Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff "selbstgeschaffene Gefahr"

 

Leitsatz (amtlich)

Eine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr führt nur dann zur Verneinung des Kausalzusammenhanges zwischen einem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit, wenn dem Verhalten des Versicherten betriebsfremde Motive zugrunde liegen.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "selbstgeschaffene Gefahr":

Keine selbstgeschaffene Gefahr bei Flug in dichtem Nebel.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.11.1980; Aktenzeichen L 17 U 250/77)

SG Köln (Entscheidung vom 18.08.1977; Aktenzeichen S 18 U 81/75)

 

Tatbestand

Die Kläger erstreben die Zahlung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des Todes des Ehemannes der Klägerin zu 1) (W.) am 2. Januar 1972.

Die Klägerin zu 1) ist seit 1961 in der Schweiz - A. /Z.- ansässig. Diesen Wohnsitz behielt sie auch nach ihrer Verehelichung mit W. im März 1968 bei. W. war  bis zu seinem Tode ua Mitgeschäftsführer der Firma T. GmbH u. Co KG in M.. Er bewohnte gewöhnlich ein Haus in M., das auch von dem Unternehmen genutzt wurde. Am 31. Dezember 1971 flog er mit dem firmeneigenen Flugzeug Cessna FR 172 G zu seiner Familie. Auf dem Rückflug vom Flugplatz W.-L- nach J. bei F. verunglückte er tödlich.

An Bord der Maschine befanden sich zwar Funkgeräte, jedoch war sie für den Instrumentenflug nicht zugelassen. W. hatte auch keine Berechtigung zur Ausübung des Flugfunkverkehrs. Beim Start gegen 13.00 Uhr herrschte über dem nördlichen Alpenvorland und über Südbayern eine Föhnlage mit geschlossener Hochnebeldecke in 300 bis 800 Fuß Höhe. Gegen 14.00 Uhr erreichte W. über den Wolken fliegend den Hohenpeißenberg südlich des Ammersees. Nachdem er den wolkenfreien Gipfel mehrfach umflogen hatte, tauchte das Flugzeug in die tieferliegende Wolkendecke ein, streifte ein Gebäude und stürzte ab. An der Unfallstelle herrschte eine Sichtweite von ca 50 m.

Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, der todbringende Flug des W. habe einem privaten Besuch an seinem Zweitwohnsitz und nicht dem Unternehmen gedient (Bescheid vom 24. April 1972).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte nach umfangreicher Beweisaufnahme zur Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung verurteilt und die Berufung gegen das Urteil, soweit sie ausgeschlossen war, zugelassen (Urteil vom 18. August 1977). In den Urteilsgründen heißt es ua, W. habe seine eigentliche Familienwohnung bei seiner Familie in der Schweiz und in M. betriebsbedingt eine Bleibe gehabt; er sei auf dem Weg von dieser Familienwohnung zum Ort seiner Tätigkeit verunglückt.

Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil war erfolgreich. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klagen abgewiesen (Urteil vom 26. November 1980). Zwar neige das Gericht dazu, dem SG zuzustimmen, daß der Lebensmittelpunkt der Familie des W. in der Schweiz gelegen gewesen sei. Die Frage, ob der Verstorbene während seines Fluges von W. nach J. grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat, hat das LSG aber letztlich offengelassen und ausgeführt: Jedenfalls sei der rechtlich wesentliche innere Zusammenhang des Unfallereignisses mit dem versichert zurückgelegten Weg aus dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr verloren gegangen. W. habe in hohem Grade leichtfertig und vernunftwidrig gehandelt. Start, Flug und Landung seien nur nach Sichtflugregeln zulässig und vernünftig gewesen. W. habe die Notwendigkeit unschwer vorausgesehen, über den Wolken zu fliegen und zum Zwecke der Landung die Wolkendecke wieder zu durchstoßen. Damit sei schon der Start in Richtung J. leichtfertig und vernunftwidrig erfolgt. Mit dem Sachverständigen sei davon auszugehen, daß W. am Hohenpeißenberg den Sinkflug habe erzwingen wollen. Dieses Flugverhalten sei besonders gefahrbringend und leichtsinnig gewesen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Auffassung hat W. sich am 2. Januar 1972 auf einem Betriebsweg befunden, weil er in der Familienwohnung auch Betriebsangelegenheiten erledigt hatte. Zumindest sei er auf dem Rückflug von seiner Familienwohnung zum Ort seiner Tätigkeit abgestürzt. Einer selbstgeschaffenen Gefahr sei er dabei nicht erlegen. Das LSG habe die Beweggründe des W. außer acht gelassen. Dieser habe sich den Gefahren des Fluges ausgesetzt, um seiner Tätigkeit als Geschäftsführer in M. nachzugehen. Die betrieblichen Interessen hätten so beherrschend im Vordergrund gestanden, daß eine gewisse Fahrlässigkeit des W. außer Betracht zu bleiben habe. Eine so große Leichtsinnigkeit, wie das LSG sie angenommen habe, habe nicht vorgelegen. Zudem sei W. noch flugunerfahren gewesen und daher einer Fehleinschätzung zum Opfer gefallen.

Die Kläger beantragen, 1. das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1980 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18. August 1977 zurückzuweisen und 2. die Beklagte zur Zahlung von Zinsen in Höhe von 4vH ab 1. Januar 1978 zu verurteilen, 3. hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung hat W. sich am 2. Januar 1972 weder auf einer Familienheimfahrt noch auf einem Betriebsweg befunden. Das LSG habe zutreffend angenommen, daß er jedenfalls einer selbstgeschaffenen Gefahr zum Opfer gefallen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen reichen nicht aus zu entscheiden, ob die geltend gemachten Ansprüche bestehen.

Das LSG ist davon ausgegangen, daß W. nach § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen Arbeitsunfall versichert war. Es hat letztlich offengelassen, ob W. sich am 2. Januar 1972 auf dem Weg von seiner Familienwohnung zu dem Ort seiner Tätigkeit befand (§ 550 Abs 1, 3 RVO). Es hat den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung jedenfalls verneint, weil der Zusammenhang zwischen dem Absturz und der versicherten Tätigkeit aus dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr aufgehoben gewesen sei. Damit hat das LSG im Ansatz zutreffend überprüft, ob die Kausalität zwischen der Tätigkeit des W. als Geschäftsführer und dem mit dem Flugzeug zurückgelegten Weg gegeben war; denn wie schon dem Wortlaut der Vorschrift des § 550 Abs 1 RVO zu entnehmen ist, muß sich der Unfall auf einem mit der verrichteten Tätigkeit "zusammenhängenden" Weg ereignet haben. Diesen Zusammenhang hat das LSG verneint, obwohl das zum Tode führende Flugmanöver ausschließlich dem Zweck diente, den Ort der Tätigkeit zu erreichen. Das entspricht, worauf die Revision zutreffend hinweist, weder dem Gesetzeszweck noch der langjährigen Rechtsprechung zum Ausschluß des Versicherungsschutzes im Falle sogenannter selbstgeschaffener erhöhter Gefahr.

Der Große Senat des Reichsversicherungsamtes (RVA) hat bereits in einer Entscheidung vom 20. Dezember 1919 (AN 1920, 151, 154) zur Frage der Beseitigung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Unfall und der betrieblichen Tätigkeit im Falle schuldhafter Gefahrerhöhung Stellung genommen und ausgeführt: "Nur dann wird die Zurechnung zum Betrieb abzulehnen sein, wenn besondere betriebsfremde Zwecke auf Absicht und Verhalten des Versicherten derart eingewirkt haben, daß die Beziehung jener Tätigkeit zum Betriebe bei der Bewertung der Unfallursachen als unerheblich ausgeschieden werden muß." Diese Auffassung, daß nur betriebsfremde Zwecke, welche eine selbstgeschaffene erhöhte Gefahr herbeigeführt haben, zur Beseitigung des ursächlichen Zusammenhanges zum Unternehmen führen können, hat das RVA beibehalten (vgl zB AN 1926, 485; 1930, 118 Nr 50; EuM 36, 439, 440). Das Bundessozialgericht (BSG) ist ihr von Anfang an gefolgt und hat Versicherungsschutz auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit insoweit nur dann als nicht vorhanden erachtet, wenn "betriebsfremde, eigengeschäftliche Zwecke" zu einer erhöhten Gefahr geführt haben (BSGE 6, 164, 169; SozR § 543 RVO aF Nr 10). Der erkennende Senat hat diese Rechtsprechung in der Folgezeit beibehalten und klargestellt, daß der Begriff der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr mit größter Vorsicht zu handhaben ist und nur eine aus betriebsfremden Motiven selbstgeschaffene Gefahr den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall ausschließt, wenn die selbstgeschaffene Gefahr die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände soweit zurückdrängt, daß sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bilden (vgl zB BSGE 37, 38, 41; Breithaupt 1966, 834, 835, BSG SozR § 542 RVO aF Nr 53, 77, § 548 RVO Nr 31). Auch der 8. Senat hat in diesem Sinne entschieden (vgl zB BSGE 41, 58, 61; 43, 15, 18; SozR 2200 § 548 Nr 26; s. zu dieser Frage mit umfangreichen Nachweisen Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 484 f bis 484 h). Der Grund für diese - soweit ersichtlich nicht angegriffene (vgl aber die zT abweichenden Ausführungen bei Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl, § 542 Anm 3 II g, bb) - Rechtsprechung ist darin zu erblicken, daß bei der Verfolgung betriebsbezogener Zwecke der ursächliche Zusammenhang selbst dann vorhanden ist, wenn der Unfall in hohem Maße selbstverschuldet wird. Der Gesetzgeber hat den Begriff des Arbeitsunfalls in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO unabhängig vom Verschulden des Versicherten festgelegt (vgl auch § 553 RVO). Demzufolge vermag der Grad des Verschuldens des Versicherten an dem Unfallgeschehen den Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit allein nicht zu beseitigen. Vielmehr müssen betriebsfremde Motive für die sogenannte selbstgeschaffene Gefahr vorhanden sein, um den Ursachenzusammenhang aus diesem Grund verneinen zu können. Da auch verbotswidriges Handeln unbeachtlich ist (§ 548 Abs 3 RVO) und W. nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nur von dem Willen bestimmt war, den Ort seiner Tätigkeit zu erreichen, sind Gründe für die Annahme, W. sei einer betriebsfremden selbstgeschaffenen Gefahr erlegen, nicht vorhanden.

Demnach vermochte der Senat nicht abschließend zu entscheiden, ob den Klägern die begehrten Leistungen zustehen. Das LSG hat nämlich keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, ob der Ehemann der Klägerin auf einem sogenannten Betriebsweg verunglückt ist und deshalb gemäß § 548 Abs 1 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat. Das LSG hat auch - aus seiner Sicht folgerichtig - nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit festgestellt ("neigt dazu zuzustimmen"), daß W. sich auf einem Flug von seiner Familienwohnung zur Arbeitsstätte befand (§ 550 Abs 3 RVO). Es wird jedoch bei dieser Prüfung - anders als in dem angefochtenen Urteil - nicht in erster Linie darauf abzustellen haben, ob die Kläger ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt im Unfallzeitpunkt in A. gehabt haben. Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist vielmehr, wie schon der Wortlaut des § 550 Abs 3 RVO zeigt, insoweit wesentlich, ob "der Versicherte", also W., dort seine "ständige Familienwohnung" und in M. lediglich eine "Unterkunft" (s dazu Brackmann aaO § 485v) gehabt hat. Da das BSG die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.

 

Fundstellen

Breith. 1982, 947

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