Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattung von Fahrkosten. akzessorische Nebenleistungen. Reisekosten bei ärztlicher Behandlung
Orientierungssatz
1. Eine bescheidmäßig oder durch Anerkenntnis übernommene Hauptleistung iS der Versicherungsbedingungen einer Ersatzkasse zieht den Anspruch auf die im Zusammenhang damit erforderlichen Reisekosten ohne weiteres nach sich. Für den Anspruch auf die Nebenleistung ist es unerheblich, ob die Hauptleistung materiell-rechtlich geschuldet war. Der Leistungspflicht steht es deshalb nicht entgegen, daß der behandelnde Arzt kein Vertragsarzt und die Ersatzkasse möglicherweise nicht zur Kostenübernahme verpflichtet war.
2. Reisekosten sind wie sonstige zur Erlangung einer Kassenleistung erforderliche Aufwendung akzessorische Nebenleistungen der von der Krankenkasse jeweils geschuldeten Hauptleistung. Die Nebenleistungen sind in bezug auf die Kostentragung grundsätzlich wie die Leistung zu behandeln, zu der sie gehören (vergleiche BSG vom 1980-10-22 3 RK 65/79 = SozR 2200 § 194 Nr 5 mwN).
Normenkette
RVO § 194 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; EKV-Ä § 4 Nr 5; RVO § 182 Abs 2 Fassung: 1930-07-26, § 368d Abs 2 Fassung: 1976-12-28
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte dem Kläger Kosten für Fahrten zu einer psychotherapeutischen Behandlung in der Schweiz zu erstatten hat.
Der Kläger war in den Jahren 1976 bis 1978 bei der beklagten Ersatzkasse als Student nach § 165 Abs 1 Nr 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) pflichtversichert. Ab August 1976 fuhr er regelmäßig von seinem Wohnort K (K.) nach W (W.) in der Schweiz, wo er von dem "Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie" Dr. N (N.) untersucht und behandelt wurde. Er beantragte im November 1976 bei der Beklagten die Kostenübernahme. Wegen der Zustimmung zu der Behandlung durch Dr. N. setzte sich die Beklagte mit Prof. Dr. Sch (Sch.) in Verbindung. Dieser sah sich jedoch zu einer abschließenden Beurteilung nicht in der Lage, da ihm die Angaben des Dr. N. nicht ausreichten. Deshalb lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Sie empfahl dem Kläger, sich zukünftig in eine der Vereinbarung über die Anwendung tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Therapie entsprechende Behandlung in der Bundesrepublik zu begeben. Während des anschließenden Klageverfahrens erklärte sie sich dann aber bereit, zunächst die Kosten für 80 Sitzungen (Schreiben vom 31. Oktober 1977) und für weitere 160 Sitzungen (Schreiben vom 7. April 1978) in Höhe des Vertragssatzes zu übernehmen. Sie überwies dem Kläger für jede Sitzung den Gegenwert für 50 Schweizer Franken. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) am 21. August 1978 nahm der Kläger das Anerkenntnis der Beklagten an, ihm die Kostenerstattung bis insgesamt 240 Sitzungen zuzubilligen.
Erstmals im August 1977 hatte der Kläger auch die Erstattung von Kosten für Fahrten mit dem Pkw zur Behandlung in W. zu je 106 km und 0,25 DM pro km beantragt. Die Beklagte hatte die Erstattung von Fahrkosten abgelehnt (Bescheid vom 16. Januar 1978/Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1978) und zur Begründung ausgeführt, die Reisekosten dürften das Maß des Notwendigen entsprechend § 12 Ziff 2 Abs 2 ihrer Versicherungsbedingungen (VB) nicht überschreiten. Bei Inanspruchnahme eines Vertragsbehandlers am Ort - in K. - wären Fahrkosten, die pro Fahrt über 3,50 DM betragen würden, mit Sicherheit nicht entstanden.
Das SG hat die Klage wegen des Fahrkostenersatzes abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil abgeändert; es hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger 5.400,-- DM zu zahlen und hat die Berufung im übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, beim Kläger habe eine psychische Erkrankung vorgelegen, deren Behandlung notwendig gewesen sei. Die mit den Schreiben vom 31. Oktober 1977 und 7. April 1978 abgegebenen Anerkenntnisse der Kostenübernahme habe der Kläger am 21. August 1978 angenommen. Die Verpflichtung zur Erstattung der Reisekosten als Nebenleistung folge ohne weiteres aus der anerkannten und erbrachten Hauptleistung. Dagegen könne die Beklagte nicht mit Erfolg einwenden, sie habe sich zur Kostenübernahme nur in Höhe des Vertragssatzes bereit erklärt. Die Formulierung könne aus der Sicht des Klägers nicht so verstanden werden, daß außer den Kosten der Behandlung keine Nebenkosten übernommen würden. Wenn die Beklagte die Übernahme der Nebenkosten hätte ablehnen wollen, so hätte sie das deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Sie habe ferner die Behandlung bei Dr. N. in W. als solche übernommen und sich nicht etwa nur im Wege einer Ermessensleistung mit der Zahlung eines Zuschusses daran beteiligt. Der Höhe nach seien allerdings nur Fahrkosten in Höhe von insgesamt 5.400,-- DM erforderlich gewesen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und macht geltend, nach der Rechtsprechung seien die Reisekosten akzessorische Nebenleistungen der von der Krankenkasse jeweils geschuldeten Hauptleistung. Die Hauptleistung habe sie aber nicht geschuldet, sondern nur ausnahmsweise übernommen. Für die privatärztliche Behandlung des Klägers in der Schweiz habe er keinen Anspruch auf Leistungen gehabt. Selbst wenn aber die von der Beklagten vorgenommene Kostenerstattung einer Anerkennung als vertragsärztliche Behandlung gleichkäme, stünden dem Kläger die Fahrkosten von K. nach W. nicht zu. Die Fahrkosten überschritten nämlich das Maß des Notwendigen, denn eine zweckmäßige vertragsärztliche Versorgung sei am Wohnort des Klägers in K. gewährleistet gewesen.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. April 1981 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 19. Juni 1979 - S 3 Kr 269/78 - zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet. Anhand der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob das SG die Klage mit Recht abgewiesen hat und ob die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind.
Das LSG hat nicht festgestellt, daß die Beklagte erklärt habe, sie übernehme die Fahrkosten. Einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Fahrten nach W. kann der Kläger aber gemäß § 12 Ziff 8 Abs 1 der VB der Beklagten - Stand 1. Januar 1976 - gehabt haben. Nach § 12 Ziff 8 Abs 1 VB werden die im Zusammenhang mit der Gewährung einer Leistung der Kasse erforderlichen Fahrkosten für das Mitglied übernommen.
Die Beklagte hat als Hauptleistung die Kostenerstattung für die Behandlung durch Dr. N. in Höhe der Vertragssätze durch die Schreiben vom 31. Oktober 1977 und 7. April 1978 bewilligt und tatsächlich erbracht. Diese Schreiben hat das LSG als Anerkenntnisse gewertet, die der Kläger am 21. August 1978 angenommen habe. Inwieweit das LSG damit tatsächliche Feststellungen getroffen hat, kann dahingestellt bleiben. Der Anspruch des Klägers hängt nicht davon ab, ob es sich bei den Schreiben um Anerkenntnisse gehandelt hat oder um Bescheide.
Eine bescheidmäßig oder durch Anerkenntnis übernommene Hauptleistung iS des § 12 Ziff 8 Abs 1 VB zieht den Anspruch auf die im Zusammenhang damit erforderlichen Reisekosten ohne weiteres nach sich. Für den Anspruch auf die Nebenleistung ist es unerheblich, ob die Hauptleistung materiell-rechtlich geschuldet war. Der Leistungspflicht der Beklagten steht es deshalb nicht entgegen, daß der behandelnde Arzt Dr. N. kein Vertragsarzt und die Beklagte möglicherweise nicht zur Kostenübernahme verpflichtet war. Dies hat das LSG zutreffend angenommen.
Reisekosten sind wie sonstige zur Erlangung einer Kassenleistung erforderliche Aufwendungen akzessorische Nebenleistungen der von der Krankenkasse jeweils geschuldeten Hauptleistung. Die Nebenleistungen sind in bezug auf die Kostentragung grundsätzlich wie die Leistung zu behandeln, zu der sie gehören (BSG SozR 2200 § 194 RVO Nr 5 mwN). Geschuldet in diesem Sinn ist die Hauptleistung der Beklagten hier aufgrund ihrer Anerkenntnisse oder Bescheide, die bindend geworden sind. Die Schuld der Beklagten steht zwischen den Beteiligten verbindlich fest und kann von der Beklagten nicht mehr bestritten werden.
Die von der Beklagten erklärte Übernahme der Kosten für 240 Sitzungen in Höhe der Vertragssätze ist eine Leistung der Kasse iS des § 12 Ziff 8 Abs 1 VB. Für die Fahrkostenerstattung nach § 12 Ziff 8 Abs 1 VB genügt es, daß die Hauptleistung in Form der Kostenerstattung gewährt wird. Die Kostenerstattung ist in der Satzung der Beklagten anstelle der freien vertragsärztlichen Behandlung ausdrücklich vorgesehen und wird insbesondere Mitgliedern gewährt, die keinen Anspruch auf freie Behandlung durch Vertragsärzte haben (§ 13 Ziff 5 VB). Auch diesen Mitgliedern steht sinngemäß der Fahrkostenerstattungsanspruch nach § 12 Ziff 8 Abs 1 VB zu. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten der ärztlichen Behandlung durch Dr. N. erstattet. Sie hat sich an den Kosten der ärztlichen Leistung insgesamt beteiligt, dh an den Kosten der Leistung, zu deren Erlangung der Kläger die Fahrkosten aufgewendet hat. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Zuschuß zu der Leistung (vgl BSG SozR 2200 § 194 RVO Nr 5).
Die von der Beklagten erklärte Kostenübernahme in Höhe der Vertragssätze enthält keine Beschränkung, die den Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten ausschließen könnte, insbesondere keine Beschränkung auf die Kosten, die bei Inanspruchnahme eines Vertragsbehandlers am Wohnsitz des Klägers entstanden wären. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG, die auch keine Rechtsverletzung erkennen lassen und von der Wertung der beiden Schreiben vom 31. Oktober 1977 und 7. April 1978 als Anerkenntnisse oder Bescheide nicht beeinflußt werden, sind die Schreiben nicht in diesem Sinn auszulegen.
Nicht entscheiden kann der Senat anhand der Feststellungen des LSG, ob die vom Kläger geltend gemachten Fahrkosten im Zusammenhang mit der Leistung der Beklagten "erforderlich" waren. Die Kosten für die Fahrten nach W. wären in diesem Sinn nur dann erforderlich gewesen, wenn der Kläger die Psychotherapie nicht von einem Arzt in K. oder der näheren Umgebung hätte erhalten können. Als Leistung iS des § 12 Ziff 8 Abs 1 VB ist nämlich hier nicht die Behandlung in W. anzusehen. Vielmehr hat die Beklagte mit ihren Schreiben vom 31. Oktober 1977 und 7. April 1978 nur die Kosten einer Behandlung durch Dr. N. übernommen. Damit hat sie sich mit der Leistungsart - ärztliche Behandlung - und dem Behandler - Dr. N. - einverstanden erklärt. Der Ort der Leistung war für ihre Entscheidung unerheblich, über die Erforderlichkeit der Behandlung gerade in W. hat sie nicht entschieden. Diese ergibt sich auch grundsätzlich nicht aus der Zubilligung der Hauptleistung. Vielmehr bezieht der Senat die Erforderlichkeit auf die gerade für die Nebenleistung erhebliche Modalität - hier den Ort.
Diese Auslegung ergibt sich auch aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot, daß das gesamte Leistungsrecht nach den VB der Beklagten beherrscht. Nach § 12 Ziff 2 Abs 2 VB gilt die allgemeine Bestimmung, daß die Krankenpflege das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. Dieses Gebot trifft nicht nur für die ärztliche Leistung zu, sondern auch für die im Zusammenhang damit stehenden Nebenleistungen (BSG SozR 2200 § 368d RVO Nr 4). Einen besonderen Ausdruck hat das Wirtschaftlichkeitsgebot in § 4 Ziff 5 des Arzt/Ersatzkassenvertrages (EKV) gefunden. Gemäß § 12 Ziff 7 VB ist diese Bestimmung für Mitglieder der Beklagten verbindlich. Wird ohne zwingenden Grund ein anderer als einer der nächsterreichbaren Vertragsärzte in Anspruch genommen, so hat der Versicherte nach § 4 Ziff 5 EKV die Mehrkosten zu tragen. Die Bestimmung entspricht dem § 368d Abs 2 RVO. Dazu hat der Senat entschieden (BSG SozR 2200 § 368d RVO Nr 4), die Regelungsmaterie des § 368d Abs 2 RVO betreffe nicht die im Vierten Abschnitt des Zweiten Buches der RVO geregelte Verfassung der Krankenversicherung und habe daher innerhalb des VI. Unterabschnitts ("Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Hebammen und Einrichtungen für Haushaltshilfen"; §§ 368 bis 376b RVO) nicht ihren eigentlichen systematisch gerechten Regelungsort. Als leistungsrechtliche Materie gehöre sie vielmehr in den Zweiten Abschnitt ("Gegenstand der Versicherung"), speziell in den II. Unterabschnitt (Krankenhilfe; §§ 182 bis 194 RVO). Die Anwendung des § 4 Ziff 5 EKV im Leistungsrecht ergibt sich im vorliegenden Fall darüber hinaus schon aus der Regelung des § 12 Ziff 7 VB, denn verbindlich sind danach die Verträge der Kasse mit den Ärzten für die Mitglieder gerade bei ihren Leistungsansprüchen.
Das LSG wird deshalb noch zu ermitteln haben, ob der Kläger die Psychotherapie auch von einem in K. oder der näheren Umgebung niedergelassenen Arzt hätte erhalten können. Aus diesen Gründen ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahren zu entscheiden haben wird.
Fundstellen