Der Bundespräsident hat Zweifel am Gesetz zur Wiederaufnahme von Mordverfahren
Der DAV hatte sich entschieden gegen die se Reform ausgesprochen und auch die Bundesjustizministerin musste man "zum Jagen tragen". Aber bereits im Koalitionsvertrag hatten die damaligen Koalitionsparteien vereinbart, die Wiederaufnahmemöglichkeiten von rechtskräftig durch Freispruch abgeschlossenen Verfahren für nicht der Verjährung unterliegende Straftaten – also Mord und Völkermord - zu erweitern. Medien griffen das Thema teils reißerisch auf und befeuerten den Reformdruck.
Rechtsempfinden der Bevölkerung als Begründung der Reform
Mit der Reform soll, so die damalige Bundesregierung, dem Rechtsempfinden der Bevölkerung Rechnung getragen werden. Durch die Justizgeschichte der letzten Jahrzehnte geistern einige Mordfälle, in denen es zu spektakulären Freisprüchen gekommen war, weil den Angeklagten die Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Inzwischen bietet insbesondere die immer weiter verfeinerte Technik der DNA-Analyse nicht selten die Möglichkeit, den Tatnachweis nachträglich zu erbringen. Die Medien greifen diese Fälle immer gerne auf, so wenn Eltern die Tötung eines Kindes zu beklagen haben und der verdächtige Angeklagte mangels Beweises freigesprochen wurde.
Was ist genau der Inhalt der Wiederaufnahme-Reform?
Um dem Rechtsempfinden der Bevölkerung besser gerecht zu werden wurden die in § 362 StPO geregelten Wiederaufnahmegründe in der Weise ergänzt, dass
- bei unverjährbaren Taten
- eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen statthaft ist,
- wenn durch neue Beweismittel die Tat nachgewiesen werden kann.
Verfahren sollen neu aufgerollt werden können, wenn z.B. durch nachträgliche DNA-Analysen der Täter sicher überführt werden.
Grundgesetz verbietet zweimalige Verfolgung und Bestrafung einer Tat
Juristisch war die Reform, die die Schwelle für eine nachträgliche Verurteilung eines rechtskräftig Freigesprochenen heruntersetzt, von Anfang an äußerst umstritten. Jurastudenten lernen bereits im ersten Semester den aus dem römischen Recht stammenden Grundsatz
„Ne bis in idem“,
( „nicht zweimal in der selben Sache“). D. h. niemand darf zweimal für das gleiche Verbrechen bestraft werden. Dieser Grundsatz hat sich über die Jahrhunderte durchgesetzt und findet sich heute in Art. 103 Abs. 3 GG wieder. Nach der ganz herrschenden Meinung verbietet dieser Verfassungsgrundsatz nicht nur eine zweifache Bestrafung für die gleiche Tat, sondern er bezieht auch die zweimalige Tatverfolgung wegen der gleichen Tat mit ein.
Bundespräsident greift Bedenken der Kritiker gegen Wiederaufnahme auf
Der Bundespräsident teilt offensichtlich die Bedenken der Kritiker. In einem Brief an die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, an Bundeskanzler Olaf Scholz und an Bundesratspräsident Bodo Ramelow regt der Bundespräsident an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen.
Verletzung des Rückwirkungsverbots
Zweifel hat der Bundespräsident nicht nur wegen einer möglichen Verletzung des Grundsatzes „ne bis in idem“, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Reform hat er auch wegen einer möglichen Verletzung des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Rückwirkungsverbotes. Nach einer Pressemitteilung des Präsidialamtes beanstandet Steinmeier, dass rechtskräftig freigesprochene Personen künftig in die Situation geraten können, dass „ihr Freispruch nachträglich in einen Schwebezustand“ gerate und rechtskräftige Urteile rückwirkend substantiell in Frage gestellt würden.
Verbot der Zweifachbestrafung muss im Kern erhalten bleiben
Hinsichtlich der grundgesetzlichen Garantie des Art. 103 Abs. 3 GG, die rechtskräftig freigesprochenen Täter vor erneuter Verfolgung und Bestrafung wegen derselben Tat schützt, lässt das BVerfG nach Auslegung des Bundespräsidenten lediglich sogenannte „Grenzkorrekturen“ zu. Hiernach seien einfachgesetzliche Bestimmungen zur Herstellung materieller Gerechtigkeit, die diesen verfassungsrechtlichen Schutz vor erneuter Strafverfolgung tangieren, nur im Marginalbereich dieses Schutzzweckes zulässig und dürften keinesfalls den Kernbereich dieser Verfassungsgarantie aushebeln.
Bundespräsident sieht Kernbereich verfassungsrechtlicher Garantien in Gefahr
Der Bundespräsident befürchtet, dass die vom Gesetzgeber mit der Reform eingeführte Ausweitung der Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO über eine lediglich marginale Einschränkung des Verbots der Mehrfachverfolgung insoweit hinausgehen könnte, als mit der Neuregelung das von der Verfassung geschützte Vertrauen in den Bestand eines rechtskräftigen Freispruchs möglicherweise in seinem Kern verletzt werde.
Gesetzesausfertigung nicht versagt
Das Präsidialamt betont in seiner Mitteilung, dass der Bundespräsident zwar diese erheblichen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes habe, gleichwohl aber zu keiner abschließenden Beurteilung der Frage der Verfassungswidrigkeit des beschlossenen Gesetzes gekommen sei. Aus diesem Grunde habe Steinmeier das Gesetz unterzeichnet und die Ausfertigung nicht versagt. Er bitte lediglich um eine erneute parlamentarische Prüfung und Beratung unter besonderer Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Bedenken.
Union warnt vor Rückabwicklung der Reform
Seitens der Union wurde die Ampelkoalition bereits davor gewarnt, das Gesetz zurückzunehmen. Die maßgeblichen Rechtspolitiker der Union haben keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes.
Europäische Regelungen zur Wideraufnahme nach Freispruch sind unterschiedlich
Bereits Anfang des Jahres 2019 hatte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages zur Vorbereitung einer Reform eine Übersicht über die Wiederaufnahmemöglichkeiten eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zu Ungunsten des Angeklagten im - vorwiegend europäischen - Ausland erstellt und dabei festgestellt, dass in 11 von 21 untersuchten Ländern eine Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten eines Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen möglich ist, in 10 Staaten ist die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten pauschal ausgeschlossen.
- Dabei ist die Wiederaufnahme insbesondere in den skandinavischen Ländern Dänemark, Finnland, Schweden tendenziell möglich,
- in den Ländern des Mittelmeerraumes wie Spanien, Frankreich Slowenien und Kroatien und auch in Belgien ist die Wiederaufnahme ausgeschlossen.
- In den mittel- und osteuropäischen Ländern sind die Regelungen unterschiedlich.
Führt die Reform zu mehr Rechtsunsicherheit?
Kritiker merken an, dass die Reform zu umfangreichen Versuchen führen kann, mit dem Mittel der DNA-Analyse einige ungeklärte Mordfälle im Nachhinein einer Klärung zuzuführen und auf diese Weise rechtskräftige Freisprüche auf Kosten der Rechtssicherheit in Frage zu stellen. In Strafprozessen stelle sich aber immer wieder heraus, dass auch die DNA-Analyse ihre Tücken hat und keinesfalls ein in jedem Fall sicheres Beweismittel für die Überführung eines Täters ist. Es sei daher die Wiedereröffnung von rechtskräftig abgeschlossenen Prozessen zu befürchten, die für die Freigesprochenen eine große, oft langjährige Belastung darstellen und dann im Ergebnis doch wieder nicht zu einer Verurteilung führen.
Keine zivilrechtliche Verjährung mehr bei schwersten, nicht verjährbaren Verbrechen
Mit der Gesetzesreform wurden nicht nur die StPO, sondern auch zivilrechtliche Verjährungsvorschriften geändert. Zivilrechtliche Ansprüche der Opfer schwerster, nicht verjährbarer Verbrechen unterliegen danach nicht mehr wie bisher der absoluten 30-jährigen Verjährungsfrist. In einer begleitenden Entschließung hatte der Bundesrat Bedenken gegen diesen Teil der Reform geäußert. Auch nach dem Tod des Täters oder der Täterin könnten künftig die Erben unbegrenzt mit Ansprüchen der Opfer konfrontiert werden.
BMJV und DAV lehnten die Reform ab
Auch der DAV hat sich von Anfang an klar positioniert und lehnt die Reform als mit der Verfassung unvereinbar ab. Interessant: Auch das BMJV, das von den Koalitionsfraktionen mit der Prüfung einer möglichen Reform beauftragt war, lehnte die Einbringung einer Gesetzesinitiative zunächst ab, wurde deshalb aber medial unter Druck gesetzt..
Keine zivilrechtliche Verjährung mehr bei schwersten, nicht verjährbaren Verbrechen
Zivilrechtliche Ansprüche der Opfer bei schwerster, nicht verjährbarer Verbrechen werden nicht mehr wie bisher nach 30 Jahren verjähren. Das Gesetz soll am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft treten.
BMJV und DAV lehnten die Reform ab
Auch der DAV hat sich klar positioniert und lehnt die Reform als mit der Verfassung unvereinbar ab. Interessant: Auch das BMJV, das von den Koalitionsfraktionen mit der Prüfung einer möglichen Reform beauftragt war, lehnte die Einbringung einer Gesetzesinitiative zunächst ab.
Hintergrund: Ausfertigung von Gesetzen
Gemäß Art. 82 GG werden die vom Parlament beschlossenen und gegebenenfalls vom Bundesrat genehmigten Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Nach herrschender Meinung gewährt diese Vorschrift dem Bundespräsidenten lediglich ein formelles, aber kein inhaltliches Prüfrecht. Der Bundespräsident ist hiernach verpflichtet, Gesetze auch dann auszufertigen, wenn Sie ihm inhaltlich widerstreben.
Verweigerung der Ausfertigung nur bei verfassungsrechtlichen Zweifeln
Die Ausfertigung verweigern darf der Bundespräsident nach herrschender Auffassung einem Gesetz dann, wenn er grundlegende Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit hat. Im konkreten Fall hat Bundespräsident Steinmeier zwar Zweifel an der Verfassungsgemäßheit, diese gingen ihm aber offensichtlich nicht weit genug, um dem Gesetz die Ausfertigung zu versagen.
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