Rz. 7

Behindertentestamente haben ein einziges Ziel: Sie sollen verhindern, dass Zuflüsse aus einem Erbfall nachrangige Sozialleistungsansprüche ganz oder teilweise zum Wegfall bringen oder gar nicht erst entstehen lassen. Behindertentestamente zielen darauf ab, jegliche Form von Leistungsversagung/-reduzierung auf der Anspruchsebene und jede Form von Sozialhilferegress auf der Ebene der Leistungsstörung unmöglich zu machen.

Die Motive dafür sind unterschiedlich. Wenn es darum geht, einem Menschen mit Behinderung etwas über das Niveau der Sozialhilfeleistungen hinaus zukommen zu lassen (Versorgungsfunktion[9]), so hat der BGH vielfach entschieden,[10] dass dieses Ziel mit den Mitteln des klassischen Behindertentestamentes rechtlich zulässig erreicht werden kann.[11]

[9] Bejahend auch zur Erhaltungsfunktion nach dem Tod für das gesunde Geschwisterkind ("Erhaltungsfunktion") Litzenburger, Anm. zu OLG München: Testamentsvollstreckung für den Vorerben in einem Behindertentestament verleiht dem Amtsinhaber keine Verfügungsbefugnis gegenüber dem Nacherben, FD-ErbR 2016, 378277 – beck-online.

1. Die Entwicklung des Behindertentestaments

 

Rz. 8

Die ersten Entscheidungen zum Behindertentestament basieren auf letztwilligen Verfügungen zugunsten von "Kindern" mit Behinderung im Sinne von in der Regel volljährigen Abkömmlingen, nicht zugunsten von sonstigen Verwandten oder Nichtverwandten mit Behinderung.

Das Behindertentestament zugunsten von "Kindern" mit Behinderung in der Ursprungsversion der Erbschaftslösung besteht aus einer Schutz-Trias folgender erbrechtlicher Gestaltungselemente:

Erbfolgeregelung[12] mit der Besonderheit der (nicht befreiten) Vorerbschaft /Nacherbschaft und einer quotalen Beteiligung oberhalb des Pflichtteils
Dauertestamentsvollstreckung (§ 2209 BGB) für den Teil, der auf den bedürftigen Begünstigten entfällt
Verwaltungsanordnungen (§ 2216 Abs. 2 BGB) des Erblassers über die sozialhilfeunschädliche Zuwendung von Nachlassmitteln an den Bedürftigen aus dem unter Dauertestamentsvollstreckung stehenden Nachlass.
 

Rz. 9

Diese komplexe Verbindung erbrechtlichen Gestaltungsmaterials hat der BGH in seiner Ursprungsentscheidung unbeanstandet gelassen, weil eine letztwillige Verfügung nicht schon deshalb sittenwidrig sei, weil sie die Angehörigen des Erblassers von der gesetzlichen Erbfolge ausschließe. Es gelte der verfassungsrechtlich geschützte Grundsatz der Testierfreiheit.[13] In einem weiteren Prüfungsschritt hat der BGH diese Konstruktion mit einer Sittenwidrigkeitsprüfung nach § 138 BGB[14] "standfest" gemacht:

Zitat

"Dabei ist von dem Gedanken auszugehen, dass die behinderte Tochter durch den Erbvertrag über die Sozialhilfe hinaus auf Lebenszeit nicht unerhebliche zusätzliche Vorteile und Annehmlichkeiten erhält, die bei einem Absinken des heute erreichten Standes der Sozialleistungen für Behinderte noch wichtiger werden könnten. Der Senat hat bereits in seinem Urteil BGHZ 111, 36 (42) = NJW 1990, 2055, 1 darauf hingewiesen, dass Eltern auf diese Weise gerade der zuvörderst ihnen zukommenden sittlichen Verantwortung für das Wohl ihres Kindes Rechnung tragen und nicht verpflichtet sind, diese Verantwortung dem Interesse der öffentlichen Hand an einer Teildeckung ihrer Kosten hintanzusetzen."[15]

 

Rz. 10

Die erbrechtliche Literatur folgt dieser Rechtsprechung und sieht den behinderten Sozialhilfebezieher zusammen mit dem erbrechtlich versiert gestaltenden Erblasser erfolgreich auf der "Testamentsallee" wandeln, auf der "Verzichtsavenue" promenieren und dem "Ausschlagungsboulevard" flanieren[16] mit Aussicht auf "Erweiterung dieses Straßennetzes um weitere Prachtstraßen"[17] wie die "Pflichtteilssanktionsklauselgasse", falls der BGH seine Rechtsprechung zur generellen Überleitbarkeit von Pflichtteilsansprüchen noch einmal korrigiert.[18]

 

Rz. 11

Die sozialhilferechtliche Literatur und einzelne andere Stimmen aus der Literatur[19] charakterisieren die rechtliche Herleitung des Behindertentestamentes dagegen als "kunstvolle rechtliche Konstruktion, die nur dazu dient, einen Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den Nachlass abzuwehren"[20] und deshalb "sehr bedenklich mit wenig überzeugenden Argumenten" sei[21]

In Bezug auf die sozialhilferechtliche Selbsthilfeverpflichtung ist diese Kritik nicht völlig unberechtigt. Die vom BGH herangezogene Sittenwidrigkeits- und Nachrangprüfung trägt nämlich – entgegen anderer Ansicht in der Literatur[22] – nach diesseitiger Ansicht nicht, jedenfalls aber seit längerer Zeit schon nicht mehr. Die Sittenwidrigkeitsprüfung kann heute – über 30 Jahre nach der Grundlagenentscheidung des BGH – im Angesicht...

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