete Regelung noch nicht Gegenstand seiner Rechtsprechung war. Der EuGH hat aber zu der wortgleichen Regelung in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl EG Nr. L 149 S 2), die EG-Angehörige betrifft, entschieden, daß nur Vergünstigungen für Arbeitnehmer und deren Familienangehörige von dem darin verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz erfaßt werden (EuGHE 1985, 1881 = SozR 6050 Art. 2 Nr. 8). Es ist nichts dafür ersichtlich, daß bei übereinstimmendem Wortlaut die an der Fassung des Beschlusses Nr. 3/80 beteiligten Mitglieder des Assoziationsrates den türkischen Staatsangehörigen weitergehende Rechte einräumen wollten, wie sie EG-Angehörige erst durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 (ABl EG Nr. L 257 S 2) und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGHE 1985, 1881; 1982, 33 = DVBl 1982, 254) für sonstige soziale und steuerliche Vergünstigungen erhalten haben (zum Anspruch auf sog Babygeld vgl. BVerwG NJW 1988, 2195).

Da die Rechtslage durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu diesen Fragen hinreichend geklärt ist (ebenso BVerwG im Urteil vom 18. Dezember 1992, aaO) hat der Senat keine Veranlassung, das vorliegende Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des EuGH gemäß Art. 177 EWGV über die Auslegung des Assoziationsabkommens und der Assoziationsratsbeschlüsse einzuholen. Die Voraussetzungen, eine Entscheidung des BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 2 GG einzuholen, liegen ebenfalls nicht vor. In diesem Rechtsstreit ist nicht zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts geworden ist und unmittelbare Rechte und Pflichten für den einzelnen erzeugt (Art. 25 GG). Die hier anzuwendenden Normen der Europäischen Gemeinschaft (jetzt; Europäische Union) sind keine allgemeinen Regeln iS von Art. 25 GG (BVerfG BB 1986, 1070). Auch die streitigen Vorschriften der EuSC, auf die sich die Klägerin beruft, entsprechen zweifelsfrei keinen allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie sie sich mitunter auch in völkerrechtlichen Verträgen und Übereinkommen finden lassen (vgl. dazu BVerfGE 16, 276; Maunz in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 25 RdNr. 28, 30).

Das Urteil des SG erweist sich auch nicht aus sonstigen Gründen als zutreffend. Soweit die Klägerin auf Art. 9 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats verweist, der den Anspruch türkischer Kinder auf berufliche Bildung betrifft, ist dies wegen der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes der Klägerin nicht relevant.

Aus Art. 3 und 6 GG ergibt sich kein Recht der Klägerin auf Gleichbehandlung mit EG-Staatsangehörigen, auch nicht im Hinblick auf die deutsche Staatsangehörigkeit ihres Ehemannes. Daß im Rahmen der Gewährung von Sozialleistungen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ein zulässiges Unterscheidungskriterium ist, soweit nicht völkerrechtliche Regelungen etwas anderes vorschreiben, entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG SozR 6805 Art. 1 Nr. 1; SozR 3-7833 § 1 Nr. 1 und Nr. 7) in Übereinstimmung mit dem BVerfG (vgl. Beschluß vom 20. März 1979 – SozR 2200 § 1315 Nr. 5).

Auch aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich kein weitergehender Anspruch der Klägerin. Nach dieser Verfassungsnorm sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Es steht in der alleinigen Verantwortung der Eltern zu entscheiden, wie und in welchem Umfang sie sich der Erziehungsaufgabe widmen. Ein Einwirken des Staates in diesen Bereich ist nur in engen Grenzen gestattet (vgl. Art. 6 Abs. 3; ferner BVerfGE 68, 176, 190).

Durch die Begrenzung des LErzG-Anspruchs auf EG-Staatsangehörige greift der bayerische Landesgesetzgeber auch dann nicht in das Erziehungsrecht der Eltern ein, wenn nur ein Elternteil diese Staatsangehörigkeit besitzt. Der Klägerin ist zwar einzuräumen, daß die Entscheidung der Eltern, wer von ihnen in welchem Umfang sich der Erziehungsaufgabe widmet, auch von finanziellen Erwägungen und damit auch davon abhängt, wer Anspruch auf Erzg hat. Daraus folgt aber nicht, daß zur Erhaltung der Wahlfreiheit den Eltern Erzg in gleicher Weise zustehen muß. Es bedarf dazu keiner abschließenden Erörterung der Frage, in welchem Umfang Art. 6 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber nicht nur direkte Eingriffe, sondern auch eine steuernde Einflußnahme durch Gewährung nur eingeschränkter Gestaltungsmöglichkeiten bei der Ausübung der elterlichen Sorge (vgl. dazu BVerfGE 84, 168) oder durch Gewährung bzw Versagung von Sozialleistungen verbietet. Denn durch die Anknüpfung der Erzg-Berechtigung an die Staatsangehörigkeit greift der Gesetzgeber nicht steuernd in die Elternverantwortung ein. Daß bei Ehen, in denen nur ein Ehegatte die Anspruchsvoraussetzung der Staatsangehörigkeit erfüllt, die Entscheidung über die Durchführung der Erziehungsaufgabe davon beeinflußt wird, ist keine beabsichtigte Folge und von der Zahl der Fälle her die Ausnahme. Die Folge ist, wie der Fall der Klägerin zeigt, die sich ohne Rücksicht auf die Gewährung von Erzg der Erziehung widmet, auch nicht zwangsläufig. Die Einwirkung des Gesetzgebers auf die Elternverantwortung ist letztlich nur unvermeidbare Folge der ihm zukommenden Gestaltungsfreiheit, bei begrenzten finanziellen Mitteln den Kreis der Anspruchsberechtigten nach der Staatsangehörigkeit zu differenzieren. Ein weitergehender Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 GG ist damit nicht verbunden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI927592

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