Rz. 36

Bei der "wissentlichen" Pflichtverletzung liegt das Merkmal "wissentlich" vor, wenn der Täter bezüglich der Pflichtverletzung mit direktem Vorsatz handelt. Hierbei ist es unerheblich, ob die Pflichtverletzung nützlich ist[1] und ob das Organmitglied "es nur gut meint".

 

Rz. 37

Nicht ausreichend ist ein bedingter Vorsatz, das heißt, wenn der Handelnde es nur für möglich hält, dass er eine Pflicht verletzt und dies billigend in Kauf nimmt, es aber nicht sicher weiß. In diesem Fall liegt keine wissentliche Pflichtverletzung vor.[2] Dies ergibt eine Auslegung des Merkmals aus der Perspektive eines objektiv verständigen Organmitglieds. Dieses würde bereits aus dem Wortlaut "wissentlich" ein starkes Wissenselement folgern, weshalb es nicht genügt, dass der Handelnde die Pflichtverletzung nur für möglich hält. Demgegenüber wäre, wenn die Bedingungen jede vorsätzliche – nicht nur die wissentliche - Pflichtverletzung vom Versicherungsschutz ausschließen, auch die bedingt vorsätzliche Pflichtverletzung umfasst.

Bei der wissentlichen Pflichtverletzung gilt in ständiger Rechtsprechung der Obersatz:

"Wissentlich handelt derjenige Versicherungsnehmer, der die verletzten Pflichten positiv kennt. Es muss feststehen, dass der Versicherungsnehmer die Pflichten gekannt und sich bewusst darüber hinweggesetzt hat.[3]"

 

Rz. 38

Neben der Kenntnis der verletzten Pflicht muss also der Versicherte subjektiv das Bewusstsein gehabt haben, gesetzes-, vorschrifts- oder sonst pflichtwidrig zu handeln.[4]

 

Rz. 39

Der Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung ist in den meisten Vermögenschadenhaftpflicht-Versicherungsbedingungen verankert, so auch bei Policen für Architekten, Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater oder Insolvenzverwaltern. Die dort ergangenen Entscheidungen sind auch für den Ausschluss in den D&O-Versicherungsbedingungen relevant. Die vorgenannte Entscheidung des OLG Köln[5] vom 29.11.2012 betraf einen Rechtsanwalt und damit einen Fall der Anwaltshaftung. Es stand fest, dass der Anwalt drei Gerichtstermine nicht wahrgenommen hat und am Ende ein zweites Versäumnisurteil erging, wobei der Mandant erst durch den Besuch des Gerichtsvollziehers von der Existenz des Urteils erfuhr. Hier liegen die wissentlichen Pflichtverletzungen auf der Hand. Der Anwalt hatte Kenntnisse von den Gerichtsterminen und hat sich dafür entschieden diese nicht wahrzunehmen. Dadurch verletzte er seine Pflichten aus dem Mandatsverhältnis. Das OLG Köln a.a.O., Seite 562, führt aus:

 

Rz. 40

"Vorliegend ist der wissentliche Pflichtenverstoß des Streitverkündeten darin zu sehen, dass er - jedenfalls nach Erlass des ersten Versäumnisurteils - bewusst seine Mandantin nicht unterrichtet und eine Weisung eingeholt hat. Er hätte - ohne Rücksprache - auf jeden Fall den Gerichtstermin wahrnehmen müssen, um ein zweites Versäumnisurteil zu vermeiden."

Der bewusste und gewollte Verstoß war dort also unstreitig gegeben. Das Gericht hat dann herausgearbeitet, welche wissentliche Pflichtverletzung den Schaden herbeigeführt hat. Auf die Motivation kommt es übrigens nicht an, ein böswilliges Verhalten ist nicht erforderlich, ausreichend ist vielmehr das Handeln in Kenntnis der bestehenden Pflichten.[6]

Der Ausschluss der wissentlichen oder auch vorsätzlichen Pflichtverletzung ist in der D&O-Versicherungspraxis aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung der wichtigste Ausschluss. Der Versicherer stützt sich in der Praxis häufig auf diesen Ausschluss und lehnt unter Berufung hierauf seine Eintrittspflicht ab. Dies geschieht nicht selten zu Recht – wenn man den Ausschluss entgegen der hiesigen Auffassung für wirksam erachtet (siehe dazu unter 5). In einigen Fällen wird aber der Ausschluss zu weit ausgelegt.

 

Rz. 41

 

Beispiel: "Die doppelte Anschaffung"

Georgina Gast (G) ist Geschäftsführerin einer Klinik-GmbH. Es soll ein neues Röntgengerät angeschafft werden. Hierzu wurden zwei Angebote eingeholt. Das Gerät des Anbieters Alpha Health AG (A) soll angeschafft werden, nicht jenes des Herstellers Beta Systems AG (B). G weist daher ihren zuverlässigen Mitarbeiter Christian Chlodwig (C) an, Angebot A zur Unterschrift in die Unterschriftenmappe zu legen. C legt versehentlich beide Angebote in die Unterschriftenmappe. G unterschreibt beide Angebote, weil sie beim Unterschreiben nicht genau hinschaut. Beide Angebote werden versandt und beide Hersteller bestätigen den Kauf. Der Irrtum wird festgestellt. Das Angebot bei B wird storniert, dieser besteht auf Erfüllung und macht einen entgangenen Gewinn von 30.000 EUR geltend. Die Klinik GmbH zahlt nach anwaltlicher Beratung den Betrag. Die Gesellschafterversammlung beschließt G deswegen in Haftung zu nehmen. G begehrt vom D&O-Versicherer Freistellung von der Haftung. Dieser meint wegen einer wissentlichen Pflichtverletzung nicht zahlen zu müssen. Der Ausschluss in den Bedingungen lautete wie folgt:

"Der Versicherungsschutz bezieht sich nicht auf Haftpflichtansprüche wegen vorsätzlicher Schadenverursachung oder durch wissentliches Abweichen v...

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