Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Beweiswürdigung: volle bzw teilweise Erwerbsminderung. Ablehnung eines Beweisantrags. Untersuchungsmaxime. Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Volle/teilweise Erwerbsminderung - Beweiswürdigung.

2. Im Sozialgerichtsprozess darf ein Beweisantrag auch dann abgelehnt werden, wenn vor dem Hintergrund des Amtsermittlungsprinzips weitere gerichtliche Aufklärung nicht mehr notwendig ist; weitere Aufklärung ist dann nicht mehr notwendig, wenn das Gericht sich bei fehlerfreier Beweiswürdigung eine hinreichende Gewissheit vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache verschafft hat.

3. Eine Pflicht des Gerichts, einen Sachverständigen, der ein schriftliches Gutachten abgegeben hat, ergänzend mündlich zu hören, besteht nur dann, wenn der Sachverhalt noch nicht zweifelsfrei geklärt ist und bestehende Zweifel durch schriftliche Nachfragen nur unzulänglich geklärt werden können.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 09.12.2010; Aktenzeichen B 13 R 170/10 B)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 14. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Das Berufungsverfahren betrifft die Frage, ob der Klägerin eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zusteht.

Die 58-jährige Klägerin besitzt eine abgeschlossene Ausbildung als Fachlehrerin sowie den Grad eines Magister Artium (Fächer Pädagogik, Psychologie, Soziologie). Im Februar 1991 beendete sie eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau Reisevermittlung/Reiseveranstaltung mit Erfolg. In ihrer beruflichen Praxis arbeitete die Klägerin bei verschiedenen Arbeitgebern zumeist in der Tourismusbranche, insbesondere als Reiseleiterin. In jüngerer Zeit war sie von 01.04.2000 bis 31.10.2002 (mit Unterbrechung November 2001 bis März 2002) als Reiseleiterin auf der Grundlage eines befristeten Vertrags beschäftigt (A. GmbH). Von 01.09.2004 bis 31.08.2005 (befristeter Vertrag) arbeitete sie halbtags als Justizangestellte, wobei sie als Vorlesekraft für einen blinden Mitarbeiter fungierte.

Gesundheitliche Probleme hat die Klägerin hauptsächlich am Stütz- und Bewegungsapparat. Im Dezember 2008 wurde sie am linken Unterarm operiert. Der aktuelle Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht beträgt 50.

Am 10.07.1998 beantragte die Klägerin erstmals eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die damals zuständige Seekasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15.10.1998 ab, weil sie weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit sah.

Am 06.04.2006 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte eine Arbeitgeberauskunft bei der A. GmbH ein. Unter dem Datum 01.02.2007 gab diese an, die Arbeit habe die Begleitung von Gästen auf Tagesausflügen, die Buchung von Führungen am Zielort sowie Erklärungen zu den Sehenswürdigkeiten entlang der Route umfasst. Ein Ungelernter benötige eine Anlernzeit von zwei Wochen. Erforderlich sei lediglich das Sprechen einer Fremdsprache. Des Weiteren zog die Beklagte auch eine Arbeitgeberauskunft des OLG A-Stadt bei (Datum 07.02.2007).

Des Weiteren führte die Beklagte diverse medizinische Ermittlungen durch. So ließ sie die Klägerin vom Internisten und Sozialmediziner Dr. S. begutachten. Die internistischen Gesundheitsstörungen, so der Arzt in seinem Gutachten vom 19.03.2007, würden die Leistungsfähigkeit der Klägerin nur geringfügig beeinträchtigen. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten seien mindestens sechs Stunden täglich unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes möglich. Weiter erstellte die Orthopädin Dr. W. ein auf den 25.03.2007 datiertes Gutachten. Sie kam zum Schluss, leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten seien unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich möglich. Schließlich wurde die Klägerin vom Psychiater Dr. G. begutachtet (Gutachten vom 12.04.2007). Dieser stellte eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fest.

Auf dieser Basis lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 04.06.2007 ab. Weder, so die Beklagte zur Begründung, sei eine Erwerbsminderung im Sinn von § 43 SGB VI noch Berufsunfähigkeit gegeben. Sie ging vom Hauptberuf "Justizangestellte" aus; der Gesundheitszustand der Klägerin lasse es zu, diesen weiterhin mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Mit Schreiben vom 11.06.2007 legte die Klägerin Widerspruch ein. Diesen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.08.2007 als unbegründet zurück.

Am 30.08.2007 hat die Klägerin beim Sozialgericht München Klage erhoben. In der Klageschrift hat sie darauf hingewiesen, "bisheriger Beruf" im Sinn von § 240 SGB VI sei der der Reiseleiterin.

Das Sozialgericht hat drei medizinische Gutachten eingeholt. Der Internist W. M. (Gutachten vom 15.11.2007) hat hinsichtlich der Lu...

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