Rz. 116

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Ausschluss des Erbrechts nach dem Vater, für vor dem 1.7.1949 geborene Kinder, als menschenrechtswidrig anzusehen ist oder nicht. In seiner Entscheidung vom 28.5.2009 bejahte der EGMR diese Frage und sah dem Grunde nach das damalige deutsche Nichtehelichen-Erbrecht als diskriminierend an.[60]

 

Rz. 117

Infolgedessen hat die Bundesrepublik am 15.4.2011 das "Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder" (Nichtehelichengesetz) durch ein Reformgesetz[61] geändert. So ist die frühere Altersgrenze (Geburt vor dem 1.7.1949) des Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG a.F. mit Wirkung vom 29.5.2009 entfallen, was zur Folge hat, dass sich für alle ab diesem Tag eingetretenen Erbfälle ein wechselseitiges und uneingeschränktes Erbrecht des nichtehelichen Kindes und seiner Abkömmlinge nach den väterlichen Verwandten und auch der väterlichen Verwandtschaft nach dem Kind sowie dessen Abkömmlingen ergibt.

 

Rz. 118

Das Gleiche gilt damit folgerichtig auch für Pflichtteilsansprüche eines durch letztwillige Verfügung von der Erbfolge ausgeschlossenen, nichtehelichen Kindes.

 

Rz. 119

Für ab dem 29.5.2009 eingetretene Erbfälle in denen das Erbscheinsverfahren bereits durch die Erteilung eines Erbscheins abgeschlossen ist, kann der nunmehr unrichtige Erbschein eingezogen bzw. für kraftlos erklärt werden. Allerdings ist das Erbscheinseinziehungsverfahren bzw. die Kraftloserklärung vom Nachlassgericht nicht von Amts wegen (wie grundsätzlich in § 2361 Abs. 3 BGB vorgesehen), sondern nur auf Antrag durchzuführen. Es erscheint sachgerecht, in diesen Fällen ein Antragserfordernis anzunehmen. Die Nachlassgerichte wären andernfalls verpflichtet, von Amts wegen nach entsprechenden, bereits abgeschlossenen Verfahren zu "fahnden", was auch unter Amtshaftungsgesichtspunkten nicht unproblematisch wäre. Den Betroffenen ist zuzumuten, sich selbst um ihr Erbrecht zu kümmern. Allerdings gilt dies nur für die bis 15.4.2011, dem Tag der Verkündung des Reformgesetzes, erteilten Erbscheine. Danach erteilte unrichtige Erbscheine sind nach § 2361 BGB von Amts wegen einzuziehen.[62]

 

Rz. 120

Bislang konnte es als rechtlicher Grundkonsens gelten, dass ein gesetzliches Erbrecht nur in Betracht kommt, wenn der betreffende Erbprätendent im Rechtssinne mit dem Erblasser verwandt ist.[63] Dieser Konsens wurde durch eine im Bericht des Rechtsausschusses enthaltene Äußerung in Frage gestellt, wonach die gesetzliche Neuregelung in Einzelfällen auch ohne das Bestehen einer Verwandtschaft zum Erblasser zu einem gesetzlichen Erbrecht führen könne.[64] Hintergrund für diese rechtliche Einschätzung war der vom Rechtsausschuss befürwortete Verzicht auf eine im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltene Regelung,[65] nach der die gesetzliche Neuregelung nicht gelten sollte, wenn Vater, Mutter und Kind bereits vor dem 29.5.2009 verstorben sind. Diese angedachte Beschränkung der Gleichstellungswirkungen des neuen Rechts war in Fachkreisen auf erheblichen Widerspruch gestoßen, weil sie bereits im nahen Angehörigenbereich dazu geführt hätte, dass ein nach dem 28.5.2009 verstorbenes eheliches Kind des Vaters nicht von einem Abkömmling des vor dem 1.7.1949 geborenen Kindes (oder umgekehrt) beerbt werden kann. Außerdem hätte der Fall eintreten können, dass das Erbrecht oder die Beerbung des nichtehelichen Kindes davon abhängt, ob die für die erbrechtliche Gleichstellung im Vater/Kind-Verhältnis völlig irrelevante Mutter des Kindes am 29.5.2009 als einzige der drei genannten unmittelbaren Beteiligten noch lebte. Da diese inakzeptablen Rechtsfolgen in der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung mit der ähnlichen Regelung des Art. 12 § 3 Abs. 1 S. 3 NEhelG gerechtfertigt wurden,[66] liegt die Vermutung nahe, dass es insoweit zu einer sachfremden Vermengung von abstammungsrechtlichen und erbrechtlichen Fragen gekommen war.

 

Rz. 121

Da die Berechtigung der erhobenen Kritik kaum in Zweifel gezogen werden konnte, empfahl der Rechtsausschuss, von der besagten Regelung Abstand zu nehmen, auch wenn es dadurch wegen der Durchbrechung des Gleichlaufs mit der Norm des Art. 12 § 3 NEhelG zu einem gesetzlichen Erbrecht von Personen kommen könne, die nicht mit dem Erblasser verwandt sind.[67] Dass Letzteres nicht zutreffend sein kann, folgt schon daraus, dass es mit Ausnahme des Fiskuserbrechts kein gesetzliches Erbrecht ohne bestehendes Verwandtschaftsverhältnis zum Erblasser gibt. Wer nicht im Rechtssinne mit dem Vater in der geraden Linie oder über einen Dritten in der Seitenlinie verwandt ist, kann somit von vorneherein nicht zum gesetzlichen Erben des Vaters oder seiner Verwandten berufen sein und das Gleiche gilt umgekehrt natürlich auch für das Erbrecht des Vaters und seiner Verwandten im Verhältnis zum Kind und dessen Abkömmlingen. Ein solches wechselseitiges gesetzliches Erbrecht setzt vielmehr stets voraus, dass die rechtliche Vaterschaft zu dem vor dem 1.7.1949 gebore...

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