Leitsatz (amtlich)

Regt ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung vor dem SG an, die (Sprung-) Revision zuzulassen, so stimmt er damit noch nicht der Einlegung der Sprungrevision durch den Gegner zu.

 

Normenkette

SGG § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 1. August 1975 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Mit der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der Krankenversicherungsleistungen, die sie für den Beigeladenen in den Jahren 1972 und 1973 aufgewendet hat. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Lübeck am 1. August 1975 hat der Bevollmächtigte der Klägerin neben einem entsprechenden Sachantrag den Zusatzantrag gestellt, die Revision zuzulassen. Der Bevollmächtigte der Beklagten hat Abweisung der Klage beantragt und sich dem Zusatzantrag angeschlossen. Mit Urteil vom gleichen Tag hat das SG die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es zur Sprungrevision u.a.: "Die schriftliche Zustimmung des Gegners ist der Revisionsschrift beizufügen".

Die Klägerin hat gegen das Urteil, das ihr und der Beklagten am 5. September 1975 zugestellt worden ist, am 25. September 1975 Revision eingelegt. Sie hat darauf hingewiesen, daß die Revision "nach Zustimmung beider Parteien" durch das SG zugelassen worden sei; Zustimmungserklärungen der übrigen Beteiligten hat sie nicht vorgelegt.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben, festzustellen, daß die Voraussetzungen für die Annahme eines mißglückten Arbeitsversuches im Sinne der Rechtsprechung nicht vorgelegen haben, und die Beklagte zu verurteilen, ihr Ersatz der von ihr hilfsweise gewährten Leistungen zu gewähren.

Auf einen Hinweis des Berichterstatters hat die Beklagte mit einem am 30. Oktober 1975 bei dem Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz vom 29. Oktober 1975 erklärt, sie halte an der vor dem SG abgegebenen Erklärung fest, daß sie mit einer Klärung des Falles durch Sprungrevision einverstanden sei.

Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.

Die fristgerecht eingelegte Sprungrevision ist unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 161 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der am 1. Januar 1975 in Kraft getretenen Fassung des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) nicht vorliegen.

Nach dieser Vorschrift steht den Beteiligten gegen das Urteil eines SG die Revision zu, wenn - abgesehen von weiteren Voraussetzungen - der Gegner schriftlich zustimmt; die Zustimmung des Gegners ist der Revisionsschrift beizufügen.

Ob und unter welchen Voraussetzungen der Beigeladene als "Gegner" anzusehen ist (zur Auslegung des § 161 Abs. 1 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - aF - hat insoweit der Große Senat des BSG den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes angerufen - SozR 1500 § 161 Nr. 1 -), kann dahinstehen. Denn jedenfalls fehlt die formgerechte Zustimmung der Beklagten.

Die schriftliche Zustimmungserklärung der Beklagten ist wirkungslos, weil sie erst am 30. Oktober 1975, also nach Ablauf der Revisionsfrist des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG, bei Gericht eingegangen ist. Die Rechtsprechung hat zwar die Vorschrift des § 161 Abs. 1 Satz 3 SGG (und die entsprechende Bestimmung des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG aF), daß die Zustimmung des Gegners der Revisionsschrift beizufügen ist, dahin erweitert, daß die Erklärung auch auf andere Weise als durch Anlage zur Revisionsschrift eingereicht werden kann, sie hat aber den Eingang bei dem Revisionsgericht innerhalb der Revisionsfrist verlangt (SozR SGG § 161 Nr. 6). Daran ist festzuhalten.

Die am 1. August 1975 von dem Bevollmächtigten der Beklagten vor dem SG mündlich abgegebene und in der Sitzungsniederschrift beurkundete Erklärung, die Beklagte schließe sich dem Zusatzantrag der Klägerin auf Zulassung der Revision an, genügt nicht. Zwar ist die Vorschrift des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG aF ihrem Sinn und Zweck nach auch dann erfüllt, wenn in der Revisionsschrift auf die in den Akten des SG befindliche Urschrift der Zustimmungserklärung verwiesen worden ist und diese Akten noch vor Ablauf der Revisionsfrist beim Revisionsgericht eingegangen sind (BSG, Urteil vom 7. Mai 1975 - 11 RA 198/74 -, NJW 1975, 1944); die Erklärung kann auch vor der Verkündung des angefochtenen Urteils abgegeben sein (BSG 12, 230). Aber die Erklärung der Beklagten war keine Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision. Sie enthält vielmehr die Anregung an das SG, die von einem Antrag unabhängige Zulassung der Revision auszusprechen. Zwischen dieser Anregung und der Zustimmung zur Sprungrevision besteht ein wesentlicher Unterschied, der auch im Wege der Auslegung, für die allerdings nur der in der Erklärung verkörperte Wille und die erkennbaren Umstände der Erklärung in Betracht kommen (Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., § 65 III), nicht beseitigt werden kann. Die erste Erklärung ist auf eine Prozeßhandlung des Gerichts - die Zulassung der Revision -, die zweite auf eine Prozeßhandlung der Partei - die Einlegung der Revision - gerichtet. Die erste bringt dem Erklärenden in erster Linie Vorteile, da sie auf eine Erweiterung der Rechtsmittelmöglichkeiten zielt, die zweite in erster Linie Nachteile, da der Verlust einer weiteren Tatsacheninstanz durch eine dann nicht mehr zu verhindernde Prozeßhandlung des Gegners droht. Ein sachkundiger und vorsichtiger Beteiligter wird deshalb seine Zustimmung zur Sprungrevision erst nach sorgfältiger Prüfung der Gründe des angefochtenen Urteils erteilen. Das gilt auch dann, wenn er nicht so sehr am Obsiegen, sondern eher an der höchstrichterlichen Klärung einer Rechtsfrage interessiert ist; denn eine solche Klärung setzt ausreichende Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil voraus. Deshalb und wegen der besonderen Bedeutung der Rechtsmittelerklärungen für die Rechtssicherheit geht es nicht an, die eindeutige und sinnvolle Anregung der Beklagten auf Zulassung der Revision in eine weitergehende und sie belastende Zustimmung zur Revision des Gegners umzudeuten. Daß die Beklagte selbst in ihrem Schriftsatz vom 29. Oktober 1975 eine solche Umdeutung vornimmt, ist hier ohne Belang.

Nach § 169 SGG war die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655171

NJW 1976, 536

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