Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Sittenwidrigkeit eines Testaments, durch das der Vater eines Behinderten sein bescheidenes Vermögen im Interesse des behinderten Kindes so weiterleitet, daß die Sozialbehörde keine Möglichkeit hat, wegen ihrer Aufwendungen für das Kind auf den Nachlaß zuzugreifen.

 

Normenkette

BGB § 138; BSHG § 2

 

Verfahrensgang

OLG Hamburg (Urteil vom 08.06.1989)

LG Hamburg

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 8. Juni 1989 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der am 6. März 1981 verstorbene Erblasser hinterließ eine im Jahre 1943 geborene spastisch gelähmte und geistig schwer behinderte Tochter. Diese hatte er bis Anfang März 1981 in seiner Wohnung gepflegt. Als er sein Ende herannahen fühlte, wandte er sich an den Verein zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder e.V. in H.. Darauf wurde das Kind in einer Wohngruppe der K.-J.-Heim-GmbH, H., einer Tochtergesellschaft des genannten Vereins, aufgenommen. Noch am 5. März 1981 errichtete der Erblasser im Krankenhaus ein notarielles Testament, in dem er seine Tochter als befreite Vorerbin und die Beklagte, die H. Gesellschaft zur Unterstützung Behinderter mbH, ebenfalls einer Tochtergesellschaft des genannten Vereins, als Nacherbin einsetzte. Zugleich bestimmte er die Beklagte zur Dauer-Testamentsvollstreckerin. In dem Testament heißt es dann weiter:

„Der Testamentsvollstrecker soll sich darum kümmern, daß … (die Tochter) im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes unter Heranziehung des Sozialhilfeträgers angemessen untergebracht und betreut wird …. Er hat ferner dafür zu sorgen, daß der Nachlaß möglichst erhalten bleibt und … (die Tochter) in den Genuß der Früchte des Nachlasses kommt, ohne daß ihr (z.B. öffentlich-rechtliche) Zuwendungen verloren gehen, jedoch kann der Testamentsvollstrecker die Nachlaßfrüchte nach seinem Ermessen auch zugunsten anderer Behinderter verwenden. Anspruch auf die Auskehrung des Nachlasses sowie von Nachlaßgegenständen und Früchten hat … (die Tochter) nicht. Die Entscheidung liegt allein beim Testamentsvollstrecker. Er hat die Befugnisse nach § 2207 BGB und ist von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit. Die Verwaltung des Testamentsvollstreckers soll nach Möglichkeit auch Vermögenswerte umfassen, die … (der Tochter) aus anderen Quellen, z.B. im Wege anderweitiger Erbfolge, zufließen. Dem Testamentsvollstrecker soll auch die Ausübung solcher zum Nachlaß gehörender Rechte überlassen werden, die ihm nicht schon kraft Gesetzes zustehen. Er soll unter Ausschluß Dritter sofort Verfügungsbefugnis über mein Girokonto haben und soll sich der Familiengrabstätte annehmen, auf der auch ich bestattet werden möchte. Sollte für … (die Tochter) ein Vormund oder Pfleger bestellt werden, so sollen Testamentsvollstrecker und Vormund oder Pfleger zum Besten … (der Tochter) vertrauensvoll zusammenarbeiten. Ich wünsche, daß das Vormundschaftsgericht eine vom Testamentsvollstrecker benannte Person zum Vormund oder Pfleger ernennt, wenn Vormundschaft oder Pflegschaft angeordnet wird.

Ich wünsche, daß … (die Tochter) oder ein für sie bestellter Vormund oder Pfleger und der Testamentsvollstrecker dieses Testament beachten und daß auch ein Vormund oder Pfleger für … (die Tochter) nicht unter Ausschlagung des Erbteils den Pflichtteil verlangt, da dies nicht in … (der Tochter) Interesse liegt. Wenn … (die Tochter) mit den Bestimmungen dieses Testaments nicht einverstanden ist und unter Ausschlagung ihres Erbteils den Pflichtteil verlangt, so soll sie auch nur den Pflichtteil erhalten. Der Rest des Nachlasses soll dann sofort an den Nacherben fallen.”

Die Beklagte nahm den Nachlaß noch im Jahre 1981 in Besitz und verwaltet ihn seitdem. Ende des Jahres 1987 betrug sein Wert 30.851,03 DM.

Die klagende Stadt hat die Kosten für die Unterbringung der Behinderten aufgrund des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zu tragen; diese belaufen sich auf monatlich über 4.000 DM. Die Klägerin meint, das Testament sei wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig. Infolgedessen sei die Behinderte kraft Gesetzes unbeschränkte Alleinerbin ihres Vaters geworden und habe Anspruch gegen die Beklagte auf Herausgabe „des durch das Testament Erlangten”. Diesen angeblichen Anspruch hat die Klägerin durch Bescheid vom 10. Februar 1987 gemäß § 90 Abs. 1 BSHG auf sich übergeleitet.

Die Klägerin wirft der Beklagten vor, sie werbe öffentlich dafür, bemittelte Eltern behinderter Kinder sollten ihr Vermögen so anlegen, daß die beträchtlichen Kosten der Unterbringung der Behinderten in privilegierten Heimen nach dem Tode ihrer Eltern vollständig zu Lasten der öffentlichen Sozialhilfe gingen. Auf diesem Wege werde erreicht, daß entsprechende Eltern ihr Vermögen durch Geschäft unter Lebenden oder von Todes wegen ganz oder teilweise auf die Beklagte übertrügen. Was den Behinderten davon zugute komme, sei nur geringfügig und stehe im Belieben der Beklagten. Der erste Geschäftsführer der Beklagten habe sogar ein öffentlich verbreitetes Mustertestament entwickelt. Dieses Vorgehen ziele darauf ab, das im Sozialrecht geltende und unverzichtbare Nachrangprinzip (Subsidiarität der Sozialhilfe) zu unterlaufen. Dem liege die Absicht zugrunde, den Träger der Sozialhilfe zu schädigen. Das laufe den Interessen der Allgemeinheit zuwider.

Im vorliegenden Fall habe der Erblasser sich an diese Vorschläge weitestgehend gehalten; z.B. habe er Formulierungen des Mustertestaments sogar wörtlich übernommen. Die darin zum Ausdruck kommende unredliche Gesinnung des Erblassers mache sein Testament sittenwidrig und daher nichtig. Daraus leitet die Klägerin einen „allgemeinen” Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruch ab, wie er aus § 242 BGB hergeleitet werde, und hat diesen gegen die Beklagte eingeklagt. Ferner hat sie beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die Richtigkeit und Vollständigkeit ihrer Angaben an Eides Statt zu versichern.

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, Auskunft über den Nachlaß zu erteilen, über dessen Verwaltung Rechnung zu legen, und hat die Klage im übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Zurückweisung der Berufung.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg.

I.

Das Oberlandesgericht hat erwogen, ob die Klägerin Auskunft und Rechnungslegung aus § 2027 BGB analog oder aus § 242 BGB verlangen könne, wenn der auf sie übergeleitete Herausgabeanspruch bestünde. Es hat diese Frage aber offengelassen, weil das Testament nicht sittenwidrig sei und weil der übergeleitete Anspruch daher nicht bestehe. Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß der übergeleitete Herausgabeanspruch rechtlich nicht begründet ist, so daß die Überleitung gemäß § 90 Abs. 1 BSHG ins Leere geht und der. Klägerin schon deshalb nicht die eingeklagten Auskunfts- und Rechnungslegungsansprüche verschafft haben kann.

II.

Das Testament des Erblassers ist entgegen der Auffassung der Revision nicht nichtig.

1. Die Meinung der Revision, das Testament leide an einem inneren, nicht auflösbaren Widerspruch, teilt der Senat nicht.

Das Berufungsgericht legt das Testament dahin aus, daß der Erblasser seine Tochter zur befreiten Vorerbin und die Beklagte zur Nacherbin eingesetzt und zugleich zur Testamentsvollstreckerin bestellt habe. Das ist rechtsfehlerfrei. Insbesondere ist es rechtlich unbedenklich, einen Nacherben zum Testamentsvollstrecker zu ernennen. Das gilt, wenn es sich nur um einen einzigen Nacherben handelt, jedenfalls für die Zeit bis zum Eintritt des Nacherbfalles. Auch stellt es nur scheinbar einen Widerspruch dar, einen befreiten Vorerben (§ 2136 BGB) zugleich durch die Einrichtung einer Testamentsvollstreckung zu beschränken. Zwar kommen die Vorteile der Befreiung, wie sie sich etwa im Bereich des § 2134 BGB ergeben, dem befreiten Vorerben in Fällen dieser Art nicht unmittelbar zugute. Jedoch bleibt die Befreiung nicht ohne Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung der Pflichten des Testamentsvollstreckers. Er hat nämlich darauf zu achten, daß dem (weitestgehend) befreiten im Gegensatz zum nichtbefreiten Vorerben nicht nur die bloßen Nutzungen der Erbschaft gebühren (§ 2111 Abs. 1 Satz 1 BGB), sondern daß ihm darüber hinaus jedenfalls im Grundsatz auch der Zugriff auf deren Substanz offensteht. Die Anordnung des Erblassers, der Testamentsvollstrecker solle den Nachlaß möglichst erhalten, steht hierzu nicht in Widerspruch, sondern trägt der Rechtslage durch den Gebrauch des Wortes „möglichst” Rechnung. Sie läßt dadurch dem Testamentsvollstrecker Spielraum, um notfalls auch die Substanz des Nachlasses angreifen zu können, sofern sich das in Zukunft einmal im Interesse der Vorerbin zu deren angemessener Unterbringung und Betreuung als erforderlich erweisen oder sonst im Sinne des Erblassers angezeigt sein sollte.

Auch ist es nicht richtig, wenn die Revision meint, die Vorerbin und der für sie bestellte Gebrechlichkeitspfleger seien, was die Verwendung der Nachlaßmittel angeht, der Willkür der Beklagten schutzlos ausgeliefert.

Die Beklagte unterliegt in ihrer Eigenschaft als Testamentsvollstreckerin vielmehr strengen Pflichten (Senatsurteile vom 14.5.1986 – IV a ZR 100/84 – und vom 3.12.1986 – IVa ZR 90/85 – LM BGB § 2216 Nr. 8, 9). Dazu gehört es, daß sie die Nutzungen der Erbschaft, soweit diese nicht entsprechend den Anordnungen des Erblassers verbraucht werden, sorgfältig verwaltet, und zwar, da die Nutzungen nicht zur Nacherbschaft gehören, gegebenenfalls sogar über den Nacherbfall hinaus. Auch im übrigen ist die Vorerbin nicht rechtlos. Sie hat nach dem Testament zwar kein Recht auf Auskehr von Nachlaß an sie. Die Beklagte als Testamentsvollstreckerin darf mit dem verwalteten Vermögen aber nicht willkürlich verfahren. Insbesondere ist es ihr verwehrt, den Nachlaß einschließlich seiner Früchte vor dem Nacherbfall anders als in den vom Erblasser gezogenen Grenzen zu verwenden oder entgegen dem Willen des Erblassers trotz eines etwa vorhandenen Bedarfs zurückzuhalten. Etwaigen Pflichtwidrigkeiten in diesem Sinne kann die Vorerbin, gegebenenfalls vertreten durch ihren Pfleger, sowohl durch Klage auf Unterlassung rechtswidriger Maßnahmen als auch durch Klage auf gebotene Verwaltungshandlungen entgegentreten (vgl. z.B. MK/Brandner, BGB 2. Aufl. § 2216 Rdn. 3, 11).

2. Entgegen der Auffassung der Revision ist das Testament auch nicht wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig (§ 138 Abs. 1 BGB).

a) Was zunächst den Gesichtspunkt angeht, der Erblasser habe seine Tochter sittenwidrig benachteiligt, so ist darauf hinzuweisen, daß das Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches von dem Grundsatz der Testierfreiheit beherrscht ist; dieser Grundsatz steht unter dem Schutz der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG (BVerfGE 58, 377, 398; 67, 329, 341; Senatsurteil vom 18.1.1989 – IV a ZR 296/87 – NJW 1989, 2054 = FamRZ 1989, 609 unter II. 2.).

Die Testierfreiheit ist freilich nicht unbeschränkt. Die Schranken, die das Erbrecht ihr gegen allgemein als unangemessen empfundene Verfügungen von Todes wegen setzt, liegen in den Vorschriften des Pflichtteilsrechts. Durch sie wird den nächsten Angehörigen des Erblassers ein Mindestanteil am Vermögen des Erblassers gesichert. Die daneben geltende Schranke des § 138 Abs. 1 BGB kann eine erbrechtliche Zurücksetzung nächster Angehöriger in dem Bereich unterhalb der Schwelle des Pflichtteilsrechts nur in besonders schwerwiegenden Ausnahmefällen abwehren (vgl. Senatsurteil vom 10.11.1982 – IV a ZR 83/81 – FamRZ 1983, 53 = NJW 1983, 674 „besonders hervorstechende Ausnahmefälle”). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

Im Gegenteil: Der Erblasser hat seine behinderte Tochter trotz seines fortgeschrittenen Alters (bei seinem Tode war er 77 Jahre alt) bis zuletzt persönlich gepflegt und versorgt, so wie es Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als zuvörderst den Eltern des Kindes obliegende Pflicht beschreibt. Von der Möglichkeit, die Tochter bereits früher in einem Heim für Behinderte unterzubringen, hat der Erblasser keinen Gebrauch gemacht, obwohl die dafür entstehenden – beträchtlichen – laufenden Kosten weitgehend zu Lasten der Sozialverwaltung (vgl. § 91 Abs. 3 BSHG) gegangen wären. Aber auch für die Zeit nach seinem Tode hatte der Erblasser es nicht darauf abgesehen, die behinderte Tochter zu benachteiligen. Sein Testament ist vielmehr umgekehrt darauf angelegt, auch über die alsdann zu erwartenden Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz hinaus der Tochter nach Möglichkeit noch weiteres zugute kommen zu lassen. Ein solches Bestreben ist nicht per se anstößig, sondern entspricht der sittlichen Verantwortung von Eltern für ihre Kinder.

b) Sittenwidrig ist die Einsetzung der Beklagten zum Nacherben auch nicht deshalb, weil die Zuwendung gerade an die Beklagte anstößig wäre. Die sozialen Einrichtungen, die die Beklagte unterstützt und der hinter ihr stehende Behindertenverein betreibt, werden staatlich gefördert und zum Teil von der Klägerin selbst sogar als beispielhaft hervorgehoben. Ein Grund, der testamentarischen Zuwendung des Erblassers gerade an die Beklagte aus sittlichen Gründen entgegenzutreten, besteht nicht.

c) Als sittenwidrig kann der Senat die Zuwendung an die Beklagte aber auch nicht deshalb ansehen, weil der Klägerin auf diese Weise die Chance entgeht, wegen der ihr entstehenden Aufwendungen für die behinderte Tochter nach dem Tode des Erblassers auf dessen verhältnismäßig bescheidenes Erblasservermögen zuzugreifen. Der in § 2 BSHG, § 9 SGB I normierte Nachrang der Sozialhilfe (Subsidiaritätsprinzip) ist hier nicht in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise unterlaufen. Nicht zu entscheiden ist, ob das anders sein könnte, wenn der Erblasser ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hätte und der Pflichtteil des Behinderten so hoch wäre, daß daraus – oder sogar nur aus den Früchten – seine Versorgung sichergestellt wäre.

aa) Zu Unrecht beruft die Revision sich insoweit auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Sittenwidrigkeit eines Unterhaltsverzichts unter Ehegatten. Der Bundesgerichtshof hat entschieden (BGHZ 86, 82, 86; Urteil vom 17.9.1986 – IV b ZR 59/85 – NJW 1987, 1546, 1548), daß eine Scheidungsvereinbarung, in der ein nicht erwerbstätiger, nicht vermögender Ehegatte auf nachehelichen Unterhalt verzichtet mit der Folge, daß er zwangsläufig der Sozialhilfe anheim fallen muß, sittenwidrig und daher nichtig sein kann. Diese Rechtsprechung beruht auf dem aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz, daß derjenige, der in der Lage ist, sich aus eigener Kraft zu helfen, mit seinem Wunsch nach staatlicher Hilfe zurücktreten muß (BVerfGE 17, 38, 56). Dementsprechend muß ein Unterhaltsbedürftiger grundsätzlich zunächst alle ihm zur Verfügung stehenden eigenen Erwerbsquellen und Unterhaltsmöglichkeiten ausschöpfen, ehe er auf dem Weg über die Sozialhilfe die Allgemeinheit belastet.

Diese Grundsätze können im vorliegenden Fall aber nicht angewendet werden. Hier geht es nicht darum, daß die hilfsbedürftige Behinderte ihre eigenen Unterhaltsquellen nicht ausgeschöpft oder solche aufgegeben oder verschüttet hätte. Zu beurteilen ist vielmehr, ob es im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip anstößig erscheint, wenn Eltern eines behinderten Kindes ihr Vermögen (im Interesse des Kindes) von Todes wegen so weiterleiten, daß die Sozialbehörden keine Möglichkeit haben, ihre Aufwendungen für das Kind daraus (teilweise) zu decken. Diese Fragestellung reicht über die angeführte Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit eines Unterhaltsverzichtes weit hinaus.

bb) Der Klägerin ist zuzugeben, daß das Subsidiaritätsprinzip zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Staates allgemein besonderer Beachtung bedarf. Indessen wäre es in Fällen der vorliegenden Art zuviel verlangt, von den Eltern eines behinderten Kindes zu erwarten, daß sie die zuvörderst ihnen zukommende sittliche Verantwortung für das Wohl des Kindes dem Interesse der öffentlichen Hand an einer Teildeckung ihrer Kosten hintansetzen. Selbst das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der Sozialverwaltungen liegt für die Eltern eines behinderten Kindes zu fern, als daß ihnen aus sittlichen Gründen abverlangt werden könnte, nicht noch mehr für ihr Kind zu tun, als die öffentliche Hand leistet. Wenn Eltern, die ihre Verantwortung für ihr behindertes Kind und dessen Wohl voll auf sich genommen haben und dieser Aufgabe gerecht zu werden suchen, in diesem Zusammenhang die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Sozialverwaltungen vor Augen gehalten werden, dann müssen sie sich vielmehr umgekehrt fragen, ob sie nicht sittlich gehalten sind, auch für den Fall vorzusorgen, daß die öffentliche Hand ihre Leistungen für Behinderte nicht mehr auf dem heute erreichten hohen Stand halten kann. Eltern, die hier nach Auswegen suchen und den im Schrifttum erörterten Vorschlägen (vgl. z.B. Dittmann/Reimann/Bengel, Testament und Erbvertrag 2. Aufl. Rdn. D 272 ff., Anh. 63; Karpen, MittRhNotK 1988, 131, 147 ff.) folgen, kann man deswegen regelmäßig keinen Sittenverstoß vorwerfen.

Das gilt umsomehr, als das Subsidiaritätsprinzip durch die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes in erheblichem Maße durchbrochen ist. So dürfen Sozialbehörden liquide Unterhaltsansprüche von Behinderten gegen ihre womöglich sehr wohlhabenden Verwandten unter Umständen nur in (sehr) begrenztem Umfang verfolgen (§ 91 Abs. 1, 3 BSHG); gegen Großeltern werden solche überhaupt nicht durchgesetzt (§ 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Unter diesen Umständen wäre es überdies ein Wertungswiderspruch, die den Eltern auf diese Weise zunächst (großzügig) belassenen und von diesen angesparten Gelder mit Hilfe von § 138 Abs. 1 BGB gerade deshalb erbrechtlich auf das behinderte Kind überleiten zu wollen, damit die Sozialbehörde darauf zugreifen kann.

cc) Sittenwidrig ist das Testament ferner nicht deshalb, weil die Klägerin nicht wenigstens an den Pflichtteil der behinderten Tochter gelangen kann. Ob die Tochter einen Pflichtteilsanspruch nach ihrem Vater erhielt, war gemäß § 2306 Abs. 1 Satz 2 BGB davon abhängig, daß sie die ihr zugewendete Stellung als befreite Vorerbin des Erblassers ausschlug. Ob sie das tat (oder an ihrer Stelle der für sie bestellte Vermögenspfleger – Gebrechlichkeitspfleger), war ihre eigene Entscheidung (oder diejenige des Pflegers, vgl. hierzu auch § 1803 BGB). Da diese Ausschlagung nicht erklärt ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die hierzu gegebenenfalls erforderliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung (§§ 1910, 1915 Abs. 1, 1822 Nr. 2 BGB) erteilt ist oder überhaupt hätte erteilt werden dürfen.

d) Unabhängig davon steht dem Zugriff der Klägerin auf den Nachlaß aber auch der Umstand entgegen, daß der Nachlaß unter der Verwaltung der Beklagten in ihrer Eigenschaft als Testamentsvollstreckerin steht. Sofern und soweit die Klägerin die Vorerbin wegen der Aufwendungen für diese auf Ersatz in Anspruch nehmen kann (vgl. §§ 76 ff. BSHG), gehört sie zu deren Eigengläubigern und nicht zu den Nachlaßgläubigern nach dem Erblasser. Daher könnte die Klägerin, solange die angeordnete Dauervollstreckung (§ 2209 BGB) besteht, sich gemäß § 2214 BGB selbst dann nicht an die Nachlaßgegenstände halten, wenn sie selbst vom Erblasser statt der Beklagten zur Nacherbin bestellt worden wäre. Derartige Beschränkungen müssen Erben und demgemäß auch ihre Gläubiger grundsätzlich hinnehmen. Für die Klägerin gibt es insoweit keine Ausnahme. Als sittenwidrig können solche Beschränkungen weder im allgemeinen noch in dem vorliegenden besonderen Fall angesehen werden.

e) Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 des Heimgesetzes vom 7. August 1974 (HeimG; BGBl. 1974 I S. 1834) ist es den Trägern bestimmter Heime untersagt, sich über das vereinbarte Entgelt hinaus noch weitere Vermögensvorteile gewähren oder versprechen zu lassen. Diese Vorschrift greift hier nicht ein, weil die Beklagte nicht Trägerin des Heimes ist, in dem die Behinderte untergebracht ist. Für eine Umgehungsabsicht besteht hier kein Anlaß.

III.

Unter diesen Umständen kann schließlich offen bleiben, ob die Klägerin, wenn der auf sie übergeleitete Anspruch auf Herausgabe des Nachlasses gegen die Beklagte bestünde, daraus die eingeklagten erbrechtlichen Ansprüche aus Auskunft oder Rechnungslegung ableiten könnte, oder ob sie nur auf die Ansprüche aus §§ 402, 413 BGB analog verwiesen wäre, oder ob sie sich insoweit sogar mit ihren öffentlich-rechtlichen Auskunftsansprüchen gemäß § 116 BSHG begnügen müßte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 5.3.1986 – IV b ZR 25/85 – FamRZ 1986, 568; NJW 1986, 1688).

 

Unterschriften

Bundschuh, RiBGH Dehner ist wegen Urlaubs an der Unterschrift verhindert. Bundschuh, Dr. Schmidt-Kessel, Dr. Zopfs, Römer

 

Fundstellen

Haufe-Index 1530762

BGHZ

BGHZ, 36

NJW 1990, 2055

Nachschlagewerk BGH

DNotZ 1992, 241

JZ 1990, 1025

JuS 1990, 937

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