Leitsatz (amtlich)
Aus der dem Gericht obliegenden Fürsorgepflicht ergibt sich, dass vor der Verwerfung eines Einspruchs mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von etwa 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten ist. Wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten werde, ist ein weiterer Zeitraum zuzuwarten. Dies gilt unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 15.06.2005; Aktenzeichen 157 PLs 996/05 (531/05 Umw)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 15. Juni 2005 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat die Einsprüche der Betroffenen gegen die Bußgeldbescheide des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin vom 21. März 2005 (jeweils 125,-- Euro Geldbuße wegen Zuwiderhandlung gegen die Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen und über Fachbetriebe (VAwS)) durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil die vom persönlichen Erscheinen nicht entbundenen Betroffenen in der Hauptverhandlung am 15. Juni 2005 trotz ordnungsgemäßer Ladung ausgeblieben waren. Gegen das am 5. Dezember 2005 zugestellte Urteil haben die Betroffenen rechtzeitig auf die Zulassung der Rechtsbeschwerde angetragen (§§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWiG) und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Den Antrag auf Wiedereinsetzung hat das Amtsgericht mit Beschluß vom 5. Januar 2006 als unzulässig verworfen. Die Rechtsbeschwerde wurde durch Beschluß des Senats vom 11. April 2006 zugelassen. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1.
Das Amtsgericht Tiergarten hatte Termin zur Hauptverhandlung auf den 15. Juni 2005, 10.45 Uhr anberaumt. Am Terminstage begaben sich die im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil Lankwitz wohnhaften Betroffenen versehentlich in die im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil Zehlendorf und nicht die im Stadtbezirk Mitte, Ortsteil Tiergarten gelegene Kirchstraße, in der sich die Sitzungssäle der Wirtschaftsabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten befinden. Dieses Amtsgericht ist in Berlin zentral für die Entscheidungen nach § 68 Abs. 1 OWiG zuständig. Gegen 10.15 Uhr trafen sie dort ein. Da der Bußgeldbescheid vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf erlassen war, gingen sie davon aus, daß die in der Ladung bezeichnete Kirchstraße die in Zehlendorf gelegene sei. Dort befindet sich das Rathaus Zehlendorf.
Nachdem sie festgestellt hatten, daß es sich um das falsche Gebäude handelte, riefen sie gegen 10.30 Uhr im Amtsgericht Tiergarten an und teilten mit, daß sie sich aufgrund des Versehens etwas verspäten würden und das Gericht solange warten solle. Als sie kurz nach 11.00 Uhr im Gericht eintrafen, war ihr Einspruch bereits gegen 11.05 Uhr durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen worden.
2.
Das Amtsgericht hat den Einspruch der Betroffenen unter Mißachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens verworfen. Das Urteil verletzt insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht und führt im Ergebnis dazu, die Betroffenen in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör zu beeinträchtigen, da sie sich nicht zur Sache einlassen konnten (vgl. KG NZV 2001, 356, 357, Beschluß vom 29. November 2000 - 3 Ws (B) 513/00 -).
a)
Urteile, durch die ein Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen wird, müssen so begründet sein, daß das Rechtsbeschwerdegericht die für die Verwerfung maßgebenden Erwägungen nachprüfen kann. Hierzu gehört insbesondere, daß im Urteil von dem Betroffenen vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige das Ausbleiben möglicherweise rechtfertigende Tatsachen wiedergegeben werden (Kammergericht, a.a.O., m.w.N.).
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil noch gerecht. Das Gericht hat sich mit der oben dargestellten telefonischen Mitteilung der Betroffenen in den Urteilsgründen zwar kurz aber gerade noch ausreichend auseinandergesetzt. Warum es jedoch "ganz offensichtlich keine ausreichende Entschuldigung für (das) Ausbleiben" ist, daß sich die Betroffenen zur Kirchstraße in Zehlendorf begeben haben, erschließt sich nicht ohne weiteres. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, daß der angefochtene Bußgeldbescheid vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf erlassen worden ist und sich in der dortigen Kirchstraße das Rathaus befindet, wo der Bußgeldbescheid verfaßt worden ist. Es lag demnach für einen rechtsunkundigen Laien nicht völlig fern, daß die Verhandlung über den gegen diesen gerichteten Einspruch ebenfalls in Zehlendorf stattfinden würde.
Unabhängig hiervon war das Ausbleiben der Betroffenen jedoch zunächst (ohne Berücksichtigung ihres Anrufs) nicht ausreichend entschuldigt, da sich aus ...