Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. rückwirkende Feststellung der Mitgliedschaft. Unkenntnis des Versicherten bzw des Beitragspflichtigen über Bestehen der Versicherung
Orientierungssatz
1. Dem Versicherten wird bei einer rückwirkenden Feststellung der Mitgliedschaft eine Art Wahlrecht des Inhalts eröffnet, entweder Leistungen in Anspruch zu nehmen und dann die Beiträge zu entrichten oder die Entrichtung von Beiträgen zu verweigern, sich damit aber etwaiger Leistungsansprüche zu begeben. Dies ist jedoch nicht ohne Weiteres auf andere Sachverhalte zu übertragen, in denen das Bestehen einer Versicherung und der entsprechenden Beitragspflicht zunächst unbekannt und unsicher gewesen ist, insbesondere dann nicht, wenn dieses auf einer Verletzung von Meldepflichten beruht und der meldepflichtige Tatbestand dem zuständigen Versicherungsträger nicht anderweitig bekannt war (vgl BSG vom 4.6.1991 - 12 RK 52/90 = BSGE 69, 20, 24 f = SozR 3-2200 § 381 Nr 2).
2. Die Unkenntnis des Versicherten bzw des Beitragspflichtigen vom Bestehen der Versicherung schließt eine Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus (vgl BSG vom 13.12.1984 - 11 RK 3/84 = SozR 5420 § 2 Nr 33).
Normenkette
SGB 5 § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 186 Abs. 1, § 226 Abs. 1; SGB 11 § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, § 57 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. März 2012 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 27 089 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten in dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit darüber, ob Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung zu entrichten sind.
Die Beigeladenen zu 2. und 3. waren privat kranken- und pflegeversichert und bei der Klägerin beschäftigt. Bis 31.12.2002 bzw bis 31.12.2003 bestand für sie wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung, in den Jahren 2003 bzw 2004 bestand insoweit Versicherungspflicht wegen des Unterschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze, ohne dass die Klägerin entsprechende Beiträge entrichtete.
Der beklagte Rentenversicherungsträger stellte nach einer für den Zeitraum vom 1.1.2003 bis 31.12.2006 durchgeführten Betriebsprüfung mit Bescheid vom 7.5.2008 fest, dass die Klägerin noch Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 30 771,11 Euro zu entrichten habe. Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Das LSG hat die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt hat, die Bescheide der Beklagten aufzuheben, soweit Beiträge von mehr als 3682,11 Euro nachgefordert werden, zurückgewiesen (Urteil vom 13.3.2012).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist in entsprechender Anwendung von § 169 S 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat in ihrer Begründung des Rechtsmittels mit Schriftsatz vom 13.6.2012 entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet. Es kann offen bleiben, ob die Ausführungen der Klägerin in ihren weiteren Schriftsätzen vom 30.7.2012 und 21.8.2012 geeignet wären, einen Revisionsgrund in der erforderlichen Weise darzulegen, weil diese Schriftsätze nicht innerhalb der bis 16.6.2012 verlängerten Frist zur Begründung der Beschwerde eingegangen sind.
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung der inhaltlichen Unrichtigkeit der Berufungsentscheidung ist demgegenüber kein Zulassungsgrund.
Die Klägerin beruft sich allein auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache lässt sich nur darlegen, indem die Beschwerdebegründung ausführt, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN; vgl auch BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7 und BVerfG SozR 4-1500 § 160a Nr 12, 24). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im Allgemeininteresse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Eine Rechtsfrage, die das BSG bereits entschieden hat, ist nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine grundsätzliche Bedeutung haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder erneut klärungsbedürftig geworden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65). Dies muss substantiiert vorgetragen werden. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung im Schriftsatz vom 13.6.2012 nicht.
Die Klägerin hält die Frage für klärungsbedürftig, "ob sich die Bf. zu Recht auf das Äquivalenzprinzip berufen kann mit der Folge, dass sich der angefochtene Bescheid der Bg. als rechtswidrig erweist". Zur Begründung führt sie aus, diese Frage sei vom BSG noch nicht in grundsätzlicher Hinsicht bzw mit Blick auf die vorliegende Sachverhaltsgestaltung entschieden worden. In seinem Urteil vom 10.4.1988 (richtig: 4.10.1988 - SozR 2200 § 182 Nr 113) habe sich das BSG mit einem anderen Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Nicht entschieden worden sei, ob der Krankenversicherungsträger bei einer "rückwirkenden Aktivierung" des gesetzlichen Versicherungsverhältnisses die zunächst nicht gezahlten Krankenversicherungsbeiträge auch dann einfordern könne, wenn feststehe, dass der Versicherte seinerzeit irgendwelche Leistungen des Krankenversicherungsträgers für den Zeitraum nicht mehr beanspruchen werde. Allerdings habe das BSG in dieser Entscheidung die Geltung des Äquivalenzprinzips im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich anerkannt, während die gestellte Frage von den Instanzgerichten unterschiedlich entschieden werde. Mit diesen Ausführungen legt die Beschwerdebegründung eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dar.
Es kann offen bleiben, ob die Klägerin mit der von ihr formulierten Frage ohnehin nicht lediglich eine Frage zur Anwendung des Rechts in ihrem konkreten Einzelfall stellt. Jedenfalls hätte sie näher ausführen müssen, aus welchen Gründen die Beantwortung der gestellten Frage nicht schon anhand der im zitierten Urteil des BSG enthaltenen Rechtsgrundsätze zu beantworten, also nicht bereits geklärt ist. Allein der Hinweis auf eine abweichende Fallgestaltung genügt dazu nicht. Soweit die Klägerin ua auf den Seiten 8 bis 12 ihres Schriftsatzes vom 13.6.2012 darlegt, aus welchen Gründen sie die Argumentation des LSG nicht für zutreffend hält und inwieweit der Arbeitgeber belastet werde, rügt sie im Kern lediglich eine nach ihrer Auffassung unzutreffende Rechtsanwendung durch das LSG, die - wie oben ausgeführt - nicht zur Zulassung der Revision führen kann. Auch ihr Vorbringen, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor, der zu einer grundsätzlichen Frage führe, die die Zulassung der Revision erfordere, weil auch insoweit keine höchstrichterliche Entscheidung, insbesondere keine Entscheidung des BSG vorliege, und ihr Hinweis auf eine mit Klage und Berufung erhobene "Mehrheit sonstiger verfassungsrechtlicher Einwendungen" (ua Seite 11 ihres Schriftsatzes vom 13.6.2012) zeigen die konkrete Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage bezogen auf die speziell im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren geltenden Erfordernisse des § 160a Abs 2 S 3 SGG im Einzelnen nicht hinreichend auf.
Soweit die Klägerin darauf verweist, das LSG habe selbst eine grundsätzliche Frage iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG formuliert, indem es ausgeführt habe, die Rechtsprechung des BSG zum Gegenleistungs- und Äquivalenzprinzip beziehe sich in erster Linie auf das sozialrechtliche Versicherungsverhältnis zwischen Sozialversicherungsträger und Versichertem und lasse sich nicht ohne Weiteres auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger übertragen, wird die Klärungsbedürftigkeit damit nicht dargelegt. Dies gilt auch, soweit die Klägerin die Frage formuliert, "ob sich die Bf. als Arbeitgeber auf die Geltung des Äquivalenzprinzips berufen kann". Allein mit dem Hinweis, diese Frage sei noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des BSG gewesen, wird die Klärungsbedürftigkeit nicht aufgezeigt. Hierzu hätte die Beschwerdebegründung vielmehr darlegen müssen, dass und warum die Antwort auf die gestellte Frage auch nicht sonstigen höchstrichterlichen Entscheidungen zu entnehmen ist (vgl dazu allgemein zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 und § 160a Nr 21), hier ua dem vom LSG zitierten Urteil des BSG vom 18.1.1990 (4 RK 4/88 - USK 90160) sowie dem Urteil vom 4.6.1991 (12 RK 52/90 - BSGE 69, 20 = SozR 3-2200 § 381 Nr 2). Der Senat hat ua im Urteil vom 4.6.1991 bereits ausgeführt, dass dem Versicherten bei einer rückwirkenden Feststellung der Mitgliedschaft eine Art Wahlrecht des Inhalts eröffnet wird, entweder Leistungen in Anspruch zu nehmen und dann die Beiträge zu entrichten oder die Entrichtung von Beiträgen zu verweigern, sich damit aber etwaiger Leistungsansprüche zu begeben. Er hat jedoch darauf hingewiesen, dass dies nicht ohne Weiteres auf andere Sachverhalte zu übertragen ist, in denen das Bestehen einer Versicherung und der entsprechenden Beitragspflicht zunächst unbekannt und unsicher gewesen ist, insbesondere dann nicht, wenn dieses auf einer Verletzung von Meldepflichten beruht und der meldepflichtige Tatbestand dem zuständigen Versicherungsträger nicht anderweitig bekannt war (vgl BSGE 69, 20, 24 f = SozR, aaO). Auch betrifft diese Rechtsprechung nach den darin gemachten Ausführungen des Senats nur die Entrichtung des Eigenanteils an den Beiträgen durch den grundsätzlich leistungsberechtigten Versicherten selbst, nicht hingegen die Beitragspflicht und die Beitragszahlungspflicht im Übrigen, wie die Einbehaltung und Abführung des Beitragszuschusses durch Dritte (dort: nach § 393a Abs 1 RVO). Auch hätte es der Auseinandersetzung mit dem Urteil des BSG vom 13.12.1984 (11 RK 3/84 - SozR 5420 § 2 Nr 33) bedurft, nachdem die Unkenntnis des Versicherten bzw des Beitragspflichtigen vom Bestehen der Versicherung eine Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ausschließt. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang verfassungsrechtliche Fragen für grundsätzlich bedeutend hält, fehlt es ebenfalls an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Hierzu hätte es insbesondere einer näheren Auseinandersetzung mit der schon vom LSG zitierten Rechtsprechung des BVerfG bedurft. Hieran fehlt es.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, da sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzung der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 und § 162 Abs 3 VwGO.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren war gemäß § 197a Abs 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 GKG entsprechend der von den Beteiligten nicht beanstandeten Streitwertfestsetzung durch das LSG für das Berufungsverfahren in Höhe der streitigen Beitragsforderung festzusetzen.
Fundstellen