Rz. 6
Systematisch regelt § 11 nur eine Fallgruppe mittelbarer Schäden. Ein sog. mittelbarer Schaden liegt vor, wenn zu einer ersten Gesundheitsstörung eine weitere hinzutritt, die rechtlich wesentlich durch die anerkannte Unfallfolge mit verursacht ist. Im Gegensatz zur Verschlimmerung eines Schadens, die unproblematisch dem Erstunfall zugehört, tritt ein zweites Unfallereignis hinzu, welches eine nach Identität und Qualität verschiedene, also selbständige Schädigung darstellt. Der Erstunfall muss grundsätzlich ein Versicherungsfall nach § 8 oder § 9 sein. Da immer Anerkennungen eines Versicherungsfalls vorausgegangen sein werden, dürfte die Anscheinsproblematik nach der neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. dazu Rz. 3a) sich in der Praxis allenfalls in Ausnahmefällen auswirken (Ricke, in: BeckOGK, Stand: 15.2.2024, SGB VII, § 11 Rz. 11). Im Hinblick auf die rechtliche Behandlung des Zweitunfalls differenziert die Rechtsprechung des BSG einerseits nach der Art des zweiten Unfalls – Versicherungsfall oder Unfall bei eigenwirtschaftlicher Tätigkeit – und andererseits nach der Ursache des Zweitschadens als Folge der Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes (Behinderung) des ersten Arbeitsunfalls oder dem Ausmaß seiner Folgen (vgl. Ricke, a. a. O., Rz. 4).
4 verschiedene Fallgruppen mittelbarer Schäden sind zu unterscheiden:
Beispiele:
- Ein Versicherter erlitt 1995 einen Arbeitsunfall, der zu einer Beinversteifung führte. Im Dezember 2006 brach er sich das rechte Bein, weil er das steife Bein beim Besteigen eines Paternosters im Betrieb nicht schnell genug nachziehen konnte.
- Der Unfall im Dezember geschah beim privaten Einkauf auf einer Rolltreppe.
- Ein Arbeitsunfall eines Versicherten führte 1998 zu einem steifen Armgelenk. Der Versicherte rutscht auf dem Weg ins Büro aus und stürzt eine Treppe hinunter. Er zieht sich schwere Schädelprellungen zu, weil er ein Aufschlagen des Kopfes nicht mit den Händen abfangen konnte.
- Der Treppensturz geschieht in der Privatwohnung.
Rz. 7
Tabellarischer Überblick über die Behandlung nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil v. 24.2.1988, 2 RU 11/87; BSG, Urteil v. 13.7.1978, 8 RU 84/77; abweichend wegen der Besonderheiten der Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Pkw: BSG, Urteil v. 20.5.1992, 9 a RV 28/90):
Erstunfall |
Zweitunfall |
|
Arbeitsunfall/ Berufskrankheit |
Unfall bei eigenwirtschaftlicher Tätigkeit |
Die Schädigung ist kausal für die Entstehung des Zweitunfalls. |
zu 1.: zuständig ist der erste UV-Träger |
zu 2.: zuständig ist der erste UV-Träger* |
Die Schädigung ist kausal nur für das Ausmaß der Folgen des Zweitunfalls. |
zu 3.: zuständig ist der zweite UV-Träger |
zu 4.: zuständig ist der erste UV-Träger |
* Einen Spezialfall dieser Fallgruppe beschreibt § 11 für die genannten Tätigkeiten und die zugehörigen Wege. Die bis zum 31.12.1996 geltende Norm (§ 555 RVO) war 1963 als Korrektur der Rechtsprechung des BSG (Zusammenfassung der zugrunde liegenden Rechtsprechung: BSG, Urteil v. 30.6.1965, 2 RU 175/63) eingefügt worden, weil das BSG den Versicherungsschutz bei Behandlungen verneint hatte.