Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Ablehnung eines Vertagungsantrags. Auslegung. Zurückverweisung

 

Orientierungssatz

1. Ein iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO ausdrücklich oder sinngemäß gestellter Vertagungsantrag mit einem substantiiert geltend gemachten und ggf glaubhaft gemachtem Terminsverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (vgl BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 = SozR 3 1750 § 227 Nr 1, vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R).

2. Für die Annahme eines Verlegungsantrags ist es unerheblich, ob die Partei in ihrem Schreiben ausdrücklich die Formulierung "Vertagung" verwendet. Das Schreiben einer im Berufungsverfahren unvertretenen Naturalpartei ist vielmehr entsprechend seinem Sinngehalt auszulegen (vgl BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R).

 

Normenkette

SGG §§ 62, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5, § 202; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.07.2005; Aktenzeichen L 13 R 38/05)

SG Detmold (Gerichtsbescheid vom 01.02.2005; Aktenzeichen S 8 RJ 16/04)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 2005 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Das Sozialgericht Detmold (SG) hat die Klage gegen die Aufhebung der Bewilligung von so genannter großer Witwerrente sowie gegen die Rückforderung einer Überzahlung in Höhe von € 1.378,65 abgewiesen. Im Verfahren über die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG ist dem - unvertretenen - Kläger am 17. Juni 2005 der auf den 15. Juli 2005 anberaumte Verhandlungstermin mitgeteilt worden. Daraufhin hat dieser sich mit Schreiben vom 21. Juni 2005 (beim vom Kläger wiedergegebenen Datum 21. Juli 2005 handelt es sich angesichts des Eingangsstempels vom 23. Juni 2005 um einen offenkundigen Schreibfehler) an das Landessozialgericht (LSG) gewandt: "Ihren Termin am 15.07.05 kann ich aus Urlaubsgründen nicht wahrnehmen. 08.07.05 - 25.07.05 Urlaub; 07.10.05 - 24.10.05 Urlaub; bitte bei neuem Termin berücksichtigen. Wer bezahlt mir mein Erscheinen (Zugfahrkarte)?" Der Vorsitzende des Berufungssenats hat dem Kläger unter dem 24. Juni 2005 geantwortet: In "o.a. Rechtsstreit nehme ich Ihre Mitteilung vom 21.06.2005 zur Kenntnis, nach der Sie den Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.07.2005 nicht wahrnehmen können. Da ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet wurde, könnten Ihnen auch keine Fahrtkosten erstattet werden." Das LSG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 2005 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und ausgeführt, der Senat habe in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden können, weil in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sei und Anlass zur Vertagung nicht bestanden habe. Der Kläger habe dem Senat zwar seine Verhinderung angezeigt, aber auch nach der ihm dazu erteilten Mitteilung des Senatsvorsitzenden keine Terminsaufhebung beantragt.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt der Kläger ua als Verfahrensfehler eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 62 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er habe dem Berufungsgericht bereits am 21. Juni 2005 schriftlich mitgeteilt, dass er vom 8. Juli bis 25. Juli 2005 verreist und deshalb am Verhandlungstermin am 15. Juli 2005 verhindert sei. Aus diesem Schreiben lasse sich erkennen, dass er davon ausgegangen sei, der anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung werde verlegt. Der Umstand, dass eine Terminsverlegung nicht ausdrücklich beantragt worden sei, sei unbeachtlich; es genüge, wenn der Beteiligte begründet mitgeteilt habe, er sei verhindert. Das Urteil des LSG beruhe auf diesem Mangel, da er in der mündlichen Verhandlung noch für die Entscheidung Wesentliches mitgeteilt hätte.

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt tatsächlich vor.

Der Kläger hat die Verletzung des § 62 SGG und des Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozessbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird (BSG Urteil vom 28. April 1999 - B 6 KA 40/98 R -, veröffentlicht bei Juris).

Grundsätzlich stellt zwar allein der Umstand, dass ein Beteiligter außer Stande ist, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen, und dies vorher mitteilt, noch keinen zwingenden Grund für eine Terminsverlegung dar (Senatsbeschluss vom 24. September 2002 - B 13 RJ 55/02 B -, veröffentlicht bei Juris). Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie hier, das Gericht auf die Möglichkeit hingewiesen hat, dass bei Fernbleiben eines Beteiligten nach Lage der Akten entschieden werden kann (vgl dazu § 110 Abs 1 Satz 2 SGG).

Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann - und ggf muss - jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden, auch wenn das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden ist (vgl BSG Beschluss vom 21. Juli 2005 - B 11a/11 AL 261/04 B - mwN, veröffentlicht bei Juris). Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ausdrücklich oder sinngemäß gestellter Vertagungsantrag mit einem substantiiert geltend gemachten und ggf glaubhaft gemachtem Terminsverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG Urteile vom 28. April 1999 - B 6 KA 40/98 R - und vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 5/02 R -, jeweils veröffentlicht bei Juris). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung hat generell der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für diesen Anspruch der Naturalparteien Genüge zu tun (vgl hierzu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33). Bei entsprechenden Anhaltspunkten bzw Zweifeln, ob eine Terminsverlegung gewollt ist, ist eine Rückfrage bei dem betreffenden Beteiligten geboten (Senatsurteil vom 16. Dezember 1993 - 13 RJ 37/93 -, veröffentlicht bei Juris).

Zu Unrecht hat das LSG das Schreiben des Klägers vom 21. Juni 2005 nicht als sinngemäß gestellten Vertagungsantrag angesehen. Unbeachtlich ist, dass der Kläger hierin nicht ausdrücklich die Formulierung "Vertagung" verwendet hat. Das genannte Schreiben des im Berufungsverfahren unvertretenen Klägers ist vielmehr entsprechend seinem Sinngehalt auszulegen (vgl auch BSG Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 5/05 R -, veröffentlicht bei Juris). Danach hat der Kläger ausreichend deutlich seinen Willen zum Ausdruck gebracht, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Denn er hat in dem genannten Schreiben nicht nur mitgeteilt, dass er durch Urlaub am Sitzungstag verhindert sei, sondern er hat auf seine - weitere - Verhinderung durch Urlaub vom 7. Oktober bis 24. Oktober 2005 hingewiesen. Die Absicht, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, wird ebenfalls durch den Zusatz deutlich, er bitte, "dies (gemeint die Urlaubsverhinderung) bei neuem Termin" zu berücksichtigen. Die Anzeige der beiden geplanten Urlaube iVm dem Zusatz spricht jedenfalls dafür, anzunehmen, dass der Kläger an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wollte, von einer Vertagung des für den 15. Juli 2005 angesetzten Verhandlungstermins ausging und an dem neu anzuberaumenden Verhandlungstermin teilnehmen wollte. Nichts anderes ist seiner Bitte zu entnehmen, bei dem neuen Termin seine weitere Urlaubsplanung für Oktober 2005 zu berücksichtigen. Seine Absicht, im Termin persönlich zu erscheinen, wird bestätigt durch die zusätzliche Frage, wer ihm sein Erscheinen bezahle.

Soweit dennoch Zweifel bestehen konnten, ob der Kläger auch ohne zugesagte Kostenerstattung an einer mündlichen Verhandlung teilnehmen wollte, hätte das LSG beim Kläger insoweit nachfragen müssen. Das Schreiben des Vorsitzenden des Berufungssenats vom 24. Juni 2005 kann nicht als eine solche Nachfrage angesehen werden. Vielmehr hat der Vorsitzende nur mitgeteilt, dass er die Verhinderung des Klägers "zur Kenntnis" genommen habe und Fahrtkosten nicht erstattet würden. Dieses Schreiben konnte deshalb im Gegensatz zur Auffassung des LSG keine Pflicht des Klägers begründen, nochmals deutlich zu machen, dass er an der Berufungsverhandlung teilnehmen wolle. Einen Terminsaufhebungsantrag hatte der Kläger bereits sinngemäß gestellt und musste diesen nicht wiederholen. Das LSG hatte in dem genannten Schreiben insbesondere nicht mit ausreichender Klarheit mitgeteilt, es werde an dem Termin festhalten. Dass Fahrtkosten nicht erstattet würden, wenn das persönliche Erscheinen nicht angeordnet sei, war eine Information, die auch für einen neuen Termin Bedeutung behielt.

Somit musste das LSG von einem Vertagungsantrag ausgehen oder hätte zumindest beim Kläger nachfragen müssen, ob er auch ohne Kostenerstattung an seinem Teilnahmewunsch festhalte. Dem Vertagungsantrag war auch zu entsprechen, weil der Kläger aus wichtigem Grund an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verhindert war; hierzu zählt insbesondere auch der vor Empfang der Ladung geplante Urlaub einer Naturalpartei; bei Zweifeln hätte das LSG eine Glaubhaftmachung (§ 227 Abs 2 ZPO) verlangen können (vgl Hartmann in Baumbach ua, ZPO, Komm, 64. Aufl 2006, § 227 RdNr 26 mwN).

Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst hat; einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es nicht (BSG Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 5/02 R -; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33).

Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Das Bundessozialgericht kann in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160a Abs 5 SGG das angefochtene Urteil auch dann wegen eines Verfahrensmangels aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn die Beschwerde zusätzlich auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt ist, der Verfahrensmangel aber selbst bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und bei Zulassung der Revision voraussichtlich zur Zurückverweisung führen würde (vgl BSG Beschluss vom 30. April 2003 - B 11 AL 203/02 B - mwN, veröffentlicht bei Juris).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2391789

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