Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.07.1999)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Juli 1999 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundessozialgericht zu erstatten.

 

Gründe

Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen (LSG) gerichtete Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, daß die Zulassungsgründe schlüssig dargetan werden (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, 1997, IX, RdNrn 177 und 179 mwN). Diesen Anforderungen an die Begründung hat die Beschwerdeführerin nicht hinreichend Rechnung getragen.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründen – grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abweichung (Divergenz), Verfahrensmangel – zugelassen werden. Die Beklagte macht zunächst eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Diesen Zulassungsgrund (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat sie jedoch nicht schlüssig dargetan, denn sie hat die grundsätzliche Bedeutung nicht aufgezeigt (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG): Entsprechend den Voraussetzungen für das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (vgl Krasney/Udsching, aaO, RdNrn 56 ff) ist zunächst darzulegen, welcher konkreten abstrakten Rechtsfrage in dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, aaO, RdNr 181). Sodann ist darzulegen, daß und inwiefern zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird. Schließlich ist darzutun, daß die vom Beschwerdeführer für grundsätzlich gehaltene Rechtsfrage für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160 Nrn 53 und 54, Krasney/Udsching, aaO, RdNr 63 mwN).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Beklagte hält folgende Fragen für grundsätzlich bedeutsam:

„1. Besteht Versicherungsschutz auch dann, wenn der Versicherte nach einer Unterbrechung des Weges den öffentlichen Verkehrsraum wieder erreicht an einer Stelle, die er bereits zuvor auf seinem Heimweg passiert hat und dadurch einen Teil der Wegstrecke doppelt zurücklegen muß. Gilt dies auch für eine Wegeunterbrechung bzw bei einem Abweg bei Anhalten auf der Autobahn und Verlassen derselben zu eigenwirtschaftlicher Tätigkeit neben der Böschung der Autobahn.

2. Kann bei einem Fußgänger auf der Autobahn eine Handlungstendenz dahingehend ausschlaggebend sein, daß er den Weg von oder zur Arbeit zurücklegen möchte, oder ist nach den Grundsätzen der selbstgeschaffenen Gefahr vom Wegfall des Versicherungsschutzes auszugehen.”

Die Beklagte hat nicht hinreichend dargelegt, inwiefern die von ihr aufgeworfenen Fragen klärungsbedürftig sind. Klärungsbedarf ist ua nicht (mehr) gegeben, wenn eine Rechtsfrage bereits höchstrichterlich entschieden ist. Dies ist indes bei der ersten Frage der Fall. Der Senat hat bereits entschieden, daß der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Unfallversicherungsschutz auf dem begonnenen und nach § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (bzw nunmehr § 8 Abs 2 Nr 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch) geschützten Heimweg erhalten bleibt, wenn die Handlungstendenz des Versicherten nach einer Unterbrechung des Weges weiterhin auf das Erreichen des Zieles (regelmäßig die Wohnung) gerichtet ist, also nicht durch eine andere Handlungstendenz – etwa die der Umkehr – ersetzt wurde (stellvertretend BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 14). Diesen Grundsatz hat der Senat nicht auf bestimmte Verkehrsarten und -wege begrenzt. Die Beklagte hat nicht hinreichend dargelegt, aus welchen Gründen die von ihr gestellte Frage nicht mit dieser Rechtsprechung zu beantworten sei und insbesondere für Unfälle auf einzelnen Verkehrswegen – hier Autobahnen – jeweils eigene höchstrichterliche Entscheidungen erforderlich sein sollen.

Bei der zweiten Frage ist zunächst nicht ersichtlich und von der Beklagten nicht dargelegt, inwiefern sich die behauptete Alternative zwischen der Maßgeblichkeit der Handlungstendenz und dem Wegfall des Unfallversicherungsschutzes aufgrund einer selbstgeschaffenen Gefahr bei dem Unfall eines Fußgängers auf der Autobahn überhaupt als Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ergeben kann, da es sich um verschiedene Aspekte für das Bestehen von Unfallversicherungsschutz handelt, die jeweils im Einzelfall – hier dem eines Fußgängers auf der Autobahn – zu berücksichtigen sind und nicht zwingend einander ausschließen. Die beiden angesprochenen Aspekte sind indes durch die Rechtsprechung des BSG längst geklärt. Daß bei Fehlen der durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigten Handlungstendenz ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit – etwa dem Zurücklegen des Heimweges – nicht gegeben ist und damit der Unfallversicherungsschutz entfällt, ist ständige Rechtsprechung des Senats (stellvertretend BSG SozR 3-2200 § 550 Nrn 4, 14). Den Begriff der „selbstgeschaffenen Gefahr” hat das BSG stets eng ausgelegt und nur mit größter Zurückhaltung angewendet. Einen Rechtssatz des Inhalts, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich bewußt einer höheren Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, gibt es danach nicht; auch leichtsinniges unbedachtes Verhalten beseitigt den bestehenden inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit nicht. Dies ist vielmehr nur ausnahmsweise dann der Fall, wenn ein Beschäftigter sich derart sorglos und unvernünftig verhält, daß für den Eintritt des Arbeitsunfalls nicht mehr die versicherte Tätigkeit, sondern die selbstgeschaffene Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist (vgl BSGE 42, 129, 133 = SozR 2200 § 548 Nr 22). Dabei hat das BSG klargestellt, daß ein solches Verhalten den Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nie ausschließt, wenn der Versicherte ausschließlich betriebliche Zwecke verfolgt, die selbstgeschaffene Gefahr also erst dann Bedeutung bekommt, wenn ihr betriebsfremde Motive zugrunde liegen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 93 mwN). Wann eine solche selbstgeschaffene Gefahr dazu führt, daß die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist, muß im Einzelfall wertend entschieden werden. Die Beklagte hat nicht dargelegt, inwiefern durch den Umstand, daß sich der Unfall auf der Autobahn abspielte, weiterer Klärungsbedarf hinsichtlich eines dieser Aspekte des Unfallversicherungsschutzes offenbar geworden sei.

Die Rüge der Beschwerdeführerin, das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG; Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) verletzt, kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Die genannten Vorschriften sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung oder Tatsachenfeststellungen beruht, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dementsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich nur auf erhebliche Tatsachen, die den Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte. Ein Hinweis ist nur dann geboten, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte.

Solche Gesichtspunkte hat die Beklagte indes nicht schlüssig dargelegt. Ihr Vorbringen, das LSG habe sie pflichtwidrig nicht darauf hingewiesen, daß es davon ausgehe, daß „ein alkoholtypisches Fehlverhalten nicht besteht”, reicht dafür nicht aus. Zunächst mangelt es an einer Darlegung, woraus sich diese – so jedenfalls dem Berufungsurteil nicht wörtlich zu entnehmende – Feststellung des LSG ergeben soll. Weiter hat die Beschwerdeführerin nicht im einzelnen dargetan, inwiefern neue, ihr bisher nicht bekannte Tatsachen oder Rechtsauffassungen, mit denen sie auch bei gewissenhafter Aufbereitung des Streitstoffs und der einschlägigen Rechtsprechung nicht hätte rechnen müssen, zu dieser von ihr beanstandeten Feststellung des LSG geführt haben sollen. Diese Rüge zielt im Kern auf die Beweiswürdigung durch das LSG. Derartige Rügen können jedoch nicht zur Zulassung der Revision führen, denn § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG schließt es ausdrücklich aus, die Nichtzulassungsbeschwerde auf Fehler der Beweiswürdigung iS des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zu stützen.

Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175447

SozSi 2001, 323

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