Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmängel. Grundsatz des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt, daß das Gericht seiner Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde legt, zu denen die Parteien Gelegenheit hatten, Stellung zu nehmen.

2. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs führt dann nicht zur Aufhebung der Entscheidung, wenn der betroffene Verfahrensbeteiligte die vorhandenen prozessualen Möglichkeiten, sich das rechtliche Gehör zu verschaffen, nicht ausgeschöpft hat.

 

Orientierungssatz

Wenn der Kläger nach eigenem Vortrag nicht die Genehmigung der Landesärztekammer zur Führung der Bezeichnung "Cardiologie" besitzt, ist das Gericht nicht verpflichtet, über die Qualifikation des Klägers weitere Ermittlungen anzustellen; es kann ihn zutreffend mit anderen Internisten vergleichen.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 05.12.1973; Aktenzeichen L 7 Ka 177/72)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1973 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist als Internist zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen und an der ersatzkassenärztlichen Versorgung beteiligt. Seine Honorarberechnungen für die Quartale IV 1967, I, III und IV 1968, I, III und IV 1969 sowie I und II 1970 wurden von den Prüfungsinstanzen der Beklagten teils für den Bereich der RVO-Kassen, teils für den Bereich der Ersatzkassen gekürzt. Die jeweiligen Widersprüche des Klägers blieben ohne Erfolg.

Die dagegen erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Main) zu zwei Verfahren verbunden und durch Urteile vom 12. Januar 1972 abgewiesen. Die Berufungen des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und durch ein aufgrund mündlicher Verhandlung ergangenes Urteil vom 5. Dezember 1973 zurückgewiesen. Es hat die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers daraus erschlossen, daß er in den 11 geprüften Quartalsabrechnungen den vergleichbaren Fachgruppendurchschnitt der Internisten in W. um 32 % bis 90 % überschritten habe. Soweit eine Überschreitung der Durchschnittswerte um weniger als 40 % vorliege - das komme für zwei Quartale in Betracht - sei die Unwirtschaftlichkeit zudem durch nicht zu beanstandende Einzelfallprüfungen erhärtet. Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, als Kardiologe behandelt zu werden, da ihm die Führung dieser Fachgebietsbezeichnung nicht genehmigt worden sei. Seine kardiologische Erfahrung und Betätigung werde als Praxisbesonderheit berücksichtigt. Ihr sei durch die Zubilligung eines 3-fachen Satzes an EKG-Diagnostik ausreichend Rechnung getragen worden. Der Kläger könne sich auch nicht auf Einsparungen berufen; diese seien nur bei Kausalität zwischen dem Mehr- und dem Minderaufwand beachtlich, der jedoch nicht schon vermutet werden könne. Zu diesem Punkt habe der Kläger keine substantiierten Behauptungen vorgetragen und das sachkundige Gericht habe sie auch nicht feststellen können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die nicht zugelassene Revision des Klägers. Er rügt zunächst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die mündliche Verhandlung vor dem LSG habe nur 1 1/4 Stunden gedauert. Diese Zeitspanne sei für den umfangreichen Prozeßstoff zu kurz und der Kläger sei insofern nicht hinreichend zu Wort gekommen, als er unter Zeitdruck gestanden habe. Aus diesem Grunde habe ihm das LSG auch unzutreffenderweise die Eigenschaft eines Kardiologen abgesprochen. Weiterhin habe das LSG dadurch gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen, da es die von der Beigeladenen vorgelegten Zahlen über Krankenhauseinweisungen mit zur Grundlage seines Urteils gemacht habe, obwohl der Kläger sie im Termin sofort bestritten hätte. Der Vorsitzende sei nach § 106 Abs. 1 SGG verpflichtet gewesen, darauf hinzuwirken, daß die Beklagte hinreichendes statistisches Material über die Zahl der Krankenhauseinweisungen vorlege, weil sich daraus die Einsparungen des Klägers hätten erkennen lassen. Diese Verpflichtung habe das LSG verletzt und sei dadurch zu einer falschen Entscheidung gelangt. Schließlich habe das LSG auch gegen § 103 SGG verstoßen, weil es die Zahl der von Fachkollegen vorgenommenen Krankenhauseinweisungen nicht ermittelt habe, sonst hätte es die besondere Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers erkannt.

Die Revision des Klägers ist nicht zulässig. Ihre Zulässigkeit bestimmt sich nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung (SGG aF), weil das angefochtene Urteil vor dem 31. Dezember 1974 verkündet worden ist (Art. III und IV des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 - BGBl I, 1625). Die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG iVm § 164 Abs. 2 SGG aF sind jedoch nicht erfüllt.

Bei der Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG auszugehen (BSG 2, 84). Das LSG hat die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers aus einem statistischen Vergleich seiner Honoraranforderungen mit der anderer W. Internisten erschlossen. Es hat den Kläger nicht als Kardiologen betrachtet, weil er diese Fachteilgebietsbezeichnung nicht geführt habe, hat ihm jedoch seine kardiologische Erfahrung als Praxisbesonderheit gewertet und insbesondere bei der Abrechnung der Röntgenleistungen berücksichtigt. Da der Kläger selbst vorgetragen hatte, keine Genehmigung der Landesärztekammer zur Führung der Bezeichnung "Kardiologe" zu besitzen, war das LSG bei seiner Rechtsauffassung nicht verpflichtet, über die Qualifikation des Klägers weitere Ermittlungen anzustellen, und es konnte ihn auch zutreffend mit anderen Internisten vergleichen.

Zur Frage kompensationsfähiger Einsparungen hat das LSG die Rechtsauffassung vertreten, daß solche nur dann zu bejahen seien, wenn zwischen dem Mehr- und dem Minderaufwand eine nicht nur auf Vermutungen beruhende Kausalität bestehe. Bei dieser Rechtsauffassung wäre das LSG nur dann zu weiterer Sachaufklärung verpflichtet gewesen, wenn der Kläger Tatsachen behauptet hätte, die zum Nachweis des Kausalzusammenhangs hätten führen können. Das ist indessen nicht der Fall gewesen.

Schließlich hat das LSG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt ausgesprochen, das Grundrecht auf rechtliches Gehör verlange, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war (vgl. BVerfG 5, 22, 24; 6, 12, 14). Es hat aber weiter erklärt, ein Verstoß gegen Art. 103 des Grundgesetzes (GG) führe nicht zur Aufhebung des Urteils, wenn der Verfahrensbeteiligte die vorhandenen prozessualen Möglichkeiten, sich das rechtliche Gehör zu verschaffen, nicht ausgeschöpft habe (BVerfG 5, 9, 11). Der Kläger hat nicht behauptet, daß ihm in der mündlichen Verhandlung das Wort versagt worden sei; wenn er glaubte, durch Zeitdruck in seinen Ausführungen beschränkt worden zu sein, so daß er Wesentliches nicht vorbringen konnte, so hätte er die Möglichkeit gehabt, am Ende der mündlichen Verhandlung entweder die Weiterführung der mündlichen Verhandlung oder deren Vertagung zu beantragen und über sein Begehren einen Gerichtsbeschluß herbeizuführen. Diese ihm verfahrensmäßig zustehenden Möglichkeiten hat der Kläger, wie das Sitzungsprotokoll des LSG erweist, nicht ergriffen. Er kann mithin mit seiner Rüge nicht gehört werden.

Soweit der Kläger § 128 Abs. 2 SGG deshalb als verletzt ansieht, weil das LSG die von dem Beigeladenen zu 1) vorgelegten Zahlen über Krankenhauseinweisungen mit zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht habe, ist seine Rüge unschlüssig. Der Kläger trägt in seiner Revision selbst vor, daß er diese Zahlen im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG bestritten habe; daraus folgt aber, daß ihm die Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich dazu zu äußern. Im übrigen hat das LSG keineswegs - nach der schriftlichen Urteilsbegründung, die maßgebend ist - das vom beigeladenen Landesverband der Ortskrankenkassen über Krankenhauseinweisungen vorgelegte Zahlenmaterial als solches verwertet, sondern darauf abgestellt, daß der Kläger keine konkreten Nachweise über hierbei erzielte Einsparungen vorgelegt habe und daß sich die - zu Gunsten des Klägers unterstellte - geringere Zahl von Krankenhauseinweisungen in einzelnen Quartalen aus dem Krankengut des Klägers erkläre.

Die Behauptung des Klägers schließlich, daß die mündliche Verhandlung vor dem LSG nur pro forma abgehalten worden sei und das Urteil im wesentlichen schon festgestanden habe, vermag ebenfalls keinen wesentlichen Verfahrensmangel zu begründen. Wie der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 26. Juni 1959 eingehend dargelegt hat (vgl. SozR Nr. 133 zu § 162 SGG), bedarf es schon des Vorliegens ganz besonderer Umstände, wenn die Annahme gerechtfertigt sein soll, ein Gericht habe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung unbeachtet gelassen. Das Vorliegen derartiger Umstände hat der Kläger in seiner Revision aber weder erläutert noch unter Beweis gestellt, er hat es vielmehr bei bloßen Vermutungen bewenden lassen.

Da das Verfahren des LSG nicht an wesentlichen Mängeln leidet, ist die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659131

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