Leitsatz (amtlich)

Kann ein Arbeitsloser wegen tatsächlicher oder rechtlicher Bindung sowie sonstiger Umstände keine volle Beschäftigung, wohl aber eine solche von mehr als geringfügigem Umfange ausüben (AVAVG § 76 Abs 1 Nr 3), so steht er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, ohne daß zu prüfen ist, ob Beschäftigungsverhältnisse dieser Art und Dauer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine arbeitslose Ehefrau steht der Arbeitsvermittlung auch dann zur Verfügung und hat Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu erhalten, wenn sie wegen der Pflegebedürftigkeit ihres zu 100 % kriegsbeschädigten Ehemannes nicht voll, jedoch mehr als 24 Stunden in der Woche arbeiten kann.

 

Normenkette

AVAVG § 76 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

1) Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. April 1961 wie folgt abgeändert:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 26. Juli 1960 insoweit aufgehoben, als die Beklagte verpflichtet wurde, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Arbeitslosengeld auch über den 2. Juni 1959 hinaus zu erteilen; in diesen Umfang wird die Klage als unzulässig abgewiesen.

In übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

2) Die weitergehende Revision der Beklagten wird zurückgewiesen.

3) Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Die 1909 geborene, verheiratete Klägerin war in den Jahren 1954 bis 1958 zunächst als Stenotypistin, später als Kreisgeschäftsführerin beim Bund der vertriebenen Deutschen tätig; dieses Beschäftigungsverhältnis endete am 30. September 1958. Sie meldete sich am 1. Dezember 1958 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Nach Untersuchung durch den Arbeitsamtsarzt bewilligte die Beklagte der Klägerin (Verfügung vom 16. Januar 1959) Alg für die Dauer von 234 Wochentagen.

Als ein Versuch, die Klägerin als Hilfsarbeiterin zu vermitteln, gescheitert war, veranlaßte die Beklagte eine erneute arbeitsamtsärztliche Untersuchung, die am 2. Juni 1959 stattfand. Bei dieser Gelegenheit brachte die Klägerin zum Ausdruck, daß sie wegen der Pflegebedürftigkeit ihres zu 100 % kriegsbeschädigten Ehemannes, dessen Gesundheitszustand sich verschlechtert habe, nur noch Halbtagsarbeit leisten könne. Eine gleichlautende Erklärung gab sie an demselben Tage auch schriftlich ab. Daraufhin entzog ihr die Beklagte mit Verfügung vom 8. Juni 1959 das bewilligte Alg ab 2. Juni 1959, weil sie wegen Beschränkung auf Halbtagsarbeit der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehe. Die Klägerin hatte zu jenem Zeitpunkt aus der früheren Bewilligung noch einen Restanspruch auf Alg von 80 Wochentagen. Der Widerspruch der Klägerin, die sich bereit erklärte, täglich von 7.30 Uhr bis 14.00 Uhr zu arbeiten, wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 4. August 1959).

Auf ihre Klage hob das Sozialgericht (SG) die angefochtenen Bescheide auf und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Alg auch über den 2. Juni 1959 hinaus zu erteilen (Urteil vom 26. Juli 1960). Es sah - nach Einholung entsprechender Unterlagen - eine Arbeitszeit von wöchentlich 24 bis 30 Stunden, für die sich die Klägerin zur Verfügung gestellt habe, als üblich an, da im Bezirk Halbtagsarbeitsstellen für Frauen bereits im Juni 1959 in ausreichenden Maße vorhanden gewesen seien. Der Anspruch der Klägerin auf Alg sei daher von der zeitlichen Einschränkung ihrer Arbeitsbereitschaft nicht berührt worden. Die Berufung der Beklagten hiergegen wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 26. April 1961). Das Berufungsgericht ließ die Frage, ob für die neben der Aufhebungsklage erhobene Verpflichtungsklage überhaupt ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben war, dahinstehen; die Beklagte wende sich nicht gegen diese Form der Verurteilung, sondern fühle sich nur durch die Aufhebung ihrer Entziehungsverfügung beschwert. Dieser Entscheidung des SG sei jedoch im Ergebnis beizupflichten. § 76 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) enthalte nämlich hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit zugunsten der Personen eine Ausnahmeregelung, die infolge gewisser Umstände insbesondere tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen wegen, keine volle Beschäftigung annehmen könnten, aber noch zur Ausübung einer mehr als geringfügigen Tätigkeit im Sinne von § 66 AVAVG bereit und fähig seien. Bezüglich der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage und Tagesstunden sowie aller sonstigen Arbeitsbedingungen müßten sie jedoch in der Lage sein, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten. Diese Auslegung des Gesetzes ergebe sich sowohl aus dem Wortlaut des § 76 Abs. 1 AVAVG als auch aus seiner Entstehungsgeschichte. Der Gesetzgeber habe hier unter gewisser Erweiterung des begünstigten Personenkreises bewußt den Inhalt des bis zum 31. März 1957 geltenden § 87 a Abs. 2 AVAVG aF für die Neuregelung übernommen. Dies erweise die vorgesehene Fassung des § 88 Abs. 2 aus dem Regierungsentwurf eines Änderungsgesetzes zum AVAVG (Bt-Drucks. 1274, 2. Wahlperiode). Danach sollte auch als vermittlungsfähig gelten, "wer wegen tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen" usw. "nicht für die übliche Arbeitszeit, aber noch für mehr als 24 Stunden wöchentlich ein Arbeitsverhältnis unter den sonstigen üblichen Bedingungen des allgemeinen freien Arbeitsmarktes eingehen kann". Die weiteren Gesetzesmaterialien ließen nicht den Schluß zu, daß der Gesetzgeber die hier bekundete Absicht, für einen bestimmten schutzwürdigen Personenkreis eine Sonderregelung zu schaffen, bei der späteren Umformulierung von § 88 des Entwurfs aufgegeben habe. Die Klägerin gehöre infolge der notwendigen Betreuung ihres schwerkriegsbeschädigten Ehemannes unstreitig zu den Personen, die wegen rechtlicher Bindungen nicht voll, aber doch mehr als in geringfügigem Umfang arbeiten könnten. Sie gelte daher als verfügbar gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG, ohne daß es darauf ankomme, ob eine derartige Halbtagsarbeit 1959 im Bezirk üblich gewesen sei. Die Entziehung des Alg sei daher rechtswidrig erfolgt.

Revision wurde zugelassen.

II. Gegen das ihr am 7. August 1961 zugestellte (§ 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes - BGBl I, 379 -) Urteil des LSG legte die Beklagte am 28. August Revision ein und begründete diese am 23. September 1961. Ihrer Auffassung nach hat das LSG den § 76 Abs. 1 AVAVG unrichtig ausgelegt. Diese Vorschrift knüpfe die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung an verschiedene teils subjektive, teils objektive Voraussetzungen, die aber sämtlich erfüllt sein müssten. Nach Satzaufbau und Gliederung bezögen sich die Nummern 1, 2 und 3 des Abs. 1 aaO jeweils auf eine Beschäftigung unter, den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes; es sei logisch nicht möglich, eine negative Voraussetzung aus dem Zusammenhang herauszunehmen, um aus ihrem Nichtvorliegen zu folgern, daß der Arbeitslose ungeachtet der fehlenden übrigen Voraussetzungen verfügbar sei. Auch sei es nicht statthaft, die "üblichen Bedingungen" verschieden auszulegen, je nachdem, ob sie in Verbindung zu Nr. 2 oder zu Nr. 3 gebracht würden. Der besondere Sinn des Relativsatzes "... die eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang (§ 66) ausschließen ..." könne darin gesehen werden, daß die nach Nr. 3 an Vollarbeit gehinderten Personen verfügbar seien, wenn Teilzeitarbeit üblich sei, wogegen die in Nr. 1 erforderliche ernstliche Arbeitsbereitschaft in keinem Fall auf Teilzeitarbeit beschränkbar sei. Diese Auslegung des § 76 Abs. 1 AVAVG werde auch durch § 36 AVAVG gestützt, wonach die Vermittlung in Arbeit den Leistungen der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe (Alhi) vorgehe. Die vom LSG vertretene Auffassung zu § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG stehe hierzu in Widerspruch, zumal die Gefahr bestünde, daß den betreffenden Personen unter Umständen jahrelang Alg und dann noch Alhi gewährt werden müsse, ohne jede Chance, sie zu vermitteln. Eine derartige Auswirkung und Handhabung sei jedoch mit Sinn und Zweck dieser Einrichtungen nicht vereinbar. Selbst wenn aus den Motiven zu § 76 AVAVG erkennbar sein sollte, daß der Gesetzgeber einen bestimmten Personenkreis eine Sonderstellung habe einräumen wollen, was wegen der Änderung des § 88 des Regierungsentwurfs zweifelhaft sei, so habe dieser Wille doch keinen Ausdruck gefunden und sei daher unbeachtlich. Im übrigen wäre eine solche Privilegierung auch nicht berechtigt, da sie zu einer ungleichen Behandlung jener Personen führen würde, die wegen gemindertem Leistungsvermögen an Vollarbeit gehindert seien (§ 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG). Diese seien nur dann verfügbar, wenn Halbtagsarbeit üblich sei, wären also im Verhältnis zu den Personen nach § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG entsprechend der Auslegung des LSG schlechter gestellt, ohne daß hierfür ein verfassungsgerechter Grund erkennbar sei. Schließlich gehe es auch nicht an, die negative Voraussetzung des § 76 Abs. Nr. 3 AVAVG durch Umkehrschluß in eine positive zu verwandeln. Diese Auslegungsmethode, die geeignet sei, den Inhalt einer Vorschrift in das Gegenteil zu verkehren, sei nur dann statthaft, wenn sich das Gesetz nicht bereits nach seinem Wortlaut anwenden lasse, was bei § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG indessen zutreffe. Insgesamt müsse also die Auffassung des LSG abgelehnt werden. Da das Berufungsgericht seines sachlich-rechtlichen Standpunktes wegen keine Feststellungen über die Üblichkeit von Halbtagsarbeit auf dem für die Klägerin erreichbaren Arbeitsmarkt getroffen habe, könne das Bundessozialgericht in der Sache selbst nicht entscheiden.

Die Beklagte beantragte daher,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragte,

die Revision zurückzuweisen

(wörtlich: "zu verwerfen").

Sie hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG für rechtens. Durch diese Vorschrift seien Personen wie die Klägerin, die durch besondere Bindungen an der Vollarbeit gehindert seien, aber im Bereich einer mehr als 24-Stunden- Woche bis zur Ganztagsbeschäftigung arbeitsuchend, arbeitsfähig und arbeitswillig seien, ausdrücklich vom Gesetzgeber begünstigt. Die Entscheidungsgründe des LSG seien deshalb zutreffend.

III. Die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Revision ist zulässig; denn sie wurde auch form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet (§§ 164, 166 SGG).

Die Revision ist jedoch nur teilweise gerechtfertigt.

Prozeßrechtlich zunächst muß die Revision der Beklagten insoweit zum Erfolg führen, als diese durch das Urteil des SG verpflichtet worden ist, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Alg auch über den 2. Juni 1959 hinaus zu erteilen.

Streitgegenstand ist der Entziehungsbescheid der Beklagten vom 8. Juni in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 4. August 1959 (§ 95 SGG). Das Begehren der Klägerin ging dahin, den Restanspruch von Alg für 80 Wochentage nach der ursprünglichen Bewilligungsverfügung auszuschöpfen und im Bezug der Versicherungsleistungen zu bleiben. Dieser prozessuale Anspruch war aber bereits mit der Aufhebung des Entziehungsbescheides zu erreichen, da als Folge davon der frühere Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 16. Januar 1959 unmittelbar wieder in Kraft tritt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -, vgl. Breith. 1960, 1030 und SozR zu § 144 SGG Bl. Da 4 Nr. 15). Mithin bestand hier neben der Aufhebungs- (Anfechtungs-) Klage kein Rechtsschutzbedürfnis für eine damit verbundene Leistungs- oder Verpflichtungsklage. Das LSG mußte infolgedessen, nachdem das SG die Klage insoweit nicht als unzulässig abgewiesen hatte, der Berufung stattgeben. Es durfte nicht davon ausgehen, daß die Beklagte sich gegen diese Form der Verurteilung mit der Berufung nicht gewehrt hätte, und damit die Entscheidung des SG über die Verpflichtungsklage als zwischen den Beteiligten bindend ansehen. Wenn die Beklagte während aller Stufen des Verfahrens darauf beharrte, daß ihr Entziehungsbescheid rechtens sei, so brachte sie damit zugleich zum Ausdruck, daß sie seit dem 2. Juni 1959 nicht mehr verpflichtet sei, die geforderte Leistung zu erbringen. Nicht sinnvoll wäre es, wenn sie sich mit dieser Begründung einerseits gegen die Beseitigung ihrer Entzugsmaßnahme wenden, andererseits aber den Verpflichtungsausspruch zur Erteilung eines (positiven) Leistungsbescheides hinnehmen wollte. Obwohl sie diesbezüglich gegen ihre Verurteilung besondere Ausführungen nicht machte, ist ihrem Vorbringen allgemein doch zu entnehmen, daß sich ihre Berufung insgesamt gegen das erstinstanzliche Urteil richtete. Das LSG hätte somit auch die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage prüfen und diese unter Aufhebung des SG-Urteils insoweit mangels Rechtsschutzbedürfnisses abweisen müssen. Da es das unterlassen hat, mußte auf die Revision der Beklagten das Berufungsurteil entsprechend abgeändert werden.

IV. Sachlich-rechtlich hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf Alg auch über den 2. Juni 1959 hinaus zutreffend anerkannt und dementsprechend die Aufhebung des Entziehungsbescheides der Beklagten vom 8. Juni 1959 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 1959 durch das SG bestätigt. Die Klägerin steht nach § 76 Abs. 1 Nr. 5 AVAVG i.d.F. vom 3. April 1957 (BGBl I, 322) auch für diesen Zeitraum der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. Das LSG hat dabei ohne Rechtsirrtum festgestellt, daß es bei Anwendung der Nr. 3 nicht darauf ankommt, ob auf dem Arbeitsmarkt des Bezirkes unterhalb der Vollarbeitszeit liegende Beschäftigungsverhältnisse üblich sind. Diese Vorschrift bewirkt nämlich von dem sonst gültigen Grundsatz, daß als verfügbar nur der anzusehen ist, dessen zeitliche Arbeitsbereitschaft und Arbeitsfähigkeit den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspricht, eine Ausnahme: Bei einem Arbeitslosen, der infolge tatsächlicher oder rechtlicher Bedingungen sowie sonstiger Umstände im Sinne des § 76 Abs. 1 Nr. 3 keine volle Beschäftigung, jedoch eine solche von mehr als geringfügigem Umfang (§ 66) auszuüben vermag, fällt die Normaldauer der Arbeitszeit nicht unter die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Unstreitig ist, daß die Klägerin zu dem derart begünstigten Personenkreis gehört; denn durch die erwiesene Pflegebedürftigkeit ihres schwerkriegsbeschädigten Ehemannes ist sie durch "sonstige Umstände" gehindert, Vollarbeit zu leisten, wobei dahinstehen kann, ob man ihre Bindung als tatsächliche oder als rechtliche ansieht. Ferner überschreitet die Bereitschaft der Klägerin zu Halbtagsarbeit den Rahmen der Geringfügigkeit; sie entspricht zudem in der Verteilung der Arbeitszeit (tägliche Arbeitszeit von 7.30 bis 14.00 Uhr) den auch sonst für Halbtagsbeschäftigungen üblichen Bedingungen.

Diese Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG, die von Rechtsprechung und Schrifttum fast ausnahmslos geteilt wird (vgl. LSG Schleswig in Berndt/Draeger Bd. I § 76 II Rechtsprechung Nr. 31; LSG Hessen in Berndt/Draeger, aaO, Rechtsprechung Nr. 32; Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Komm. z. AVAVG § 76 Anm. 5 und 16 ff.; Schmalz, Soziale Sicherheit, 1961, 138 ff.; Musa, Soziale Sicherheit, 1961, 216; Stock ABA 1958, 156; Buchwitz ABA 1958, 120; Jahn und Agathe, Soziale Sicherheit, 1959, 133), wird von den Gegenargumenten der Beklagten nicht erschüttert. Insbesondere ist ihr Hinweis auf Satzbau und Gliederung dieser Vorschrift nicht durchgreifend. Der äußeren Form nach könnte es zwar den Anschein haben, als ob die Voraussetzung einer "Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" sich ohne jede Ausnahme auf alle drei Nummern des § 76 Abs. 1 bezieht. Eine solche Schlußfolgerung rechtfertigen aber weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des Gesetzes; sie nehmen vielmehr die Nr. 3 aaO von jener Beziehung gerade aus. Wenn der Gesetzgeber somit auf der einen Seite denjenigen für verfügbar erklärt, der zwar durch sonstige Umstände gehindert ist, Vollarbeit zu verrichten, aber noch eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausüben kann, dann ist diese tatbestandliche Fixierung der Verfügbarkeit für einen bestimmten Bereich nicht dadurch wieder auszuräumen, daß die unterhalb der Vollarbeit liegende, aber mehr als geringfügige Beschäftigung, die eben noch zur Bejahung der Verfügbarkeit ausreichte, andererseits durch eine Bezugnahme auf die "übliche Arbeitszeit" zum Merkmal der "Nichtverfügbarkeit" gemacht wird. Derart würde die im Gesetzestext enthaltene zeitliche Grenze durch eine nachfolgende Bestimmung gegenstandslos gemacht. Darauf liefe die von der Beklagten vertretene Auffassung jedoch hinaus. Ihr beizupflichten, würde bedeuten, daß die Regelung der Nr. 3 nicht nur unlogisch und sinnwidrig, sondern auch überflüssig wäre, weil nach dem allgemeinen Grundsatz des § 76 Abs. 1 AVAVG eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen ohnehin zur Verfügbarkeit führt, also auch Halbtagsarbeit, wenn sie üblich ist. Würde man der Beklagten folgen, dann wäre ein vernünftiger Anlaß, die Nr. 3 aaO in das Gesetz einzufügen, unerfindlich.

V. Die unter grammatischen und logischen Gesichtspunkten vorgenommene Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG wird auch durch die Entstehungsgeschichte dieser Norm gestützt, wie bereits das LSG zutreffend feststellte. Nach dem Regierungsentwurf eines Änderungsgesetzes zum AVAVG vom 17. März 1955 - BT-Drucks. 1274, 2. Wahlperiode - war in Anlehnung an § 87 a Abs. 2 AVAVG aF ein § 88 Abs. 2 wie folgt vorgesehen: "Als vermittlungsfähig gilt, wer wegen tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen, gesetzlicher Beschäftigungsverbote oder behördlicher Anordnungen nicht für die übliche Arbeitszeit, aber noch für mehr als vierundzwanzig Stunden wöchentlich ein Arbeitsverhältnis unter den sonstigen üblichen Bedingungen des allgemeinen freien Arbeitsmarktes eingehen kann" (vgl. S. 13 aaO). Diese Fassung entspricht, wie die dazu gegebene amtliche Begründung (vgl. S 120 aaO) ebenfalls erhellt, der vorstehenden Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG. Wenn diese Vorschrift letztlich eine vom Wortlaut des geplanten § 88 des Entwurfs abweichende Fassung erhielt, so geschah dies, wie das LSG zutreffend ausführt, aus redaktionellen Gründen, nicht aber, weil der Gesetzgeber eine abweichende Regelung treffen wollte (BT-Drucks. 2101, 2. Wahlperiode, S. 4; BT-Drucks. 2714, 2. Wahlperiode, S. 7, jeweils zu § 88).

Der danach erkennbare Wille des Gesetzgebers hat entgegen der Auffassung der Beklagten im Gesetz selbst hinreichend Ausdruck gefunden, wie obige wörtliche und logische Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG erweist. Diese Regelung ist durchaus sinnvoll und entspricht damit auch den Anforderungen der teleologischen Auslegungsmethode (vgl. statt vieler: Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 14. Bearbeitung, 1. Halbband 1952 §§ 51 ff. S. 192 ff.). Wohl stellt § 36. AVAVG den Grundsatz auf, daß die Vermittlung in Arbeit den Versicherungsleistungen vorgehen soll. Dieser enthält jedoch in erster Linie eine Weisung an die Verwaltung bezüglich ihres Tätigwerdens, dient aber keineswegs dazu, einen vom Gesetz eingeräumten Leistungsanspruch zu versagen, wenn die Vermittlung im Einzelfall zunächst wegen der tatsächlichen Umstände nicht möglich ist. Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist der Schutz des Arbeitnehmers vor den wirtschaftlichen folgen einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit. Dieses Ziel rechtfertigt bei der Vielschichtigkeit des Arbeitslebens und wegen der Verschiedenartigkeit der sozialen Verhältnisse doch sachlich begründete Unterschiede in den Leistungsbedingungen. Mit Recht hat daher auch das AVAVG besonders schützwürdigen Personengruppen eine Sonderstellung eingeräumt, wo dies nötig wird (vgl. zB § 76 Abs. 2, §§ 131 ff., §§ 143 a ff., § 185 Abs. 2 u.a.). Die gleiche Bedeutung hat § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG. Es entspricht des Grundgedanken wie dem Zweck einer sozial gerechten Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, wenn man diese Vorschrift dahin versteht, daß sie einem bestimmten Personenkreis, der aus sozialen, ethischen und nicht zuletzt arbeitsmarktpolitischen Überlegungen besonders schützbedürftig und schutzwürdig ist, seinen durch versicherungspflichtige Beschäftigung erworbenen Anspruch erhält, auch wenn jene Menschen aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, dem Arbeitsmarkt in zeitlicher Hinsicht vorübergehend nicht voll zur Verfügung stehen. Wie der erkennende Senat bereits in seiner Rechtsprechung festgestellt hat (vgl. BSG 11, 16, 21), werden fortschreitend in der Wirtschaft immer häufiger Beschäftigungsverhältnisse von zwar weniger als 48, aber mehr als 24 Stunden abgeschlossen. Deshalb dürfte es einen Ausnahmefall bilden, daß unter Nr. 3 aaO fallende Arbeitslose, die arbeitswillig und arbeitsfähig sind, während längerer Dauer überhaupt nicht in Halbtagsstellen irgendwelcher Art vermittelt werden können. Infolgedessen besteht zwischen § 76 Abs. 1 Nr. 3 und § 36 AVAVG kein Widerspruch. Erstere Vorschrift stellt ferner auch keine Neuerung dar, sondern die Fortführung eines bereite in § 87 a Abs. 2 AVAVG aF für den gleichen Personenkreis enthaltenen Schutzgedankens.

VI. Schließlich bedeutet es - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 des Grundgesetzes), wenn der durch besondere tatsächliche oder rechtliche Bindungen an der Vollarbeit gehinderte Personenkreis hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen anders - günstiger - gestellt wird als die nach ihrem Leistungsvermögen beschränkten Personen, bei denen eine geringfügige Beschäftigung nur dann als eine solche unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes anzusehen ist, wenn derartige Beschäftigungsverhältnisse auch üblich sind, also nicht nur vereinzelt vorkommen. Dem Gesetzeswortlaut nach enthält die Nr. 2 aaO im Gegensatz zu Nr. 3 nicht die Bezugnahme auf die Geringfügigkeitsgrenze des § 66 AVAVG. Aber auch hinsichtlich der sozialen Schutzfunktion liegen unterschiedliche Tatbestände zugrunde, die eine verschiedene Behandlung rechtfertigen. Den Leistungsgeminderten (Nr. 2) werden in der Regel zum Ausgleich von Körperschäden oder Leistungsausfall anderweit Bezüge öffentlich-rechtlicher Art (Unfallrente, Berufsunfähigkeitsrente ua) gewährt. Für die nach Nr. 3 aaO gebundenen Personen ist dies jedoch normalerweise nicht der Fall. Sie bedürfen deshalb eines erleichterten Zugangs zum Leistungsanspruch aus der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. Deswegen hat offensichtlich der Gesetzgeber die Ausnahmeregelung getroffen, daß ein Arbeitsloser, der wegen tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen sowie sonstiger Umstünde keine volle Beschäftigung, wohl aber eine solche von mehr als geringfügigem Umfang ausüben kann, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, ohne daß besonders zu prüfen ist, ob Beschäftigungsverhältnisse dieser Art und Dauer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind.

VII. Nach alledem ist die Entscheidung des LSG rechtens, soweit sie die Aufhebung des Entziehungsbescheides der Beklagten betrifft. Diesbezüglich waren daher die Berufung und die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat hat der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens insgesamt auferlegt, weil der prozessual unzulässige Teil der Klage nur einen geringfügigen Anteil ausmacht, materiell-rechtlich hingegen die Klägerin in vollem Umfang obsiegt hat.

 

Fundstellen

BSGE, 164

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