Tenor

Das Bundessozialgericht erklärt sich für sachlich unzuständig und verweist den Rechtsstreit an das Sozialgericht Leipzig, Gottschedstraße 40, 04109 Leipzig.

 

Gründe

Der Kläger hat mit Schreiben vom 20. August 1996 am 22. August 1996 beim Bundessozialgericht (BSG) Klage gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erhoben. Er wendet sich hiermit gegen „die Berechnung seiner Rente”. Der Senat hat mit Schreiben vom 27. August 1996 auf die sachliche Unzuständigkeit des BSG hingewiesen und den Beteiligten bis längstens 20. September 1996 Gelegenheit zur Stellungnahme hinsichtlich der beabsichtigten Verweisung an das örtlich und sachlich zuständige Sozialgericht (SG) gegeben. Hiervon haben die Beteiligten keinen Gebrauch gemacht.

Der Rechtsstreit ist gemäß §§ 98 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 17a Abs 2 Satz 1, Abs 4 Satz 1 und 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) an das örtlich und sachlich zuständige SG Leipzig zu verweisen, denn die Klage ist wirksam erhoben worden. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger vor dem BSG entgegen § 166 SGG nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten war.

Wortlaut und äußere Gestalt des Schreibens vom 20. August 1996 lassen allein den Schluß zu, daß unmittelbar Klage zum BSG erhoben werden sollte. Insbesondere hat der Kläger sein Rechtsschutzbegehren „Klage gegen den Rentenbescheid”, „… erhebe ich Klage …”) ausdrücklich dorthin adressiert. Hinweise darauf, daß das BSG lediglich als „Ersatzadressat” in Anspruch genommen werden sollte, um die Voraussetzungen für die Fiktion der Fristwahrung (§ 91 SGG) zu erfüllen, fehlen demgegenüber vollständig. Einer – auch äußerlich erkennbaren – Willensbetätigung in dieser Richtung (vgl in diesem Sinne bereits die Entscheidung des Reichsversicherungsamts in Amtliche Nachrichten 1909, S 522 zu § 114 Abs 3 Invalidenversicherungsgesetz) hätte es jedoch bereits im Hinblick darauf bedurft, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit erfahrungsgemäß primär im Hinblick auf ihre Rechtsprechungsfunktion in Anspruch genommen werden (so zutreffend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1989, S 241 und Bley in Gesamtkomm Sozialgesetzbuch/Sozialversicherung § 91 SGG Anm 5b).

Das BSG ist als Rechtsmittelgericht (§§ 39 Abs 1, 177 SGG) für die Entscheidung sachlich unzuständig (vgl für den Bereich der Finanzgerichtsbarkeit ebenso BFHE 127, 309, 310). Auch liegt ersichtlich keiner der in §§ 39 Abs 2 SGG, 88 Abs 7 Satz 2 Nr 2 Soldatenversorgungsgesetz, 71 Nr 5 Schwerbehindertengesetz, 116 Abs 6 Satz 4 Arbeitsförderungsgesetz geregelten Ausnahmefälle vor, in denen es im ersten und letzten Rechtszug abschließend zu entscheiden hätte. Die gemäß §§ 90, 94 SGG unabhängig von Zuständigkeitsfragen rechtshängig gewordene Klage (BSGE 1, 284 ff, 285 sowie ausdrücklich zum Problem der Rechtshängigkeit trotz Unzuständigkeit Bley, aaO, § 90 SGG Anm 3c) ist daher auf der Grundlage des – hier unmittelbar anzuwendenden (Meyer-Ladewig, Komm zum Sozialgerichtsgesetz, 5. Aufl, § 98 SGG RdNr 2 und Bley, aaO, § 98 SGG Anm 1d, 2b) – § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 1, Abs 4 Satz 1 und 2 GVG an das örtlich und sachlich zuständige SG Leipzig zu verweisen.

Für die Wirksamkeit der Klageerhebung und die Durchführung des vorgeschriebenen Anhörungsverfahrens, innerhalb dessen den Beteiligten Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den maßgeblichen Tatsachen und den hieraus prozeßrechtlich zu ziehenden Schlußfolgerungen zu äußern (vgl zu Inhalt und Notwendigkeit der Anhörung zur beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits etwa BVerfG in NJW 1982, 2367 f), bedurfte es dabei auf seiten des Klägers keiner Vertretung durch einen zugelassenen Prozeßvertreter. Hierzu gilt im einzelnen folgendes:

Das sozialgerichtliche Verfahren erster und zweiter Instanz ist vom Prinzip der Postulationsfähigkeit der prozeßfähigen Partei geprägt; diese ist damit ohne weiteres in der Lage, ihrem prozessualen Handeln selbst die rechtserhebliche Erscheinungsform zu geben (Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 45 I 2). Ob sie sich dennoch durch einen (prozeßfähigen) Bevollmächtigten vertreten lassen will, ist demgemäß ihrer freien Willensentschließung „kann”) überantwortet, §§ 73 Abs 1, 153 Abs 1 SGG (vgl auch Meyer-Ladewig, Prozeßvertretung in der Sozialgerichtsbarkeit, SGb 1981, 285 ff unter B I 1). Im Zusammenwirken mit den geringen förmlichen Anforderungen des SGG an das Handeln der Partei und die wesentlich am Schutzgedanken orientierte (BVerfG in SozR Art 3 Grundgesetz Nr 43) weitere Ausgestaltung des – kostenfreien (§ 183 SGG) – Verfahrens insbesondere durch den Grundsatz der Amtsermittlung (§ 103 SGG) und die Hinweispflicht des Vorsitzenden (§ 106 Abs 1 SGG) wird so die Möglichkeit sichergestellt, Rechtsschutz durch die SG regelmäßig ohne fremde Hilfe und ausgeprägte eigene Rechtskenntnisse zu erlangen (Bergerfurth, Der Anwaltszwang und seine Ausnahmen, Bielefeld 1988, S 189 Fn 51 mwN).

Im Gegensatz hierzu fordert § 166 Abs 1 SGG – seiner systematischen Stellung im Zweiten Abschnitt des Zweiten Teils des SGG entsprechend unmittelbar zunächst nur für das Revisionsverfahren vor dem BSG – zwingend „müssen”) eine Vertretung der Beteiligten (mit Ausnahme der Behörden bzw Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts) durch solche Personen, die dem in Abs 2 der Vorschrift abschließend umschriebenen (BSGE 1, S 106 ff, 109 und BSG in SozR § 166 SGG Nr 43) Kreis der Prozeßbevollmächtigten zugehören. Der Grund hierfür wird in Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend in den insofern vorgeschriebenen Förmlichkeiten gesehen; diese vom sonstigen Aufbau des Gesetzes abweichende Ausgestaltung erfordert neben einem verstärkten Schutz der Rechtsuchenden (so bereits die Begründung des Regierungsentwurfs einer Sozialgerichtsordnung, BT-Drucks I/4357, S 31 zu § 113) auch im Interesse der Funktionsfähigkeit des Revisionsgerichts Garantien für die Einhaltung eines sachlichen Mindeststandards durch ausreichend kundige Vertreter (Günther, Zum Anwaltszwang im Revisionsverfahren, DVBl 1988, S 1039 ff, 1041; BSG in SozR § 166 SGG Nrn 20, 43; SozR 1500 § 166 Nrn 1, 11 mwN, 12, 13; SozR 3-1500 § 166 Nr 4; BVerfG in SozR 1500 § 166 Nr 14). Entsprechende Erwägungen gelten im Hinblick auf den allgemein gehaltenen Wortlaut von § 166 Abs 1 SGG ebenso für alle sonstigen dem BSG zugeordneten Verfahren, dh auch für Wiederaufnahmeklagen (BSGE 9, 55 ff, 56) und diejenigen Klagen, über die es in erster und letzter Instanz entscheidet (BSG in SozR 1500 § 166 Nr 1 mwN).

Von § 166 SGG wird – mit nicht immer überzeugender Begründung – eine Reihe von Ausnahmen anerkannt: Insbesondere hält die Rechtsprechung unter Hinweis darauf, daß andernfalls der „Vertretungszwang ungerechtfertigt überspannt” bzw „gegen den Grundsatz der Prozeßwirtschaftlichkeit verstoßen” würde noch in der Revisionsinstanz eine Rücknahme der Klage durch den unvertretenen Kläger für zulässig (BSG in SozR § 102 SGG Nr 4). Hiervon ausgehend wird – a maiore ad minus – auch angenommen, daß die Stellung des Antrags auf das Ruhen des Verfahrens (SozR 1500 § 166 Nr 6) oder die Erklärung des Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (SozR 1500 § 124 SGG Nr 6) „vom Vertretungszwang befreit” sei, „weil es nicht sinnvoll wäre, für eine einzelne Prozeßhandlung zur Bestellung eines Prozeßbevollmächtigten zu zwingen”. Dem Senat erscheint in Übereinstimmung mit kritischen Stimmen in der Literatur (vgl exemplarisch Günther, aaO, S 1046 li Spalte) jedenfalls zweifelhaft, ob anstelle einer an Sinn und Zweck orientierten Auslegung allein das Interesse des Revisionsgerichts an einer pragmatischen Verfahrensgestaltung die reduzierte Anwendung zwingenden Prozeßrechts zu rechtfertigen vermag. Indessen bedarf es insofern für den vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung.

Der Kläger hat in Verkennung der Rechtslage ein Verfahren beim BSG anhängig gemacht, für dessen abschließende Entscheidung dieses Gericht im ersten Rechtszug unter keinen denkbaren Umständen als zuständig in Betracht kommt. § 166 SGG sind jedoch im Hinblick auf Wortlaut, Sachzusammenhang, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß sich die Anordnung des Vertretungszwangs nach dem Willen des Gesetzgebers über die dem BSG von der Verfahrensordnung ausdrücklich zugeordneten Rechtsstreitigkeiten hinaus erstrecken sollte. Im Gegenteil erschöpft sich ihre oben dargestellte (Doppel-)Funktion des Schutzes von Bürger und Gericht durch die zwingende Beteiligung kundiger Prozeßvertreter in den förmlich ausgestalteten bzw im Hinblick auf das Fehlen von Rechtsmitteln gegen die abschließende Entscheidung besonders bedeutsamen Verfahren vor dem BSG. Wird das Gericht demgegenüber ausnahmsweise fälschlich als Eingangsinstanz in Anspruch genommen, unterscheidet sich die dann zwingend vorzunehmende Verweisung (vgl zur Anwendbarkeit von § 98 SGG insofern Bley, aaO, § 98 SGG Anm 1d) nach Inhalt und Qualität in keiner Weise von sonstigen Entscheidungen dieser Art durch andere Gerichte. Entsprechend den für das Verfahren im ersten Rechtszug geltenden Vorschriften (zu deren Anwendung in dem BSG nach § 39 Abs 2 SGG zugewiesenen Streitigkeiten: Meyer-Ladewig, § 39 SGG RdNr 4) und demgemäß ausgehend vom Prinzip der Postulationsfähigkeit der Partei selbst (s oben) bedarf es daher auch für die Durchführung des Anhörungsverfahrens nicht der Bestellung eines zugelassenen Prozeßvertreters (für das finanzgerichtliche Verfahren im Ergebnis ebenso BFHE 127, 309 f).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173966

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