Entscheidungsstichwort (Thema)

Übernahme von Kosten für Reahabilitationsmaßnahmen

 

Beteiligte

Az: 9b RAr 10/90 …, Klägerin und Revisionsklägerin

Bundesanstalt für Arbeit,Nürnberg, Regensburger Straße 104, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Die Klägerin, alleinerziehende Mutter von Zwillingen, nahm von April 1987 bis Januar 1989 an einer Rehabilitationsmaßnahme (Fortbildung zur Pflegedienstleiterin) teil. Während der Maßnahme war eine auswärtige Unterbringung erforderlich. Die Beklagte trug die Maßnahmekosten (Übergangsgeld [Übg], Reisekosten, Kosten für Lernmittel, Unterkunft und Verpflegung) und bewilligte zusätzlich sogenannte "Kinderbetreuungskosten" für zwei Monate bis zur Vollendung des 8. Lebensjahres beider Kinder. Für diese beiden Monate erhielt die Klägerin jeweils 400,-- DM (nachgewiesene Kosten zur Fortführung des Haushalts gemäß § 56 Arbeitsförderungsgesetz [AFG] iVm § 35 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung [AReha].

Der Antrag auf Weiterzahlung wurde abgelehnt (Bescheid vom 20. April 1988, Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 1988). Klage und Berufung waren ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts [SG] Offenburg vom 14. September 1989 und Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Niedersachsen vom 10. April 1990). Das LSG hat den Antrag auf Übernahme der monatlichen Kinderbetreuungskosten in Höhe von 400,-- DM für die Dauer der gesamten Maßnahme als einen Antrag auf Haushaltshilfe nach § 56 Abs 3 Nr 5 AFG ausgelegt. Dieser Anspruch ende jedoch, wenn das jüngste Kind das 8. Lebensjahr vollende. Die zeitliche Grenzziehung durch den Gesetzgeber wecke zwar verfassungsrechtliche Bedenken, weil hiermit ein Schutz der Familie iS des Art 6 Grundgesetz (GG) - besonders bei Alleinerziehenden - kaum noch gewährleistet erscheine. Jedoch machten Kinder im Alter von 8 Jahren erfahrungsgemäß einen deutlichen Sprung in ihrer Entwicklung in Richtung auf eine größere Selbständigkeit; damit verringere sich ihre Betreuungsbedürftigkeit, so daß die Kosten dann aus dem Übg mit abgedeckt werden könnten.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, die sie im wesentlichen auf einen Verstoß des Gesetzes- und Anordnungsrechts gegen Art 6 Abs 1 GG stützt. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres müsse die Personensorge wahrgenommen werden. Die starre Altersgrenze von 8 Jahren werde dem Erziehungsauftrag, der grundrechtlich geschützt sei, nicht gerecht.

Die Klägerin beantragt,die angefochtenen Urteile abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, ihr monatlich 400,-- DM für die Zeit von Juni 1987 bis zum 23. Januar 1989 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die angegriffenen gesetzlichen Regelungen für verfassungsrechtlich unbedenklich.

II

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Die Beklagte hat der Klägerin zu Unrecht die Kosten der Haushaltshilfe nur bis zur Vollendung des 8. Lebensjahres der Kinder bewilligt. Der Klägerin stand für die volle Dauer der Maßnahme eine Haushaltshilfe zu; dieser Anspruch hat sich - als Folge der rechtswidrigen Ablehnung des Antrages - in einen solchen auf Zahlung des angemessenen Geldbetrages gewandelt.

Die "Haushaltshilfe" ist eine ergänzende Leistung der Rehabilitation (vgl zur Entwicklungsgeschichte im einzelnen BSG SozR 2200 § 569a Nr 1). Seit 1. Oktober 1974, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG - vom 7. August 1974 - BGBl I 1927), gilt § 56 Abs 3 Nr 5 AFG als hier einschlägige Anspruchsgrundlage unverändert. Fällt der Haushaltsführer (nach dem gesetzlichen Eheleitbild bis zum Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts [1. EheRG vom 14. Juni 1976 - BGBl I 1421] und in der Folgezeit nach der Lebenserfahrung in der Regel die Mutter) infolge von Krankheit oder Rehabilitationsbedürftigkeit aus, sehen die gesetzlichen Sicherungssysteme die Gestellung der Ersatzkraft für die Haushaltsführerin vor (vgl hierzu BT-Drucks VI/3515 S 3). In der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Leistung bis zum Inkrafttreten des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung -(SGB V - vom 20. Dezember 1988 - BGBl I 2477) sogar dann gestellt worden, wenn die Haushaltsführerin selbst nicht versichert, die Einbuße für die Familie jedoch ebenso spürbar war. Diese Maßnahme, die nach Auffassung des Gesetzgebers inzwischen die Solidargemeinschaft überfordert (vgl BT-Drucks 11/2237 S 177 zu § 37 des Entwurfs des SGB V), war in erster Linie familienpolitisch motiviert und beeinflußte bei ihrer Einführung auch die Parlamentsberatungen über Familienplanung und Schwangerschaftsabbrüche (vgl BT-Drucks VI 3515; VI 3588; 7/464; 7/377; DtBT 7. Wahlperiode, 33. Sitzung vom 17. Mai 1973, S 1822/1823 Abg. Schlei und S 1830/1831 Abg. Stommel; DtBT 7. Wahlperiode, 55. Sitzung vom 5. Oktober 1973, S 3170/3171 Abg. Müller-Remscheid und S 3172 Abg. Arndt). Inzwischen ist die Haushaltshilfe als sozialrechtliche Leistung institutionalisiert und über § 29 Abs 1 Nr 4 Buchst g des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB I vom 11. Dezember 1979 BGBl I 3015) in den Katalog der Sozialleistungen aufgenommen, der über Art II § 1 Nr 2 SGB I auch für den Bereich des AFG gilt.

Für die Krankenversicherung (§ 185b Abs 2 RVO/§ 38 SGB V), die Unfallversicherung (§ 569a Nr 4 RVO) und die Rentenversicherung (§ 1237b Abs 1 Nr 5 RVO) ist ebenso wie für das Versorgungsrecht (§ 11 Abs 4, § 26 Abs 3 Nr 4 und § 18 Abs 1 BVG) schon nach dem Gesetzeswortlaut völlig unbestritten, daß sich der Anspruch auf Haushaltshilfe auf eine Ersatzkraft richtet, es sich also um eine "Sachleistung" handelt; unter den Voraussetzungen des § 185b Abs 2 RVO, also wenn der Sachleistungsanspruch nicht erfüllt werden kann oder Grund dazu besteht, von der Erfüllung abzusehen, wandelt sich der Anspruch in einen solchen auf Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte Ersatzkraft in angemessener Höhe um (vgl zur selbst beschafften Krankenpflegeperson des § 185 RVO idF vom 27. Juni 1977 - BGBl I 1069 - BSGE 50, 72, 74 = SozR 2200 § 185 Nr 4). Die Erfüllung dieses Sachleistungsanspruchs wird für die genannten Rechtsbereiche über den in Bezug genommenen § 376b RVO/§ 132 SGB V sichergestellt, der auch im Versorgungsrecht Anwendung findet, weil die Krankenkassen Leistungserbringer sind.

Derselbe Grundsatz gilt auch bei einer Rehabilitation nach den Vorschriften des AFG. Auch § 56 AFG, der für die eigentlichen berufsfördernden Maßnahmen auf die Leistungen im 2. und 5. Unterabschnitt des AFG verweist, regelt insoweit Ansprüche auf Sachleistungen. Die ergänzenden Leistungen der Rehabilitation sind teilweise solche der Kostenerstattung und teilweise Sachleistungen. Das Gesetz unterscheidet in der Wortwahl ausdrücklich zwischen diesen Leistungsformen. Nach Nr 5 ist die Haushaltshilfe selbst, nicht nur die erforderlichen Kosten der Haushaltshilfe in den Leistungskatalog aufgenommen worden, wie es auch § 12 Nr 6 RehaAnglG vorschreibt.

Nur ein gleichartiges Verständnis der ergänzenden gesetzlichen Leistungen bei Rehabilitation nach dem AFG entspricht dem Gedanken der Einheitlichkeit der Rehabilitation, die in Abschnitte medizinischer und beruflicher Rehabilitation gegliedert sein kann, die durch unterschiedliche Träger erbracht werden. In beiden Abschnitten gewährleistet vor allem die Naturalleistung den Rehabilitationserfolg (so auch Heinze in RVO-Gesamtkomm zu § 185b S 163); nur so wird dem Gedanken der Leistungskontinuität, wie er im RehaAnglG (vor allem in § 5) zum Ausdruck kommt, Genüge getan.

Soweit die Beklagte der Klägerin von Anfang an nur einen Kostenerstattungsanspruch wegen Kinderbetreuung nach § 35 AReha, der noch wortgleich mit der Fassung von § 51 AReha vom 31. Juli 1975 (ANBA S 994) gilt, zugebilligt hat, wird der Umfang der gesetzlichen Verpflichtung verkannt. Insoweit genügt das Anordnungsrecht der Ermächtigungsnorm nicht. § 35 AReha kann lediglich als die satzungsmäßige Ausgestaltung für den Fall verstanden werden, daß die Stellung einer Haushaltshilfe unmöglich oder untunlich iS von § 185b Abs 2 RVO bzw § 38 Abs 4 SGB V ist. In diesem Sinne trägt das Anordnungsrecht die Bewilligung der Geldleistung für die beiden ersten Kalendermonate der Maßnahme. Die in der Literatur (Gagel/Steinmeyer, Komm zum AFG, § 56 RdNr 37; Knigge/Ketelsen/Marschall/Wittrock, Komm zum AFG, 2. Aufl, § 56 RdNr 29) anzutreffende Meinung, § 56 Abs 2 Nr 5 AFG gewähre nur einen Anspruch auf eine Geldleistung, ist nicht näher begründet, sondern stützt sich nur auf das - nach Meinung des Senats unvollständige - Satzungsrecht.

§ 35 AReha umschreibt jedoch nicht die Anspruchsvoraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs in den Fällen, in denen die Beklagte - zu Unrecht - die ergänzende Leistung zur Rehabilitation in Form einer Haushaltshilfe überhaupt verweigert. Das ergibt sich inzwischen aus § 13 SGB V. Diese Vorschrift regelt für die Krankenversicherung, wann anstelle einer Sach- oder Dienstleistung Kostenerstattung in Betracht kommt. Nach Abs 1 ist es zum einen dann möglich, wenn die Ersetzungsbefugnis ausdrücklich normiert ist; hierfür sind die selbst beschaffte Krankenpflegeperson und die selbst beschaffte Ersatzkraft für die Haushaltshilfe Beispiele. Die Vorschrift normiert jedoch in Abs 2 auch den Kostenerstattungsanspruch, den die Rechtsprechung für die Fälle entwickelt hat, in denen eine Leistung zu Unrecht abgelehnt wird. Dann sind angefallene Kosten insoweit zu erstatten, als die Leistung notwendig war. Diese Kostenerstattung dient der Beseitigung oder dem Ausgleich des rechtswidrigen Zustandes, der durch die rechtswidrige Leistungsverweigerung entstanden ist. Ein solcher Kostenerstattungsanspruch ist kein Schadensersatzanspruch, der vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden müßte; es werden Aufwendungen erstattet, die durch das die Sachleistung verweigernde Verhalten der Verwaltung entstanden sind, weil der Berechtigte gezwungen war, anstelle der Verwaltung selbst sachgerecht zu handeln (vgl die Nachweise im einzelnen bei BSG SozR 2200 § 182 Nrn 82 und 86 jeweils mwN und bei § 194 Nr 5). Die Kostenerstattung umfaßt bei einer so gearteten Ersatzbeschaffung die notwendigen Kosten, selbst wenn der Betreffende tatsächlich anstelle der Sachleistung sich eine etwas anders geartete Leistung beschafft (vgl Kasseler Kommentar Höfler, § 13 SGB V RdNr 12). Jedenfalls gilt für derartige Ersatzbeschaffungen der Grundsatz, daß Kosten, die entstanden sind, um eine anderenfalls notwendige Leistung zu erübrigen, erstattungsfähig sind, wenn die Ersatzleistung geeigneter oder billiger ist (vgl BSG SozR 2200 § 194 Nr 12).

Nach den vorstehenden Grundsätzen war nicht im einzelnen zu prüfen, ob die Kinder - wie in den ersten beiden Monaten der Rehabilitation - weiterhin auch von einer Fremdkraft im eigenen Haushalt der Klägerin betreut worden sind; der Anspruch hängt nicht von den Tatbestandsmerkmalen des § 35 AReha ab, so daß der Senat in der Sache selbst entscheiden konnte. Ein Absinken des tatsächlichen Geldaufwandes unter die zunächst anstandslos gezahlten 400,-- DM kann nach dem Sachverhalt ausgeschlossen werden; höhere Kosten hat die Klägerin nicht geltend gemacht.

Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es auch nicht am Tatbestandsmerkmal einer rechtswidrigen Vorenthaltung von Sozialleistungen. Die Klägerin hatte auch über den 8. Geburtstag der Zwillinge hinaus bis zum Ende der Rehabilitation Anspruch auf die Haushaltshilfe als ergänzende Leistung der Rehabilitation.

Der Rechtsfrage, ob die Anspruchsvoraussetzung, daß im Haushalt ein Kind lebt, das das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nur bei Beginn der Rehabilitationsmaßnahme vorliegen muß, oder ob damit gemeint ist, daß die Leistung nur gewährt wird, "solange" im Haushalt ein Kind lebt, das das 8. Lebensjahr nicht vollendet hat, war bisher weder Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung noch der Diskussion in der Literatur. Allerdings ist von den Spitzenverbänden die - hier auch vom LSG zugrunde gelegte - Meinung vertreten worden, daß der Anspruch endet, wenn das jüngste Kind das 8. Lebensjahr vollendet (vgl DOK 1981, 220).

Diese Auslegung ist nach dem Wortlaut der Vorschrift vertretbar, mußte jedoch bei Alleinerziehenden zu den auch vom LSG geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken führen. Denn die Altersgrenze von 8 Jahren ist unangemessen, wenn der weiterzuführende Haushalt nur noch aus Kindern besteht, deren Beaufsichtigung und Betreuung nicht allein während der arbeitstäglichen Abwesenheit des anderen Elternteils zu gewährleisten ist, wenn es sich also um Kinder handelt, die sich während eines Krankenhausaufenthalts oder einer Rehabilitationsmaßnahme wochenweise selbst überlassen blieben. Ab welchem Alter man Kinder über längere Zeiträume vollständig alleinlassen könnte, ob hier die Altersgrenze von 12 Jahren, die bei den Beratungen zum SGB V im Gespräch war (vgl BT-Drucks 11/2493 S 16 zu Art 1 § 37), ausreichend wäre, braucht nicht entschieden zu werden. Denn der Gesetzgeber hat im Wege der authentischen Interpretation klargestellt, daß ein Personensorgeberechtigter nicht während einer Krankheit mit solchen Problemen konfrontiert werden darf. Der Gesetzgeber hat damit verdeutlicht, daß die Voraussetzung für die Haushaltshilfe nur beim Leistungsbeginn zu prüfen ist und von da an fortbesteht. Haushaltshilfe ist zu gewähren, wenn im Haushalt ein Kind lebt, das bei Beginn der Haushaltshilfe das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 38 Abs 1 Satz 2 SGB V).

Obwohl diese Formulierung nicht zugleich in alle übrigen Vorschriften, die sich mit der Rehabilitation beschäftigen, übernommen worden ist, die andererseits aber durchaus mit der Bezugnahme auf § 38 Abs 4 SGB V die Neufassung in ihren Wortlaut aufnehmen, kann hieraus nicht gefolgert werden, daß nunmehr - entgegen dem RehaAnglG - die Voraussetzung für die Haushaltshilfe in den einzelnen Rechtsgebieten unterschiedlich geregelt sein soll. Es handelt sich um eine klarstellende Norm, die lediglich verdeutlicht, was nach Auffassung des Gesetzgebers schon immer in dieser Form geregelt war. Die Bundesregierung hat den Formulierungswechsel von § 185b RVO zu § 38 SGB V als eine Vereinfachung und Straffung des geltenden Rechts bezeichnet (BT-Drucks 11/2237 zu § 37 des Entwurfs). Die Norm ist nicht als Leistungsverbesserung verstanden worden; hierzu gibt es in den Materialien keinen Hinweis.

Es ist anerkannt, daß Rückschlüsse für die Gesetzesauslegung gezogen werden dürfen, wenn durch die spätere Regelung deutlich wird, was das Gesetz mit der älteren wollte. Rückschlüsse vom neuen auf das alte Recht sind lediglich dann ausgeschlossen, wenn der Gesetzgeber einen an sich schon bekannten - streitigen - Sachverhalt neu bewertet und dementsprechend gegenüber dem alten Recht eine abweichende Grenze zieht (vgl BSG Urteil vom 17. April 1991 - 1 RR 2/89 - zur Veröffentlichung vorgesehen unter Bezugnahme auf BSGE 58, 243, 248 mwN = SozR 2200 § 182 Nr 98 zur sogenannten authentischen Interpretation des Gesetzgebers; BSG SozR 4100 § 168 Nr 22; s ferner BSGE 18, 225, 227 = SozR Nr 4 zu § 1311 RVO zur Berücksichtigung einer neueren Rechtsentwicklung).

Hier ist der Rückschluß geboten. Denn das abweichende Normverständnis, das ua von den Spitzenverbänden vertreten worden ist, widerstreitet in einem wesentlichen Punkt dem Sinn und Zweck der Norm gerade im Rehabilitationsrecht. Die Rehabilitationsbedürftigkeit löst einen Versicherungsfall aus, der hinsichtlich Zeit und Ort der notwendigen Maßnahmen in ungleich größerem Umfang auf Dispositionen des Berechtigten Rücksicht nehmen kann als herkömmliche Versicherungsfälle. Die Notwendigkeit der Rehabilitation indiziert noch nicht die Notwendigkeit einer Ortsabwesenheit mit der Folge, daß die Personensorge von Kindern gefährdet wird. Gerade die Auswahl einer Maßnahme der beruflichen Rehabilitation wird auch vom Entschluß des Berechtigten und seiner persönlichen Situation mitgeprägt sein. Auswärtige Unterbringung, möglicherweise sogar internatsmäßig, wird zur beruflichen Wiedereingliederung nur derjenige wählen, dessen familiäre Verhältnisse abgesichert sind. Ein solcher Entschluß muß vor der Maßnahmeauswahl getroffen werden können, und zwar für deren gesamte voraussehbare Zeitdauer. Entschließt sich eine alleinerziehende Mutter trotz ihrer betreuungsbedürftigen Kleinkinder zu einer auswärtigen Maßnahme, was ohnedies nicht häufig vorkommen dürfte, muß die Versorgung der Kinder vor Antritt der Maßnahme sichergestellt sein; während der Ortsabwesenheit und der besonderen Belastungssituation in der beruflichen Rehabilitationsmaßnahme kann eine Umorganisation nicht stattfinden. Beruht die Planung darauf, daß die Haushaltsfortführung durch eine Haushaltshilfe sichergestellt wird, würde die Maßnahme selbst gefährdet, wenn dem Rehabilitanden ab dem 8. Geburtstag des jüngsten Kindes eine Umorganisation der häuslichen Verhältnisse zugemutet würde. Mit der Formulierung in § 38 SGB V hat der Gesetzgeber nunmehr klargestellt, daß solche Notsituationen - bei zutreffendem Verständnis der gesetzlichen Regelungen - vermieden werden.

Hiermit wird zugleich vermieden, daß Behinderte erst dann in eine Rehabilitation eintreten, wenn ihre Kinder ein solches Alter erreicht haben, daß sie sich im wesentlichen selbst versorgen können. Die medizinische und berufliche Rehabilitation umfaßt häufig Zeiträume von mehreren Jahren. Sie ist um so erfolgversprechender, je früher sie abgeschlossen ist, weil dann der Behinderte größere Chancen hat, nochmals in das Erwerbsleben eingegliedert zu werden. Wären Umstellungen in der Haushaltsführung im Verlaufe solcher Rehabilitationsmaßnahmen geboten, sobald das jüngste Kind das 8. Lebensjahr vollendet, könnten Behinderte mit jüngeren Kindern schon nicht mehr alle Wege einer beruflichen Rehabilitation wählen. Wegen der Notwendigkeit längerfristiger Planung läge die Altergrenze tatsächlich nicht bei 8 Jahren, sondern in Wahrheit bei 5 oder 6 Jahren. Häufig beansprucht die Rehabilitationsplanung noch weitaus längere Zeiträume; auch im vorliegenden Fall hatte die Klägerin ihren Rehabilitationsantrag schon im April 1983 gestellt. Vom Zeitpunkt ihrer ersten Beratung bis zur Realisation der Pläne dauerte es vier Jahre mit der Folge, daß die etwaige Beratung über die Versorgung ihrer Kleinkinder durch Zeitablauf überholt wurde. Hätte die Maßnahme zu einem noch späteren Zeitpunkt begonnen, wäre der Anspruch auch aufgrund der vom Gesetzgeber vorgenommenen authentischen Interpretation nicht gegeben gewesen. Ob die Verweigerung der ergänzenden Leistung in einem solchen Fall wegen der Gefährdung der Rehabilitation und der mit ihr verbundenen Benachteiligung von Familien, insbesondere von Müttern, verfassungsrechtlich hinnehmbar ist, bedarf hier keiner Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Dokument-Index HI517878

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge