Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Berufungsbegründung. Kein Arbeitsangebot bei einseitiger unwiderruflicher Freistellung. Unzumutbarkeit der Beschäftigung einer nicht geimpften Pflegekraft in einem Seniorenzentrum während der Pandemie. Keine Ausnahme vom Impferfordernis bei Bestandskräften

 

Leitsatz (amtlich)

Sind die tatsächlichen Tätigkeitsvoraussetzungen gemäß § 20a Abs. 1 IfSG objektiv nicht gegeben und keine Abwägungsgesichtspunkte ersichtlich, die im Rahmen der Ermessensausübung gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ausgehend vom Zweck dieser Bestimmung zu Gunsten der Arbeitnehmerin streiten, ist der Arbeitgeberin die tatsächliche Beschäftigung der Arbeitnehmerin - hier einer Alltaghelferin in einem Seniorenzentrum - aus den übergeordneten Gründen des Schutzes der vulnerablen Personen in der Einrichtung der Beklagten unzumutbar und der Vergütungsanspruch entfällt. Daran ändert der Umstand, dass das Gesundheitsamt gegenüber der Klägerin erst ab dem 01.09.2022 ein Tätigkeitsverbot aussprach, ebenso nichts wie der Aspekt, dass es sich um eine Bestandsarbeitnehmerin handelt.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsbegründung die Erklärung beinhalten, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderungen des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge). Durch die Vorschrift soll der Berufungskläger im Interesse der Beschleunigung des Berufungsverfahrens dazu angehalten werden, sich eindeutig über Umfang und Ziel seines Rechtsmittels zu erklären und Berufungsgericht sowie Prozessgegner über Umfang und Inhalt seiner Angriffe möglichst schnell und zuverlässig ins Bild setzen.

2. In einer einseitigen Freistellungserklärung ist regelmäßig die Erklärung zu sehen, die Annahme der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsleistung werde abgelehnt. Durch diese Erklärung gerät der Arbeitgeber gemäß § 293 BGB in Annahmeverzug. Es bedarf regelmäßig keines Arbeitsangebots des Arbeitnehmers, weil der Arbeitgeber mit der Freistellung erkennen lässt, unter keinen Umständen zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bereit zu sein.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 12 Abs. 1; ArbGG § 64 Abs. 6 S. 1; BGB §§ 242, 611a Abs. 2, § 615 Sätze 1-2; EFZG § 3 Abs. 1; IfSG § 20a Abs. 1, 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 4, Abs. 5 S. 3; SGB IV § 7 Abs. 3 S. 1; ZPO § 256 Abs. 1, § 520 Abs. 3 S. 2 Nrn. 1-2

 

Verfahrensgang

ArbG Duisburg (Entscheidung vom 08.09.2022; Aktenzeichen 1 Ca 809/22)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg vom 08.09.2022 - 1 Ca 809/22 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten anlässlich der einrichtungsbezogenen Impflicht aus § 20 a IfSG im Wesentlichen über Vergütungsansprüche aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs und das Bestehen von Urlaubsansprüchen.

Die am 10.03.1958 geborene Klägerin war bei der Beklagten seit dem 01.01.2009 gegen ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von 1.200,00 Euro, das zum Monatsletzten zur Zahlung fällig war, in Teilzeit als Alltagsbegleiterin im F.-Seniorenzentrum in E. beschäftigt. Dort übernahm sie betreuerische Aufgaben, wie das Angebot gemeinsamer Spiele und gemeinsames Singen, sowie hauswirtschaftliche Tätigkeiten, z.B. die Bereitstellung von Mahlzeiten. Auf die Funktions- und Tätigkeitsbeschreibung des Arbeitsplatzes der Klägerin gemäß Anlage B 1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.08.2022 wird insoweit Bezug genommen. Ob die Klägerin auch die in dieser Beschreibung dargestellten pflegerischen Aufgaben ausübte, ist zwischen den Parteien streitig.

Die Klägerin war nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV2 geimpft. Sie verfügte weder über einen Genesenennachweis, noch über eine ärztliche Bescheinigung, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV2 geimpft werden konnte. Dies meldete die Beklagte dem zuständigen Gesundheitsamt Duisburg nach Maßgabe von § 20 a Abs. 2 Satz 2 IfSG.

In der Zeit vom 16.03.2022 bis zum 29.03.2022 beschäftigte die Beklagte die Klägerin unverändert fort.

Die Einrichtungsleiterin der Beklagten teilte der Klägerin am 29.03.2022 fernmündlich mit, dass sie wegen ihres Impfstatus mit Wirkung ab dem 01.04.2022 unwiderruflich und ohne Zahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt werde. Die Klägerin war ab dem 30.03.2022 bis zum 06.04.2022 arbeitsunfähig erkrankt. Die diesbezügliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ging bei der Beklagten am 31.03.2022 ein. Mit Schreiben vom 31.03.2022, überschrieben mit den Worten "Keine Beschäftigung ohne gültigen Immunitätsnachweis", teilte die Beklagte der Klägerin durch ihren Geschäftsführer I. u.a. Folgendes mit:

"…wie Ihnen bereits mitgeteilt wurde, wird eine weitere Beschäftigung unsererseits ohne einen gültigen Immunitätsnachweis gemäß § 22a Infektionsschutzgesetz (IfSG) unmöglich.

Eine andere Tätigkeit bzw. Tätigkeitsstätte abseits des § 20a Absatz 1 IfSG kann Ihn...

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