Leitsatz (amtlich)

G 131 § 74 gilt auch für sogenannte "einheimische" Beamte iS des G131 Kap 2, die ihr Amt aus anderen als beamtenrechtlichen Gründen verloren hatten und schon vor dem 1949-05-23 (Inkrafttreten des GG) bzw 1951-04-01 (Inkrafttreten des G131) entsprechend ihrer früheren Stellung wiederverwendet worden sind (Anschluß an BSG 1979-04-27 4 RJ 57/78 = SozR 7290 § 74 Nr 2).

 

Normenkette

GG Art. 131 Fassung: 1949-05-23; G131 § 3 Nr. 1 Fassung: 1957-09-11, § 74 Fassung: 1957-09-11; AVG § 28 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1965-06-09; G131 Kap 2; G131 §§ 62-63

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 28.06.1978; Aktenzeichen L 4 An 31/77)

SG Lübeck (Entscheidung vom 08.03.1977; Aktenzeichen S 7 An 252/76)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 1978 und des Sozialgerichts Lübeck vom 8. März 1977 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Ersatzzeiten im Sinne des § 28 Abs 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) anzurechnen sind.

Der im Juni 1910 geborene Kläger war in Schleswig-Holstein seit 1938 als Beamter auf Lebenszeit (Volksschullehrer) beschäftigt. Ab dem 15. Januar 1940 leistete er Kriegsdienst. Er war bis Juni oder August 1945 in Kriegsgefangenschaft und anschließend arbeitslos.

Nach seinen Angaben im Rentenantrag hat sich der Kläger nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zur Dienstaufnahme gemeldet, sei aber sofort suspendiert worden mit dem Hinweis, die schriftliche Entlassung folge in Kürze. Sie wurde im Mai 1946 vom Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein auf Befehl der britischen Militärregierung ausgesprochen, auf Einspruch des Klägers später aber aufgehoben. Der Kläger war daraufhin ab April 1947 wie früher im Schuldienst Schleswig-Holsteins beschäftigt.

In der Zwischenzeit hatte er als Musiker und als Buchhalter gearbeitet und erstmals Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet; es handelte sich dabei um Pflichtbeiträge für die Monate November und Dezember 1945 sowie November 1946 bis März 1947.

Der Kläger ist am 1. August 1975 in den Ruhestand getreten. Im Oktober 1975 beantragte er das Altersruhegeld. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da - mit nachentrichteten Beiträgen für Zeiten ab 1965 - nur eine Versicherungszeit von 115 Monaten zurückgelegt sei. Die Ersatzzeit von 1940 bis 1945 sei nicht anrechenbar, weil die danach bis 1947 entrichteten sieben Beiträge gemäß § 74 Abs 3 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) als freiwillige Beiträge gelten würden (Bescheid vom 24. Februar 1976, Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1976).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 8. März 1977 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Altersruhegeld unter Anrechnung der Zeit vom 15. Januar 1940 bis zum 31. August 1945 zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 28. Juni 1978). Nach seiner Ansicht sind die in den Jahren 1945 bis 1947 entrichteten sieben Beiträge Pflichtbeiträge geblieben. § 74 Abs 3 G 131 erfasse sie nicht. Der Kläger falle nicht unter den Personenkreis des Art 131 GG, weil er weder am 8. Mai 1945 noch in der Folgezeit aus dem Schuldienst ausgeschieden sei; er habe den Dienst lediglich zeitweise unterbrochen. § 74 G 131 betreffe von den vor Inkrafttreten des G 131 (1. April 1951) rechtsgleich wiederverwandten Beamten zudem nur diejenigen des § 3 Nr 1, also die in den §§ 1 und 2 G 131 bezeichneten Personen; auch zu ihnen gehöre der Kläger nicht.

Nicht geprüft hat das LSG die Rechtmäßigkeit des während des Berufungsverfahrens erteilten Bescheides vom 4. Juli 1977, mit dem die Beklagte dem Kläger aufgrund weiterer Beitragsentrichtung das Altersruhegeld ab 1. Juni 1977 bewilligt hat. Nach seiner Auffassung ist dieser Bescheid zwar nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Streitgegenstand geworden, wegen fehlender Anträge und Einwendungen des Klägers dies aber nicht geblieben.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 74 G 131. Der Kläger gehöre zum Personenkreis dieser Vorschrift, da er noch vor April 1951 endgültig in den Schuldienst des Landes Schleswig-Holstein übernommen worden sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Da nur sie ein Rechtsmittel gegen das Berufungsurteil eingelegt hat, kann allein die - in den Vorinstanzen erfolgreiche - Klage gegen den Bescheid vom 24. Februar 1976 (Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1976) Gegenstand des Revisionsverfahrens sein. Dieser Bescheid war entgegen der Meinung des LSG rechtmäßig.

Die Beklagte hat dem Kläger damals das Altersruhegeld versagen müssen, weil er vor Juni 1977 die erforderliche Wartezeit von 180 Monaten Versicherungszeit noch nicht zurückgelegt hatte. Die Wartezeit hätte er damals nur erfüllt, wenn die Ersatzzeit von Januar 1940 bis August 1945 auf die Wartezeit anrechenbar wäre. Das hängt, da andere Anrechnungsalternativen des § 28 Abs 2 AVG hier von vornherein ausscheiden, davon ab, ob der Tatbestand des Satzes 2 Buchst a dieser Vorschrift gegeben ist, dh ob innerhalb von drei Jahren nach dem Ende der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Insoweit ist in ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) anerkannt, daß die Beschäftigung oder Tätigkeit mit Pflichtbeiträgen belegt sein muß; ursprünglich für sie entrichtete Pflichtbeiträge können daher keine Grundlage für die Anrechnung der Ersatzzeit mehr bilden, wenn die Beiträge nach § 74 Abs 3 G 131 als freiwillige Beiträge gelten (vgl Urteile des 4. Senats vom 8. Juli 1959 - BSGE 10, 153 -, vom 1. Dezember 1966 - SozR Nr 23 zu § 1251 RVO - und vom 27. April 1979 - 4 RJ 57/78 -; des erkennenden Senats vom 25. Oktober 1966 - 11 RA 352/65 - und des 5. Senats vom 29. März 1978 - 5 RJ 108/76 -). Ein solcher Fall liegt bei den von 1945 bis 1947 entrichteten sieben Beiträgen vor.

Entgegen der Meinung des LSG ist die Anwendung von § 74 Abs 3 G 131 nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Kläger überhaupt nicht zum Personenkreis des Art 131 GG gehöre, auf den allein das G 131 Anwendung finde. Art 131 GG bestimmt in seinem Satz 1, daß die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, durch Bundesgesetz zu regeln sind. Über diesen Wortlaut hinaus gilt dieser Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, wie der 4. Senat des BSG im Urteil vom 27. April 1979 - 4 RJ 57/78 - dargelegt hat, auch für Beamte, die schon vor dem 23. Mai 1949 wiederverwendet worden sind, soweit ihre Rechtsverhältnisse für die Zeit bis zur Wiederverwendung der Regelung bedürfen. Zu Unrecht nimmt das LSG dabei an, der Kläger sei gar nicht aus dem öffentlichen Dienst "ausgeschieden". Nach dem feststehenden Sachverhalt ist er (als Offizier und Mitglied der NSDAP) nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft mündlich vom Dienst suspendiert und dann im Mai 1946 schriftlich entlassen worden; hierfür wie für die gesamte Nichtausübung des Amtes bis einschließlich Februar 1947 waren keine beamtenrechtlichen Gründe maßgebend. Ein solcher Sachverhalt bedeutet aber ein "Ausscheiden" aus dem Amt im Sinne des Art 131 GG. Die spätere Aufhebung der Entlassung mit dem Wiederbeginn des Dienstes zum 1. März 1947 hat das Ausscheiden nicht rückwirkend ungeschehen gemacht; sie erfüllt lediglich den Tatbestand der (endgültigen) Wiederverwendung. Hiernach kann dahinstehen, ob sich das G 131 auf den in Art 131 GG genannten Personenkreis beschränken mußte, weil der Kläger diesem jedenfalls angehört.

Erfüllt sind aber auch die besonderen Voraussetzungen des § 74 Abs 3 G 131 idF des Gesetzes vom 13. Oktober 1965 (BGBl I 1685). Danach gelten in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. März 1951 entrichtete Beiträge als freiwillige Beiträge, wenn "ein Antrag nach Abs 1 nicht gestellt" ist. Gemeint ist damit ein Erstattungsantrag; ihn konnte gemäß Abs 1 ein Beamter zur Wiederverwendung stellen, wenn für eine in der genannten Zeit von ihm verrichtete Beschäftigung Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden waren. Nach Abs 2 gilt Abs 1 entsprechend für weitere Personen mit der Folge, daß für sie ebenfalls Abs 3 Anwendung findet; zu ihnen gehören "die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes endgültig übernommenen Personen (§ 3 Nr 1)". Blickt man dabei allein auf den Wortlaut der Nr 1 des § 3, so sind dies solche, "die nach dem 8. Mai 1945 entsprechend ihrer früheren Rechtsstellung unter Berücksichtigung etwaiger ... Einschränkungen zum Zwecke der Wiederverwendung in den Dienst des Bundes oder eines anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn im Geltungsbereich dieses Gesetzes übernommen worden sind".

Das LSG will demgegenüber aus dem Klammerzusatz eine weitere Begrenzung ableiten; es entnimmt sie aus den alle Nummern des § 3 vorangestellten Eingangsworten: "Rechte nach Kapitel I haben nicht die in den §§ 1 und 2 bezeichneten Personen" (die in den folgenden Nummern dann weiter abgegrenzt werden). Zu diesen rechnet das LSG den Kläger nicht; insoweit kommt nach Ansicht des LSG allenfalls § 1 Abs 1 Nr 1 Buchst a G 131 in Betracht; der Kläger sei aber schon nicht bei einer "Dienststelle des Reiches" im Sinne dieser Vorschrift in einem Dienstverhältnis gestanden; davon abgesehen seien die Aufgaben der früheren Dienststelle bis zum 23. Mai 1949 von Dienststellen des Landes Schleswig-Holstein übernommen worden. Dieses Land gelte gemäß § 82 Abs 1 G 131 als Dienstherr des Klägers schon zum 8. Mai 1945.

Der Senat kann dahingestellt lassen, ob das LSG den Kläger zu Recht von den in den §§ 1 und 2 G 131 bezeichneten Personen ausgenommen hat. Denn auch wenn der Kläger nicht zu ihnen zählt, ist § 74 Abs 3 dennoch hier anzuwenden. In dem bereits genannten Urteil vom 27. April 1979 hat der 4. Senat ferner entschieden, daß § 74 G 131 auch für (einheimische) Landesbeamte gilt, die ihr Amt aus anderen als beamtenrechtlichen Gründen verloren hatten und schon vor dem 23. Mai 1949 bzw 1. April 1951 entsprechend ihrer früheren Stellung wiederverwendet worden sind. Der 4. Senat geht zwar davon aus, daß der in § 74 Abs 2 Satz 1 G 131 enthaltene Klammerhinweis auf § 3 Nr 1 G 131 nur die verdrängten Beamten (Kapitel I des Gesetzes) betreffe. Die Vorschrift lasse jedoch mit genügender Deutlichkeit erkennen, daß entscheidend die endgültige Übernahme des Beamten entsprechend seiner früheren Rechtsstellung vor dem Inkrafttreten des G 131 sei; sie müsse darum auch auf nicht verdrängte Beamte im Sinne des § 63 G 131 (in Kapitel II) Anwendung finden, die am 1. April 1951 ihrer früheren Rechtsstellung entsprechend bereits wiederverwendet worden waren. Sie seien gleichfalls in einem weiteren Sinne Beamte "zur Wiederverwendung" gewesen; zwischen ihnen und den erst nach diesem Tag rechtsgleich wiederverwendeten Beamten bestehe hinsichtlich der rechtlichen Behandlung einer in der maßgebenden Zeit ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung kein ins Gewicht fallender Unterschied.

Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des 4. Senats im Ergebnis an. Nach seiner Meinung ist schon der Klammerhinweis in § 74 Abs 2 Satz 1 G 131 auf § 3 Nr 1 in diesem Sinne zu verstehen; er erfaßt alle in G 131 genannten Personen, die aus einem am 8. Mai 1945 bestehenden Amt aus anderen als beamtenrechtlichen oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden, aber vor dem 1. April 1951 im Sinne der Nr 1 von § 3 rechtsgleich wiederverwendet worden sind. Dafür spricht zugleich, daß die Vorschrift des § 74 G 131 - ebenso wie übrigens § 72 G 131 - nicht nur nach dem Kapitel I (verdrängte Angehörige des öffentlichen Dienstes), sondern auch erst nach dem Kapitel II (sonstige Angehörige des öffentlichen Dienstes) in Kapitel III G 131 eingeordnet worden ist; vor allem aber ist kein Grund ersichtlich, die vor dem 1. April 1951 rechtsgleich wiederverwendeten Beamten des Kapitels II in der Möglichkeit eines Erstattungsantrages und bei Fehlen eines solchen in der Geltung der Beiträge als freiwillige Beiträge anders zu behandeln als die vor dem 1. April 1951 rechtsgleich wiederverwendeten Beamten des Kapitels I des G 131. Durch § 74 G 131 in den seit der 2. Novelle vom 11. September 1957 (BGBl I 1275) geltenden Fassungen sollte "klargestellt" werden, daß die Beschäftigung der unter dieses Gesetz fallenden Personen in der Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes "versicherungsfrei" gewesen ist (Urteil des erkennenden Senats vom 25. Oktober 1966 - 11 RA 352/65 -), und zwar wegen der beamtenrechtlichen Ansprüche dieser Personen. Die beamtenrechtlichen Ansprüche der rechtsgleich wiederverwandten Beamten des Kapitels II bleiben jedoch hinter den Ansprüchen der rechtsgleich wiederverwandten Beamten des Kapitels I nicht zurück. Erstere müssen daher auch als "versicherungsfrei" angesehen werden, zumal im Hinblick auf den Gleichheitssatz.

Da der Kläger eine Erstattung der in den Jahren 1945 bis 1947 geleisteten sieben Beiträge nicht beantragt hat, gelten diese somit als freiwillige Beiträge.

Hiernach waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654465

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