Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 29.09.1976)

 

Tenor

Die Revision der Beigeladenen zu 1) gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. September 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene zu 1) hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigte Kläger in der Arbeitslosenversicherung beitragsfrei ist.

Der Kläger (geboren 1944) ist in seiner Arbeitsfähigkeit behindert durch einen geistig-seelischen Entwicklungsrückstand und eine diskrete Tetraspastik mit Teil Versteifung der Finger sowie Zeichen von Entkalkung in den Fingern. Seit 1965 arbeitet er aufgrund eines Arbeitsvertrages bei der Beigeladenen zu 2), einer Werkstätte für Behinderte. Er verrichtet dort überwiegend Entgratungsarbeiten von Hand und maschinell. Hierbei erreicht er etwa 33 % der Leistung eines gesunden Arbeitnehmers. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde mit 50 %, ab 11. Januar 1974 mit 70 % festgestellt. Nachdem die Spitzenverbände der Krankenkassen, der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit (BA) in einem Spitzengespräch zu der Auffassung gelangt waren, daß Beschäftigte in Werkstätten für Behinderte nicht Sozialversicherungspflichtig seien, wenn die ihnen gezahlte Vergütung nicht die Hälfte des nach § 149 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) – Fassung vor dem 1. Juli 1977 – (RVO a.F) festgesetzten Ortslohnes erreiche, forderte die Beklagte am 22. März 1972 die Beigeladene zu 2) auf, den Kläger, für den bisher Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden waren, abzumelden. Der Kläger verdiente zu jener Zeit wöchentlich 67,20 DM, Der Ortslohn betrug für männliche Personen über 21 Jahre täglich 26,50 DM.

Die Abmeldung erfolgte am 27. April 1972 zum 31. März 1972. Außerdem stellte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Juni 1972 fest, daß die Abmeldung zu Recht erfolgt sei. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14. November 1972).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger auch über den 31. März 1972 hinaus der Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung unterliege (Urteil vom 18. Januar 1974). Gegen dieses Urteil haben die Beigeladene BA (Beigeladene zu 1) und die beklagte AOK Berufung eingelegt und diese Berufung auf die Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung beschränkt. Die Beklagte hatte sich von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung und in der Rentenversicherung der Arbeiter überzeugen lassen, weil die von dem Kläger bezogenen Entgelte über den Geringfügigkeitsgrenzen der §§ 168 Abs. 2 b und 1228 Abs. 2 b RVO aF lagen. Die Berufungen hatten keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts –LSG– Berlin vom 29. September 1976). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß grundsätzlich Beitragspflicht gegeben sei, weil zwischen dem Kläger und der beigeladenen Werkstätte für Behinderte (Beigeladene zu 2) ein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Die gezahlte Vergütung habe einen Vermögenswert dargestellt, der als Gegenleistung für die vom Kläger geleistete Arbeit gewährt worden sei. Der Kläger habe wirtschaftlich verwertbare Arbeit geleistet und die Bezüge hätten dem Wert der erbrachten Leistungen entsprochen. Die Vorschrift des § 169 Nr. 4 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), die Beitragsfreiheit für Arbeitnehmer vorsieht, „die wegen einer Minderung ihrer Leistungsfähigkeit dauernd der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen (§ 103 Abs. 1)”, werde im vorliegenden Fall nicht wirksam. Der Kläger sei körperlich, geistig und psychisch in der Lage, eine ihm zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Dabei sei davon auszugehen, daß zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auch die Anforderungen an den Umfang der vom Arbeitnehmer zu leistenden Arbeit zu rechnen sind (BSG SozR Nr. 12 zu § 76 AVAVG). Diese Voraussetzung sei … aufgrund eines vom Berufungsgericht eingeholten Gutachtens einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie gegeben. Der Kläger sei nach diesem Gutachten fähig, einfache Hilfsarbeiten in der Behindertenwerkstatt auszuüben und darüber hinaus gröbere manuelle Tätigkeiten, wie z. B. Lager- und Aufräumarbeiten, soweit sie nicht ein Heben oder Tragen von Gegenständen mit einem Gewicht von mehr als 1 kg erfordern, und Tätigkeiten als Bote innerhalb von Gebäuden zu verrichten. Dabei seien Arbeiten ausgeschlossen, die besondere Anpassung Umstellung, Tempo, eigenes Denken und selbständiges Handeln erfordern. Dem Kläger müsse seitens des Arbeitgebers Verständnis und Geduld entgegengebracht werden. Trotz der vorhandenen Einschränkungen seien Arbeitsplätze, die für den Kläger in Betracht kommen, in nicht nur bedeutungsloser Anzahl in Berlin vorhanden. Besonders für die Tätigkeiten, zu denen der Kläger in der Lage sei, müßten aufgrund der Verpflichtung nach § 4 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) leistungsschwache Arbeitnehmer eingestellt werden. Da das SchwbG von dem Arbeitgeber ein gewisses Entgegenkommen gegenüber Behinderten verlange, werde die Verfügbarkeit nicht dadurch behindert, daß die Sachverständige es für erforderlich ansehe, daß ein potentieller Arbeitgeber dem Kläger Verständnis entgegenbringen müsse.

Mit der Revision rügt die Beigeladene zu 1), daß das LSG es versäumt habe, Ermittlungen darüber anzustellen, ob auf dem Arbeitsmarkt eine nennenswerte Zahl von Arbeitsplätzen vorhanden sei, die der Kläger noch ausfüllen könne. Eine Übung könne nur dann angenommen werden, wenn Arbeitsverhältnisse unter den für den Kläger in Betracht kommenden Bedingungen in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegen; sie müßten in einer beachtlichen Zahl gegeben sein und nicht nur in Einzel- oder Ausnahme fällen, auch wenn diese häufiger sein sollten (BSGE 11, 16, 20; BSG, Urteil vom 15. Juli 1971 – 7 RAr 60/68 – ABA 1971, 325; Urteil vom 19. Dezember 1973 – 7 RAr 10/72 – ABA 1974, 125).

Die Beigeladene zu 1) beantragt,

die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die Beigeladene zu 2) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beigeladenen zu 1) ist nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt tätig ist (§ 168 Abs. 1 AFG) und daß er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (§ 169 Nr. 4 AFG), dh in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auch außerhalb der Werkstätte für Behinderte tätig zu werden (§ 103 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG).

Zwischen dem Kläger und der Beigeladenen zu 2) besteht ein Beschäftigungsverhältnis. Maßgebend für das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses ist die persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten, dh seine Weisungsunterworfenheit und seine Eingliederung in einen Betrieb (BSGE 20, 6, 8; SozR 2200 § 1227 Nr. 8, beide mit weiteren Nachweisen). Der Kläger verrichtet in der Behindertenwerkstätte der Beigeladenen zu 2) Entgratungsarbeiten und ist insoweit in den Produktionsbetrieb dieser Werkstätte eingegliedert. Er unterliegt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts dem Direktionsrecht der Beigeladenen zu 2), dh er ist an Weisungen hinsichtlich Art, Umfang und Ausführung der Arbeit sowie des zeitlichen Ablaufs und des Arbeitsortes im Rahmen des bestehenden Arbeitsvertrages gebunden. Der Umstand, daß der Arbeitsvertrag mit einer Einrichtung abgeschlossen worden ist, die ihrer Zwecksetzung nach nicht in erster Linie der Gewinnerzielung und Gütererzeugung, sondern der Rehabilitation und damit der Betreuung und Förderung der dort Beschäftigten dient, ändert an der persönlichen Abhängigkeit nichts. Selbst wenn – was hier nicht zu erörtern ist – das Direktionsrecht in Werkstätten für Behinderte anderen Begrenzungen unterliegt als in Arbeitsverhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarktes und auch sonst arbeitsrechtliche Normen nicht uneingeschränkt angewendet werden können (vgl. dazu Fabricius/Gammelin in: Die Werkstatt für Behinderte, Veröffentlichung des Instituts für Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum, 1972, S. 185 ff; Pünnel, ArbuR 1978, 44), so wird damit die persönliche Abhängigkeit allenfalls modifiziert, nicht aber beseitigt. Auch nimmt der Rehabilitationszweck den Werkstätten für Behinderte nicht den Charakter eines Betriebes. Als Betrieb ist nämlich eine organisatorische Einheit anzusehen, innerhalb derer ein Unternehmer allein oder mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe sächlicher oder sonstiger Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt (Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. I § 16 II – S. 93; BAG, Urteil vom 3. Dezember 1954 – 1 ABR 7/54 – AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG – Bl 703). Diese Voraussetzungen sind auch bei den Werkstätten für Behinderte der Beigeladenen zu 2) gegeben, da ungeachtet des Rehabilitationszweckes arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden.

Der Kläger erbringt auch eine Leistung, die der Befriedigung eines Bedürfnisses dient und im Wirtschaftsleben als Arbeit qualifiziert wird (BSGE 10, 94, 96; 16, 98, 100; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 3. Aufl., 1977, S. 28 zu II 1; Hanau/Adomeit, Arbeitsrecht, 5. Aufl., 1978, E 3 S. 118). Diese Voraussetzungen sind nämlich regelmäßig erfüllt, sofern nur das Produkt wirtschaftlichen Wert hat, ohne daß es auf die Wirtschaftlichkeit der Erzeugung, den Umfang der Leistung oder sonstige Gesichtspunkte ankäme. Dies verkennt Wallerath (in: Die Werkstatt für Behinderte, S. 437 ff), wenn er meint, daß diese Voraussetzung an einer durchschnittlichen Rentabilitätsberechnung der Werkstätte zu orientieren sei (Wallerath aaO S. 447 ff). Die Versicherung des Behinderten würde bei einer solchen Auffassung nicht von der Leistung oder Tätigkeit des einzelnen abhängen, sondern davon, wie hoch der Prozentsatz der Schwerbehinderten in der Werkstätte ist, die einen großen Aufwand an Betreuung – objektiv oder nach Auffassung der Werkstätte – erfordern und wenig Leistung erbringen. Die mithin allein erforderliche Voraussetzung, daß wirtschaftlich verwertbare Arbeit geleistet wird, ist hier nach den Feststellungen des LSG gegeben. Die vom Kläger miterstellten Produkte werden auf dem Markt abgesetzt.

Die Arbeit des Klägers dient auch dem Zweck, Mittel für den Lebensunterhalt zu erwerben oder jedenfalls dem Ziel des Gelderwerbs (BSGE 10, 94, 96; 16, 98, 100). Obwohl beim Kläger therapeutische und soziale Gründe für die Beschäftigung vorhanden sind, ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß für den Kläger der Gelderwerb etwa kein wesentlicher Grund für die Ausübung der Tätigkeit ist, zumal er sonstige Möglichkeiten nicht hat, sich aus eigenen Mitteln zu unterhalten.

Die Höhe des Entgelts ist demgegenüber grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses (BSGE 16, 289, 292; BSG SozR Nr. 14 zu § 539 RVO, Aa 19). Die Entscheidungen, auf die sich die Beklagte bezieht (BSGE 3, 30; 12, 153; 17, 1), betreffen Fälle, in denen darüber zu befinden war, ob es sich um familienhafte Mitarbeit oder um Beschäftigungsverhältnisse handelte. Nur in einem solchen Zusammenhang hat das BSG die Gewährung eines gegenüber dem üblichen Lohn wesentlichen geringeren Barlohns als Anhalt für familienhafte Mitarbeit gewertet. Es ist zwar denkbar, diese Überlegung auch dann heranzuziehen, wenn zwischen Verhältnissen, die der Therapie oder der Betreuung dienen, und Beschäftigungsverhältnissen zu unterscheiden ist. Es wäre dann aber nicht die absolute Höhe des gewährten Lohnes entscheidend, sondern lediglich, ob der gewährte Lohn erheblich unter oder über dem Wert der geleisteten Arbeit liegt. Das ist hier jedoch nicht der Fall, denn nach den Feststellungen des LSG entspricht der dem Kläger gezahlte Lohn dem Wert seiner Arbeitsleistung.

Gesetze und sonstiges Recht enthalten ebenfalls keinen Hinweis, daß das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses von der Höhe des Entgelts abhängt. Durch § 168 Abs. 2 Buchst b RVO aF (vgl. jetzt § 8 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches – SGB IV –) wird nur die Versicherungspflicht begrenzt. Die Vorschrift sagt aber nichts darüber aus, daß unterhalb dieser Grenze kein Beschäftigungsverhältnis vorliegen könne. In § 1247 Abs. 2 RVO ist lediglich die Grenze der Einkünfte festgelegt, von der ab eine Rente zu zahlen ist. Das heißt aber nicht, daß Tätigkeiten, die zu geringeren Einkünften führen, etwa kein Beschäftigungsverhältnis sein könnten. Die Regelung des § 3 Abs. 2 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter vom 2. Juli 1970 – A-Reha – (ANBA 1970, 637) enthielt die Bestimmung, daß eine Tätigkeit in einer Werkstätte für Behinderte nur dann eine Eingliederung sei, wenn der Betreffende mindestens den Sozialhilfesatz für einen Haushaltsvorstand verdiene (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1976 – 12/7 RAr 41/75 – SozR 4100 § 56 Nr. 4 – S. 8). Diese Grenze sagt aber nur etwas über die vollständige Eingliederung in den Arbeitsmarkt aus. Damit ist noch nichts darüber festgestellt, ob ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt.

Mangels gesetzlicher Anhaltspunkte kann deshalb auch eine Unterscheidung zwischen Taschengeld und Entgelt nicht generell und allein nach der Höhe erfolgen. Die ausführliche Untersuchung hierzu von Wallerath (in: Die Werkstatt für Behinderte, S. 300, 455 ff) verkennt, daß keine der von ihm herangezogenen gesetzlichen Regelungen einen derartigen Anhalt enthält. Die Abgrenzung zwischen Taschengeld und Entgelt kann nur in der Weise erfolgen, daß die geldliche Leistung in Relation zu dem Wert der Arbeitsleistung gesetzt wird. Ist das Entgelt bei dieser Gegenüberstellung unverhältnismäßig niedrig (oder unverhältnismäßig hoch), so ist auch das noch kein Hinweis auf fehlenden Entgeltcharakter. Diese Situation gibt lediglich Veranlassung, nach den Gründen zu forschen, und dabei kann sich ergeben, daß es sich wegen eines familiären Verhältnisses oder eines sozialen Betreuungsverhältnisses um Taschengeld handelt.

Die Beurteilung, daß die Voraussetzungen eines Beschäftigungsverhältnisses vorliegen, wird auch nicht dadurch verändert, daß nicht alle Rechtsverhältnisse Behinderter in einer Werkstatt für Behinderte insgesamt wegen des besonderen Betreuungscharakters in den Schutzbereich der Sozialversicherung einbezogen sind. Daß aber ein Bedürfnis nach dem Schutz durch die Sozialversicherung in gleicher Weise wie bei Arbeitsverhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen kann, zeigt schon die Tatsache, daß das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061) die in diesen Werkstätten Tätigen ausdrücklich in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung einbezogen hat. Ein gleiches Schutzbedürfnis besteht – sofern überhaupt Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommen – auch für den Bereich der Arbeitslosenversicherung, weil bei einem Überwechseln auf den allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitslosigkeit eintreten kann.

Aus dem Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter kann auch nicht rückgeschlossen werden, daß die Behinderten vor Erlaß des Gesetzes nicht versicherungspflichtig waren und eine Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen ist. Das Gesetz bezieht in bestimmten Grenzen der Leistungsfähigkeit alle Behinderten, die in Werkstätten für Behinderte oder Blindenwerkstätten beschäftigt werden, in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung ein. Dadurch wird eine Differenzierung zwischen solchen dort tätigen Behinderten, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, überflüssig.

Eine Aussage über die Verhältnisse vor Erlaß des Gesetzes ist damit nicht verbunden. Gleiches gilt für die Aussparung der Arbeitslosenversicherung. Die Motive (BT-Drucks 7/1992 S. 10 II 1a) lassen zwar nicht ganz klar erkennen, ob davon ausgegangen wurde, daß schon ein Teil der Behinderten in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig ist oder ob angenommen wurde, daß alle in Werkstätten für Behinderte Beschäftigten nicht beitragspflichtig sind. Jedenfalls kommt an keiner Stelle zum Ausdruck, daß bisher Beitragspflichtige von der Beitragspflicht ausgeschlossen werden sollten.

Richtig ist allerdings, daß es sich bei dem Verhältnis von Behinderten zu der Werkstatt für Behinderte wegen des Rehabilitationszweckes und dem damit verbundenen Betreuungs- und Förderungscharakter, unabhängig von der Gestaltung der Vertragsbeziehung im einzelnen, um ein Verhältnis eigener Art. handelt, das nicht ohne weiteres arbeits- und sozialrechtlichen Normen unterworfen werden kann. Da eine gesetzliche Regelung fehlt, ist stets im einzelnen zu prüfen, inwieweit diese Normen anzuwenden sind. Sofern jedoch – wie hier – alle Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses erfüllt sind und sogar ein Arbeitsvertrag abgeschlossen worden ist, bestehen gegen die Anwendung der Vorschriften über die Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung keine Bedenken. Auch das SchwbG geht davon aus, daß in Behindertenwerkstätten Beschäftigungsverhältnisse möglich sind, denn es erwähnt in § 52 Abs. 1 und 2 den Begriff des Arbeitsplatzes, in Abs. 2 den Begriff des Arbeitsentgelts und in Abs. 3 den Begriff der Arbeitsleistung. Dabei kann in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob bei einem sehr geringen Umfang des Leistungsergebnisses und entsprechend sehr niedriger leistungsgerechter Entlohnung eine unterste Grenze zu ziehen ist. In vorliegenden Fall bedarf diese Frage keiner Entscheidung, da jedenfalls die – leistungsgerechte – Entlohnung des Klägers die Grenzen des § 168 RVO aF nicht unterschreitet und für andere Begrenzungen nach der Höhe der Leistungsfähigkeit oder des Entgelts keine gesetzliche Grundlage besteht.

Der Kläger ist auch nicht nach § 169 Nr. 4 AFG wegen mangelnder Verfügbarkeit (§ 103 Abs. 1 AFG) beitragsfrei. Nach § 169 Nr. 4 AFG tritt Beitragspflicht nicht ein, wenn der Arbeitnehmer wegen Hinderung der Leistungsfähigkeit der Arbeitsvermittlung gemäß § 103 Abs. 1 AFG dauernd nicht zur Verfügung steht. Dabei spielen nur Einschränkungen der Verfügbarkeit eine Rolle, die auf ein eingeschränktes Leistungsvermögen zurückgehen. Die Vorschrift des § 103 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG bestimmt, daß der Arbeitsvemittlung nur zur Verfügung steht, wer eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann. Zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes rechnet auch der Umfang der Arbeitsleistung (BSG SozR Nr. 12 zu § 76 AVAVG, Ba 12 Rücks.). Der Umfang der Arbeitsleistung entspricht üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, wenn Arbeitsplätze für eine derartige Tätigkeit mit den vorhandenen Einschränkungen in beachtlicher Zahl gegeben sind, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann. Entscheidend ist dabei, in welchem zahlenmäßigen Umfang derartige Arbeitsplätze überhaupt vorhanden sind, seien sie frei oder besetzt (BSG SozR 4100 § 134 Nr. 3 – S. 8; BSG, Urteil vom 22. November 1977 – 7 RAr 53/75 –). In der älteren Rechtsprechung wird bei im übrigen im wesentlichen gleichen Formulierungen von Arbeitsplätzen in „nennenswertem Umfang” gesprochen (BSGE 11, 16, 20 f; BSG SozR Nr. 12 zu § 76 AVAVG). Außerdem ist stets die voraussehbare Entwicklung des Arbeitsmarktes zu berücksichtigen (BSGE 11, 16, 20 f; BSG, Urteil vom 11. Februar 1976 – 7 RAr 20/74 –).

Das LSG hat festgestellt, daß für den Kläger trotz seines eingeschränkten Leistungsvermögens Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von Berlin in nicht nur bedeutungsloser Anzahl vorhanden sind. Die Revision hat diese ausdrückliche Feststellung des Berufungsgerichts nicht mit einer wirksamen Verfahrensrüge angegriffen. Hierzu wäre es erforderlich gewesen darzulegen, warum sich das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt; fühlen müssen, welche Ermittlungen es hätte anstellen sollen und zu welchen Ergebnissen diese Ermittlungen geführt hätten (BSG, Urteil vom 26. September 1957 – 4 RJ 214/56 –, SozR Nr. 28 zu § 164 SGG). Dazu hätte dargetan werden müssen, welche durch Erfahrung erhärteten Erkenntnisse über die Unterbringung von Behinderten die Beigeladene zu 1) besitzt, wie diese belegt werden können und welche Folgerungen sich daraus für die Unterbringung des Klägers ergeben. Der bloße Hinweis, daß ihrer Auffassung nach Arbeitsplätze nicht in nennenswertem Umfang vorhanden seien, reicht hierfür nicht aus. Daran kann auch nichts der Hinweis auf die vorinstanzlichen Akten ändern, zumal in diesen – ebenso wie im Revisionsverfahren – nicht einmal vorgetragen worden ist, welche konkreten, durch Erfahrung erhärteten Erkenntnisse die Beigeladene zu 1) besitzt.

Zutreffend hat das LSG auch allein auf den Arbeitsmarkt von Berlin abgestellt, weil für den Kläger aufgrund seiner Behinderung und seiner familiären Verhältnisse allein dieser Arbeitsmarkt erreichbar ist. Der allgemeine Arbeitsmarkt iS des § 103 AFG ist nämlich auf den für den Arbeitnehmer erreichbaren Arbeitsmarkt beschränkt, wenn dem betreffenden Arbeitnehmer ein Umzug nicht zumutbar ist (BSG SozR Nr. 12 zu § 76 AVAVG, SozR 4100 § 134 Nr. 3 – S. 4).

Nach allem kann die Revision der Beigeladenen zu 1) keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 244

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