Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte geht nicht ohne Bremsspuren oder gar Funkenflug ab. Immer häufiger werden die Fälle, in denen das BVerfG Verfassungsbeschwerden (ohne Begründung!) nicht zur Entscheidung annimmt, um anschließend feststellen zu müssen, dass der EGMR der daraufhin erhobenen Individual- bzw. Menschenrechtsbeschwerde, gegebenenfalls sogar im Rahmen einer Grundsatzentscheidung, stattgegeben hat. Dafür braucht man gar nicht auf die aufsehenerregende "Caroline"-Entscheidung des EGMR von 2004[2] oder diejenige von 2009 zur Sicherungsverwahrung[3] zu rekurrieren, bei denen es wenigstens noch zu einem offenen Schlagabtausch zwischen BVerfG und EGMR gekommen ist. Auch und gerade in der Folge hat es aber in Sachen Folter,[4] überlange Verfahrensdauer,[5] Whistleblowing,[6] Tatprovokation durch verdeckte Ermittler,[7] Dauer der Untersuchungshaft,[8] Unterlassung einer mündlichen Verhandlung im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren[9] oder etwa Entschädigung für Kalksteinvorkommen,[10] um nur einige besonders prominente Beispiele zu nennen, ganz überwiegend verdeckte Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gerichten in Form (regelmäßig nicht begründeter) Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG einerseits und stattgebender Urteile des EGMR andererseits gegeben. Dies hat erst unlängst den Hamburger Ordinarius Jürgen Schwabe aufgrund einer überschlägigen Berechnung zu einem aufgebrachten Zwischenruf wie folgt veranlasst:

Zitat

"Dass […] in über 100 in Straßburg erfolgreichen Fällen in Karlsruhe auf “evident unbegründet‘ oder belanglos entschieden wurde, muss starke Zweifel an der Qualität der zugrunde liegenden Voten erwecken. Hier sind Verbesserungen dringend vonnöten".[11]

Auch und gerade das Familienrecht, speziell das Sorge- und Umgangsrecht mit Kindern,[12] ist im Verhältnis von BVerfG und EGMR ein durchaus konfliktträchtiges Feld, und zwar unabhängig davon, dass sich das BVerfG seit den "Görgülü"-Entscheidungen[13] ausdrücklich um Abstimmung oder gar Übereinstimmung mit den Vorgaben des EGMR bemüht.[14] Wie sich das beiderseitige Verhältnis auf diesem Rechtsgebiet in den letzten knapp 15 Jahren entwickelt hat, soll hier nachvollzogen und kritisch gewürdigt werden.[15] Im Fokus stehen dabei diejenigen Verfahren, bei denen es, soweit sich das feststellen lässt, zu gegenläufigen Entscheidungen des BVerfG einerseits und des EGMR andererseits, auf jeden Fall aber zu Verurteilungen von Deutschland durch den EGMR wegen Konventionsverletzungen gekommen ist. Dabei wird, um dies vorwegzunehmen, nicht übersehen, dass es in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle wegen der nach Meinung des EGMR gegebenen Unzulässigkeit/offensichtlichen Unbegründetheit der Individualbeschwerden[16] zu deren Verwerfung kommt; und das gilt auch für diejenigen Individualbeschwerden, die dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat der EMRK gemäß Art. 54 Abs. 2 Buchst. b der Verfahrensordnung des EGMR[17] zuvor deshalb zur Stellungnahme übersandt bzw. zugestellt werden, weil sie begründet sein könnten oder weiterer Aufklärung bedürfen.[18]

Mit dem vorliegenden, verfassungs- bzw. menschenrechtlich orientierten Beitrag soll schließlich, wenn auch leicht verspätet, das 20-jährige Erscheinen der Zeitschrift "Forum Familienrecht" unter seinem unermüdlichen Chefredakteur, Rechtsanwalt Klaus Schnitzler, gewürdigt werden.

[2] EGMR, Urt. v. 24.6.2004, EuGRZ 2004, 404. Dieses erklärte – abweichend vom Urt. d. BVerfG v. 15.12.1999, BVerfGE 101, 361 – die Bildberichterstattung über Prominente jedenfalls dann in Ansehung des Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) für unzulässig, wenn sich die Veröffentlichungen auf das Privatleben des/der Betreffenden beschränkten und damit keinen Beitrag zu einer "Debatte von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse" leisteten. Siehe aber auch nachfolgend EGMR, Urt. v. 7.2.2012, EuGRZ 2012, 278 ("Caroline II").
[3] EGMR, Urt. v. 17.12.2009, EuGRZ 2010, 25: Anders als das BVerfG (Urt. v. 5.2.2004, BVerfGE 109, 133) stufte der EGMR die Sicherungsverwahrung als nach Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht gerechtfertigte Freiheitsentziehung bzw. als "Strafe" ein, deren rückwirkende Einführung gegen das in Art. 7 Abs. 1 EMRK enthaltene Verbot "nulla poena sine lege" verstoße. Als Reaktion hierauf verabschiedete der Bundestag am 2.12.2010 das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung, BGBl I, 2300.
[4] EGMR, Urt. v. 30.6.2008, EuGRZ 2008, 466 sowie EGMR, Urt. v. 1.6.2010, EuGRZ 2010, 417 ("Fall Gäfgen"). Die für den Fall zuständige Kammer des EGMR stufte die Behandlung des Beschwerdeführers während seiner polizeilichen Befragung sogar als "Folter" i.S.d. Art. 3 EMRK ein, während die dagegen angerufene Große Kammer "nur" von einer "unmenschlichen Behandlung" im Sinne der gleichen Bestimmung ausging. Das BVerfG hatte die – ebenfalls auf den Vorwurf der Folter gestützte – Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung des Beschwerdeführers, u.a. wegen Mo...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge