Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Auskunft an den Versicherten. Gefährdung der Aufgabenerfüllung. Nachrangigkeit des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Datenaustausch mit Pflegekasse

 

Orientierungssatz

1. Eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung iS des § 83 Abs 4 Nr 1 SGB 10 ist anzunehmen, wenn der Aufwand für die Auskunftserteilung Personal und Sachmittel der verantwortlichen Stelle (hier: Krankenkasse) derart beanspruchen würde, dass andere Bürger bzw Versicherte durch Nichtbearbeitung ihrer Anliegen Rechtsnachteile erleiden würden und dies durch das Interesse des Auskunftsbegehrenden nicht gerechtfertigt wäre oder wenn das Auskunftsrecht missbräuchlich geltend gemacht wird. Bei der in diesem Rahmen gebotenen Abwägung zwischen dem grundrechtlich gesicherten Recht eines Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung und des von ihm geltend gemachten Informationsinteresses einerseits sowie dem öffentlichen Interesse an einer ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung der Behörde andererseits muss sein Interesse an der Erteilung der begehrten Auskünfte zurücktreten.

2. Wegen der Organidentität zwischen Kranken- und Pflegekasse ist ein Datenaustausch grundsätzlich notwendig und zulässig (vgl ua LSG Mainz vom 8.11.2007 - L 5 KR 78/07).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 13.11.2012; Aktenzeichen B 1 KR 13/12 R)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 31.7.2008 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin 1/3 ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erteilung von Auskünften.

Mit Schreiben vom 25.7.2005 beantragte die Klägerin "die Herausgabe aller Datenweitergaben (Brief, Telefax, E-Mail, Telefon usw.) der AOK-Krankenkasse an Dritte, in Kopie", soweit sie die Klägerin betreffen oder Aussagen über diese enthalten, soweit ihr solche Kopien nicht bereits übersandt worden seien. Zur Begründung führte die Klägerin aus, sie habe festgestellt, dass die Beklagte sie (die Klägerin) betreffende medizinische Daten über das Internet versandt habe. Das Internet sei weitestgehend öffentlich. Weiter seien medizinische Daten ohne gesetzliche Erlaubnis an die Stadtverwaltung K       und an die "Bundesanstalt für Angestellte" weitergegeben worden. Es bestehe der Verdacht strafbarer Handlungen nach § 85 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Die Beklagte reagierte hierauf nicht.

Mit Schreiben vom 7.10.2005 beantragte die Klägerin "Auskunft über die im letzten Geschäftsjahr in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten". Mit Schreiben vom 17.11.2005 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe diesen Antrag nach § 305 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) an die Kassenärztliche Vereinigung weitergeleitet. Diese benötige für eine entsprechende Auswertung die Namen der Ärzte, bei denen die Klägerin im Jahr 2004 in Behandlung gewesen sei. Die Klägerin antwortete, es gebe Leistungen, die die Beklagte direkt angeben könne; Daten über Behandlungen werde sie nicht mitteilen; bei ordnungsgemäßer Geschäftsführung müsse die Kassenärztliche Vereinigung die Daten auch so angeben können. Die Beklagte reagierte hierauf nicht.

Am 9.11.2005 hat die Klägerin Klage erhoben u.a. mit den Anträgen,

1.

die Beklagte zu verpflichten, unverzüglich ihren Antrag vom 25.7.2005 (= Antrag auf Herausgabe von Datenweitergaben) gesetzeskonform zu bescheiden;

2.

die Beklagte zu verpflichten, unverzüglich den Antrag vom 29.9.2005 (= Antrag auf Erklärung zur Informationellen Selbstbestimmung) gesetzeskonform zu bescheiden,

3.

die Beklagte zu verpflichten, unverzüglich den Antrag vom 7.10.2005 (= Antrag auf Auskunft über Leistungen) gesetzeskonform zu bescheiden.

Zur Begründung hat die Klägerin ausgeführt, da die Beklagte keine Bescheide erteilt habe, sei Klage geboten. Die Verpflichtung der Beklagten zur Auskunft gemäß dem Klageantrag 1 ergebe sich aus § 83 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Briefe, Telefaxe und E-Mails würden bei der Beklagten mit Computern geschrieben. Es könne daher kein Problem sein, diese Daten herauszugeben. Bei Telefonaten gebe es keinen Grund, nicht zu jedem Gespräch eine Aktennotiz zu fertigen. Bei dem Klageantrag 2 gehe es darum, dass nach § 96 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) Daten nur dann von der Beklagten und deren Pflegekasse gespeichert werden dürfen, wenn dies für beide Stellen erforderlich sei. Soweit die Beklagte den im Klageantrag 2 genannten Antrag nicht zuordnen könne, beruhe dies auf der Unfähigkeit der Beklagten. Die Klage beziehe sich insoweit auf folgende Formulierung im Antrag: "Ich erwarte umgehend eine schriftliche Erklärung, wieso Frau A   Daten zwischen Kranken- und Pflegekasse austauscht und damit das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung meiner Tochter missachtet." Bei dem Klageantrag 3 ergebe sich der Auskunftsanspruch aus § 305 Abs. 1 Satz 1 SGB V, weitere Angaben hierzu seien nicht erforderlich. Für die Bearbeitung der Anträge gel...

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