Leitsatz

Auch ein Rechtsanwalt, der Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht ist, darf in der Regel darauf vertrauen, dass die Rechtsmittelbelehrung in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug zutreffend ist.

 

Normenkette

GVG § 72 Abs. 2; WEG § 43 Nr. 1; ZPO § 233

 

Das Problem

  1. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer K verlangt vor dem AG Fulda vom ehemaligen Verwalter der Wohnungseigentumsanlage B die Herausgabe von Unterlagen nach Ende der Verwaltertätigkeit. Die für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichterin weist die Klage ab. In der Rechtsmittelbelehrung bezeichnet sie das LG Fulda als zuständiges Berufungsgericht. Das Urteil wird dem Rechtsanwalt R der K am 30. Oktober 2015 zugestellt.
  2. Mit einem am 25. November 2015 eingegangenen Schriftsatz legt dieser Berufung bei dem LG Fulda ein. Nach einem gerichtlichen Hinweis auf die Unzuständigkeit nimmt er dort am 10. Dezember 2015 die Berufung zurück, legt Berufung bei dem LG Frankfurt am Main ein, beantragt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründet die Berufung. Das LG Frankfurt am Main weist den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwirft die Berufung als unzulässig. Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung sei nicht ursächlich für die Fristversäumung. R sei ein vermeidbarer und nicht entschuldbarer Rechtsirrtum unterlaufen. Die Rechtsmittelbelehrung des Amtsgerichts sei offensichtlich falsch gewesen. Sie hätte den mit der Spezialmaterie des Wohnungseigentumsrechts vertrauten R zu einer weiteren Überprüfung veranlassen müssen. Die in § 72 Abs. 2 GVG vorgesehene besondere Zuständigkeit für Berufungen in Wohnungseigentumssachen gehöre zu den Grundkenntnissen des Verfahrens- und Rechtsmittelrechts.
  3. Dagegen wendet sich K mit der Rechtsbeschwerde. Mit Erfolg!
 

Die Entscheidung

Die bei dem LG Fulda eingelegte Berufung

Die bei dem LG Fulda eingelegte Berufung habe die Frist des § 517 ZPO nicht gewahrt. Zuständiges Berufungsgericht sei nämlich gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG das LG Frankfurt am Main, weil das Verfahren eine Streitigkeit zwischen einer Wohnungseigentümergemeinschaft und einem früheren Verwalter über die Herausgabe von Unterlagen nach Ende der Verwaltertätigkeit betreffe und es sich damit um eine Wohnungseigentumssache gemäß § 43 Nr. 3 WEG handle.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung habe dazu geführt, dass K die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt habe. Aus diesem Grund sei ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO).

  1. Die inhaltlich unzutreffende Rechtsmittelbelehrung sei kausal für die Versäumung der Berufungsfrist. Daran bestehen nach dem tatsächlichen Ablauf keine Zweifel, weil R die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung befolgt habe.
  2. K habe die Frist auch unverschuldet versäumt. Durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung werde ein Vertrauenstatbestand geschaffen, der zur Wiedereinsetzung wegen schuldloser Fristversäumnis berechtige, wenn die Belehrung einen unvermeidbaren oder zumindest entschuldbaren Rechtsirrtum aufseiten der Partei hervorrufe und die Fristversäumnis darauf beruhe. Auch eine anwaltlich vertretene Partei dürfe sich im Grundsatz auf die Richtigkeit einer Belehrung durch das Gericht verlassen, ohne dass es darauf ankomme, ob diese gesetzlich vorgeschrieben sei oder nicht.
  3. Ein Rechtsirrtum sei, unabhängig von seiner Vermeidbarkeit, schon dann entschuldbar, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar sei. Das Berufungsgericht stelle insoweit zu geringe Anforderungen an die Offenkundigkeit der Fehlerhaftigkeit. Offenkundig fehlerhaft sei eine Rechtsmittelbelehrung nur dann, wenn sie – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermocht habe.
  4. Ein Rechtsanwalt unterliege in aller Regel einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlege. Denn eine solche Rechtsmittelbelehrung sei regelmäßig nicht offenkundig in einer Weise fehlerhaft, dass sie – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermöge. Die Zuständigkeit des Berufungsgerichts in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug hänge nämlich von 2 Unwägbarkeiten ab. Zum einen sei nach § 72 Abs. 2 Satz 2 GVG nicht zwingend das in § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG genannte Landgericht am Sitz des Oberlandesgerichts für Berufungen in Wohnungseigentumssachen zuständig, weil die Länder durch Rechtsverordnung ein anderes Landgericht bestimmen könnten. Zum anderen trete die Zuständigkeitskonzentration nicht schon dadurch ein, dass der für Wohnungseigentumssachen zuständige Amt...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge