Leitsatz (amtlich)
1. Zum Begriff der "Leistung" iS SGG § 78 Abs 2 S 1 (Fassung: 1974-07-30) (Anschluß an BSG 1976-12-16 10 RVs 1/76).
2. In Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE nach SchwbG § 3 Abs 1 (Fassung: 1974-04-29) ist ein Vorverfahren nicht zwingend vorgeschrieben (Anschluß an BSG 1976-12-16 10 RVs 1/76).
Leitsatz (redaktionell)
Feststellungen nach SchwbG § 3:
1. Für die Rechtsfolge des SGG § 78 Abs 2 ist nicht die prozessuale Gestaltung der erhobenen Klage wichtig, sondern die Art des geltend gemachten Anspruchs, nämlich ob ein Rechtsanspruch verfolgt oder ob ein Verwaltungshandeln verlangt wird, das dem Ermessen der Behörde überlassen ist. Ferner erfaßt der Begriff der Leistung in SGG § 78 Abs 2 S 1 nicht bloß Leistungen in Geld.
2. Als Leistung iS dieser Vorschrift auf die ein Rechtsanspruch besteht, ist infolgedessen auch die Feststellung einer Behinderung und des Grades einer auf ihr beruhenden MdE (SchwbG § 3 Abs 1) anzusehen (so auch BSG vom 1976-12-16 10 RVs 1/76 = SozR 1500 § 78 Nr 7).
Normenkette
SGG § 78 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30; SchwbG § 3 Abs. 1 Fassung: 1974-04-29
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Juni 1976 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Es ist darüber zu befinden, ob in Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz - SchwbG -) vor Erhebung der Anfechtungsklage ein Vorverfahren stattzufinden hat.
Das Versorgungsamt hatte mit Bescheid vom 6. Mai 1975 als Behinderungen festgestellt:
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1. |
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Verbiegung der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen; |
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Verdauungsinsuffizienz durch Magensäuremangel. |
Der Grad der MdE wurde auf 40 v.H. geschätzt. Mit der Klage verlangte der Kläger die Festsetzung einer höheren MdE, mindestens eine solche von 50 v.H. Die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Sachurteil abgewiesen (Urteil des SG Hildesheim vom 28. Oktober 1975); die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Klage wegen Unzulässigkeit abzuweisen gewesen sei (Urteil des LSG Niedersachsen vom 23.6.1976). Nach Ansicht des Berufungsgerichts fehlt es an einer Sachurteilsvoraussetzung; es hätte das Widerspruchsverfahren durchgeführt werden müssen. Zwar lasse - so das LSG - § 78 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts die Anfechtungsklage auch dann ohne Vorverfahren zu, wenn sie sich gegen einen Verwaltungsakt richte, der eine Leistung betreffe, auf die ein Rechtsanspruch bestehe. Die Erfordernisse dieser Vorschrift seien jedoch nicht erfüllt. Die zu beanspruchende Leistung, von der in § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG die Rede sei, müsse eine Geldleistung sein. Im gegenwärtigen Streitfalle verfolge der Kläger aber keinen Anspruch auf eine Geldleistung, sondern die Feststellung seiner Behinderung. Das Vorverfahren sei nach der Vorstellung des Gesetzgebers nur entbehrlich und dem rechtsuchenden Bürger zur Wahl gestellt, wenn es um die unmittelbare Durchsetzung eines der Existenzsicherung dienenden Rechts gehe. Dann sei dem Kläger ein Zeitverlust, wie er mit dem Vorverfahren verbunden sei, nicht gegen seinen Willen zuzumuten. Ein solcher unmittelbar zu realisierender Anspruch sei aber bei der nach dem SchwbG vorgesehenen Feststellung nicht Streitobjekt.
Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Er meint, für ein Vorverfahren bestehe kein Anlaß mehr, nachdem der Beklagte im Rechtsstreit zu erkennen gegeben habe, daß er seine Sachentscheidung nicht zu ändern gedenke. Außerdem habe sich der Kläger auf die ihm mit dem angefochtenen Bescheid erteilte Rechtsmittelbelehrung verlassen, wonach ihm das Wahlrecht zwischen Klage oder Widerspruch eingeräumt sei. Daß er sich an diese Rechtsmittelbelehrung gehalten habe, dürfe, wenn diese Belehrung falsch sein sollte, nicht zu seinem Nachteil ausschlagen.
Er beantragt,
das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Beklagte schließt sich diesem Antrag an. Er hält es für verfehlt, die Befugnis der Wahl zwischen mehreren Rechtsbehelfen nach § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG auf die Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG zu beschränken; daß der Wortlaut der einen Gesetzesstelle im wesentlichen an der anderen Stelle wiederholt werde, sei kein überzeugendes Argument für die von dem LSG vertretene Auffassung. Maßgeblich müsse vielmehr die Unterscheidung zwischen Anfechtungsklagen sein, die sich mit Rechtsansprüchen befaßten, und solchen, die sich auf Ermessensleistungen bezögen. Das Vorverfahren habe bei letzteren seinen besonderen Sinn, weil dann nicht bloß die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsentschließung zu prüfen sei. Dazu sei nur die Widerspruchsstelle, nicht jedoch das Gericht ermächtigt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Das LSG hätte die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen; es hätte in der Sache selbst entscheiden müssen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob es an der Durchführung des Vorverfahrens überhaupt mangelt. Unterstellt man, daß man im gegenwärtigen Streitfalle von einer solchen Sachurteilsvoraussetzung überhaupt auszugehen hätte, so wäre jedenfalls zu prüfen gewesen, ob in der Klage nicht gleichzeitig der Widerspruch und in dem Klageabweisungsantrag nicht auch der Widerspruchsbescheid zu erblicken waren. Die Ansichten darüber, ob der Widerspruchsbescheid durch die sachliche Einlassung der Behörde im Prozeß zumindest dann ersetzt wird, wenn - wie regelmäßig in der KOV (BSG NJW 1963, 1374) - die Behörde und die Widerspruchsstelle identisch sind, waren vor der Neuordnung des § 78 SGG durch das Änderungsgesetz vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) geteilt (vgl. BSG 20, 199, 200 f m.N.; einerseits: BSGE 8, 3, 10; 19, 164, 167; BSG NJW 1963, 1374; Menger, Verwaltungsarchiv 54, 1963, 402, 403; ders. zurückhaltender: Verwaltungsarchiv 58, 1967, 293; Schumann NJW 1965, 2090; andererseits: BVerwG DBVl 1959, 777; BVerwG NJW 1967, 1976, 1977; BGH NJW 1972, 634, 635; einschränkend: BVerwG, ZLA 1966, 77; Bettermann DVBl 1959, 308, 313; Haueisen NJW 1961, 2329, 2330 f). Hier hätte es indessen für das LSG nahegelegen, wenigstens zu prüfen, ob durch die Neuregelung des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG die Austauschbarkeit von Klage und Widerspruch in großzügiger Weise eröffnet worden ist. In die gleiche Richtung weist die Vorschrift des § 85 Abs. 4 SGG, die in Angelegenheiten der Sozialversicherung die Widerspruchsstelle ermächtigt, den Widerspruch, dem sie nicht stattgeben will, dem zuständigen SG "als Klage" zuzuleiten, wenn der Widerspruchsführer zustimmt. Aus diesen Regelungen könnte ganz generell gefolgert werden, daß bei der Gesetzesanwendung rechtsförmliche und -dogmatische Bedenken gegen eine Umdeutung von Prozeßhandlungen in Vorgänge des Vorverfahrens weitgehend zurückgestellt werden sollen. Deshalb dürfte in einem Falle wie diesem, in dem die Behörde nicht nach ihrem Ermessen zu handeln ermächtigt ist, die Klage auch nicht wegen Fehlens des Vorverfahrens als unzulässig angesehen werden. Für eine solche Lösung spricht der Zweck des Gesetzes (allgemein zum Zweck des Vorverfahrens: Bettermann DVBl 1959, 308, 311; Menger, Verwaltungsarchiv 59, 1968, 181 f). Für die elastisch gestaltete Regelung des § 78 SGG war neben dem öffentlichen Interesse an einer Selbstkontrolle der Verwaltung und an einer Entlastung der Sozialgerichte (Sieb- und Filterfunktion) die Rücksicht auf die Belange und die Einstellung des rechtsschutzsuchenden Bürgers leitend. Seiner Entscheidung sollte es überlassen sein, ob er den Weg des Vorverfahrens beschreiten oder unmittelbar Klage erheben will (Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 7/861 zu Nr. 5; Bericht des zuständigen Bundestagsausschusses, Drucks. 7/2024 Seiten 3, 4). Die Vorstellung des Gesetzgebers läßt die Unterscheidung von Widerspruch und Klage sowie Widerspruchsbescheid und Klageerwiderung in einem weniger strengen Licht erscheinen. Für die volle Tragweite des § 78 Abs. 2 SGG hat sich das LSG - wie zu zeigen ist - durch eine zu restriktive Gesetzesinterpretation den Blick verstellt. Doch wie dem auch sei, auch dann, wenn von einem erhobenen Widerspruch und seiner Bescheidung im Streitfalle nicht auszugehen wäre, kann die Entscheidung des LSG keinen Bestand haben.
Zwar hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt, daß § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG auf Angelegenheiten aus dem Bereich des SchwbG anzuwenden ist. Dies folgt daraus, daß § 3 Abs. 5 Satz 2 (jetzt: § 3 Abs. 6 Satz 2 SchwbG, Fassung gemäß Art. 2 Nr. 1 Buchst. d des 8. AnpG-KOV vom 14.6.1976, BGBl I 1481) für Streitigkeiten über die Feststellung der Schwerbehinderung auf die Vorschriften des SGG für die KOV verweist und somit auch auf § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG Bezug nimmt.
Unrichtig ist dagegen die Auffassung des LSG, diese Vorschrift beschränke sich allein auf Anfechtungsklagen, mit denen die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der den Anspruch auf eine Geldleistung betreffe. Damit ist der Geltungsbereich der Norm zu eng gesehen. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Erfordernis der Anfechtungsklage auch dann erfüllt ist, wenn diese mit einer Leistungs- oder Verpflichtungsklage verbunden ist. Für die Rechtsfolge des § 78 Abs. 2 SGG ist - wie das Bundessozialgericht - BSG - (Urteil vom 16. Dezember 1976 - 10 RVs 1/76) dargelegt hat - nicht die prozessuale Gestaltung der erhobenen Klage wichtig, sondern die Art des geltend gemachten Anspruchs, nämlich ob ein Rechtsanspruch verfolgt oder ob ein Verwaltungshandeln verlangt wird, das dem Ermessen der Behörde überlassen ist. Ferner umfaßt der Begriff der Leistung in § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht bloß Leistungen in Geld. Auch dies ist in dem angeführten Urteil des BSG vom 16. Dezember 1976 im einzelnen ausgeführt worden. Von der Leistung in Geld handelt ausdrücklich § 130 Satz 1 SGG. Sonst wird aber der Ausdruck im SGG (vgl. §§ 144, 147, 149) in einem weiteren Sinn verwendet. In bezug auf das Vorverfahren war das Wort "Leistung" schon früher in einer allgemeineren Bedeutung gebracht worden (§ 79 Nr. 1 SGG a.F.). Daß der Gesetzgeber hieran hätte etwas ändern wollen, ist nicht zu erkennen und von der Zielsetzung der Neuregelung her auch nicht zu unterstellen. Den Gesetzesmaterialien ist ganz allgemein die Absicht zu entnehmen, die Möglichkeit des Vorverfahrens generell auf solchen Gebieten zu eröffnen, auf denen sie bislang verschlossen waren. Dies waren in der Unfallversicherung und in den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten zum Unterschied von den Feststellungen, in denen ein Ermessen der Verwaltung obwaltet, schlechthin die Streitigkeiten über Rechtsansprüche. Dazu verlautet im Bericht des Bundestagsausschusses (Drucks. 7/2024 S. 3): "Das Vorverfahren wird für alle Bereiche eingeführt". Eine Einschränkung dahin, daß die Wahl zwischen der Einlegung des Widerspruchs und der unmittelbaren Klageerhebung nur dort gewollt sei, wo das direkte Prozeßziel die finanzielle Unterhaltssicherung sei, ist während der Gesetzesberatungen ersichtlich nicht geäußert worden. Als eine Leistung i.S. des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ist infolgedessen auch die Feststellung einer Behinderung und des Grades einer auf ihr beruhenden MdE (§ 3 Abs. 1 SchwbG) anzusehen.
Deshalb konnte der Bescheid des Versorgungsamtes vom 6. Mai 1975 wahlweise mit dem Widerspruch oder mit der Klage angefochten werden. Ein Vorverfahren war nicht zwingende Sachurteilsvoraussetzung. Die Entscheidung des LSG, die von einer anderen Rechtsauffassung getragen wird, ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist an die Vorinstanz zurückzuverweisen, damit die Entscheidung in der Sache selbst nachgeholt werden kann.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen