Zeitautonomie für Deskless Worker

Während Mitarbeitende in Bürojobs in den vergangenen Jahren zunehmend an Arbeits­zeitautonomie gewonnen haben, hat sich bei der Deskless Workforce wenig verändert - für viele Beschäftigte in der Produktion, auf dem Shop­floor und in der Pflege hat sich die Situation sogar verschlechtert. Dabei zeigen einige Unter­nehmen, dass es auch anders geht.  

"And the Looser is? Blue Collar. Drei Indizien, dass HR Blue-Collar-Bereiche ignoriert". Am 21. Oktober 2020 habe ich diesen Artikel auf Linkedin veröffentlicht und damit die Diskussion bezüglich der Ungleichbehandlung der Deskless Workforce gegenüber den kaufmännischen Bereichen angestoßen und auch danach das Thema immer wieder auf den Tisch gebracht. Denn wir schreiben mittlerweile das Jahr 2025 und aus meiner Sicht hat sich kaum etwas geändert. Fast jede New-Work-Sau, die durchs Dorf getrieben wird, bezieht sich überwiegend auf Büroarbeit oder ist dort zumindest einfacher umzusetzen als in der Industrie oder im Gesundheitswesen. 

Deskless Worker werden oft vernachlässigt

Beispiele gefällig? Beim Homeoffice ist es offensichtlich, aber auch die zwischendurch gehypte Vier-Tage-Woche ist im Büro einfacher einzuführen als im Industriebetrieb. Inzwischen wird sogar über "Null-Bock-Tage" diskutiert. Es mag sein, dass es keinen großen Unterschied macht, wenn Controllerinnen oder Controller mal einen Tag nicht arbeiten, da die Arbeit auch nachgeholt werden kann. Aber im Krankenhaus würden Patienten nicht richtig versorgt oder auf dem Shopfloor stünde die Maschine still. 

Es gibt zwar zunehmend Leuchtturm-Projekte in der Industrie oder in anderen Branchen wie dem Handel und der Pflege, aber diese sind immer noch in der Minderheit. Mittlerweile haben auch Unternehmen gemerkt, dass die Schere zwischen Verwaltung und operativen Bereichen zu weit auseinandergegangen ist. Aber anstatt die Situation für die Deskless Workforce zu verbessern, reduziert man lieber wieder die Homeoffice-Möglichkeiten. 

Schluss mit New Work?

In der aktuellen Krise habe ich manchmal den Eindruck, dass manche Menschen regelrecht erleichtert sind, dass sie jetzt mit den New-Work-Gedöns endlich wieder aufhören können, obwohl in den meisten Fällen ohnehin nur Fake-New-Work in Form von Tischkicker und Obstkorb betrieben wurde. An die wirklichen, strukturellen Themen wie Führungskultur, Eigenorganisation und Selbstverantwortung haben sich nur die wenigsten gewagt, nicht einmal bei den Bürojobs und erst recht nicht bei der Deskless Workforce. Manchmal passierte das aus Desinteresse, oft jedoch, weil man sich nicht vorstellen kann, wie in den Produktionshallen, auf den Shopfloors sowie in Pflegeheimen und Kliniken wirtschaftliche und humane Lösungen jenseits starrer und vollgepackter Schichtpläne aussehen könnten. 

Zeitautonomie ist bei der Deskless Workforce mit Abstrichen möglich 

Es ist richtig, dass Zeitautonomie in einer getakteten Fertigung deutlich schwieriger umzusetzen ist als bei Büroarbeiten. Das heißt aber nicht, dass es unmöglich wäre. Am einfachsten kann man Mitbestimmung bei der Arbeitszeit über eine digitale Personaleinsatzplanung ermöglichen. Mitarbeitende können per App bestimmte Schichten wünschen beziehungsweise Schichten oder freie Tage mit Kolleginnen und Kollegen tauschen. Arbeitgeber können bedarfsabhängig Zusatz- oder Freischichten anbieten, die die Beschäftigten freiwillig wählen können. Unter bestimmten Voraussetzungen ist sogar Gleitzeit möglich. 

Kurzfristige Zeitautonomie wie bei der Gleitzeit, bei der man am Arbeitstag selbst entscheiden kann, ob man länger oder kürzer arbeitet, ist am wenigsten bei getakteten Fertigungen möglich. Wenn rund um die Uhr Maschinen bedient werden müssen, ist es schwer zu kompensieren, wenn Mitarbeitende eine Stunde später kommen oder entsprechend früher gehen. Deshalb empfehle ich all meinen Kunden, bei dem Aufbau von Fertigungsstraßen bewusst nach Arbeitsplätzen Ausschau zu halten, die sie aus dem Takt herauslösen können oder bei denen uhrzeitunabhängig ein Teilprodukt gefertigt wird, das später wieder in den getakteten Prozess eingeschleust wird. An derartigen Arbeitsplätzen ist es egal, ob man um sechs oder um acht Uhr anfängt, ob man fünf oder sieben Stunden arbeitet. Solange die benötigte Sollmenge an einem Tag produziert wird, können die Mitarbeitenden flexibel agieren. Diese Art der Arbeitsplätze könnten Arbeitgeber Eltern anbieten, die Kinder in eine Betreuungseinrichtung bringen oder daraus abholen möchten. 

Doch zum heutigen Stand spielen die Bedürfnisse von Mitarbeitenden bei der Produktionsplanung faktisch keine Rolle. Immer noch gilt: Der Mensch muss sich dem technologisch optimalen Prozess unterordnen. Das können Arbeitgeber definitiv besser machen – auch mit Blick auf ihre wirtschaftlichen Ergebnisse. Denn in einer Vollkostenbetrachtung, die auch Kranken- und Fluktuationsquoten einbezieht, kann eine technologisch hoch effiziente, aber inhumane Produktionsstraße weniger wirtschaftlich sein als eine etwas weniger effiziente, die die Bedürfnisse der Beschäftigten berücksichtigt. 

Produktion mit Inselfertigung statt Takt

Deutlich mehr Flexibilitätsmöglichkeiten als eine getaktete Serienfertigung bietet die Inselfertigung. Hier werden mehrere Arbeitsschritte einer getakteten Fertigung in einer Fertigungsinsel zusammengefasst und mit Ein- und Ausgangspuffern versehen. Ein Teil der Autonomie besteht darin, dass die Mitarbeitenden untereinander frei wählen können, wer wie lange welchen der Arbeitsschritte durchführt und wann getauscht wird, damit die Arbeit weder langweilig noch einseitig belastend wird. Erhöht man die Bestände an Ein- und Ausgangspuffern, kann eine Gleitzeit ermöglicht werden. Solange der Eingangspuffer nicht voll wird, und damit die vorhergehende Fertigungsstufe ihr Ausgangsprodukt nicht mehr loswird, und der Ausgangspuffer nicht leer wird, sodass die Folgeinsel nicht weiterarbeiten kann, können die Mitarbeitenden später kommen oder früher gehen oder zwischendurch die Arbeit unterbrechen. 

Dieser Ansatz widerspricht allerdings der Lehre des Lean-Management oder der Supply-Chain-Steuerung, in denen Pufferbestände wegen der Materialkosten möglichst weit gesenkt werden oder sogar bis hin zu just-in-time-Strategien komplett vermieden werden. Aber auch diese beliebten Management-Ansätze ignorieren die Bedürfnisse der Menschen. Puffer können Bedarfsschwankungen egalisieren und damit einen Produktionsprozess deutlich stabilisieren und für alle Beteiligten stressfreier machen. 

Automatisierung und Digitalisierung der Produktion als Basis 

Automatisierung und Digitalisierung werden in den nächsten Jahren ohnehin unerlässlich sein, wenn in Deutschland die verfügbaren Fachkräfte weiter zurückgehen und menschliche Arbeitskraft ersetzt werden muss. Dabei sollten Arbeitgeber nicht nur wegen der Produktivitätssteigerungen auf Automatisierung setzen, sondern sie sollten diese auch als Chance für mehr Flexibilität sehen. Wenn Anlagen acht oder mehr Stunden bedienerlos produzieren können, können sie auch Arbeitszeitautonomie ermöglichen. Stellen Sie sich vor, eine App zeigt jeweils den Status der Anlage und den Füllstand des Ein- und Ausgangspuffers an. Die Aufgabe der Beschäftigten ist es zu überwachen, dass die jeweiligen Puffer nicht leer oder voll werden. Bei acht Stunden Laufzeit können sie dann selbst entscheiden, wann sie in die Firma gehen, um die Puffer zu befüllen oder zu entleeren. Das ist keine Science-Fiction. Ich kenne Unternehmen, in denen das bereits heute so funktioniert. Und plötzlich sind Gleitzeit und Zeitautonomie in der Produktion möglich.

Tipp: Mitarbeiter-Apps bieten verschiedene Funktionen, um den Arbeitsalltag zu erleichtern, die Kommunikation zu verbessern, den Schichttausch zu unterstützen und die Mitarbeiterbindung zu fördern. Manche haben ihren Ursprung im Workforce Management, andere in der Kommunikation oder Kollaboration. Die Angebotsvielfalt ist groß. Für diese Übersicht haben wir neun Anbieter beispielhaft ausgewählt.

Gruppenarbeit: Im Team zur Zeitautonomie der Deskless Workforce

Bei kleinen Teams bis zu acht Personen bietet es sich an, die Möglichkeit der Gruppenarbeit zu schaffen. Die Grundidee ist, dass sich die Gruppe innerhalb eines Bedarfs selbst organisiert. Solange ein Wochenziel erreicht wird, können die Mitarbeitenden innerhalb definierter Spielregeln untereinander ausmachen, wer wann wie lange arbeitet oder wer wann Urlaub macht. Die Basis hierfür sind allerdings reife, konfliktfähige Teams mit einer entsprechenden Führung. 

Am einfachsten ist das in einschichtig arbeitenden Bereichen umzusetzen. Immer wenn Mehr- oder Minderbedarf anstehen, entscheidet das Team darüber, wie diese abzufangen sind: Sollen die Schichten an einzelnen Tagen länger werden oder wird am Samstag zusätzlich gearbeitet? Ist weniger zu tun, wird beschlossen, ob an den einzelnen Tagen kürzer gearbeitet wird oder ob die Arbeitszeit von Montag bis Donnerstag verlängert wird, um am Freitag frei zu haben. 

Auch diese Arbeitsform ist keine Science-Fiction, sondern bereits in einigen Unternehmen umgesetzt. So haben wir in einem Projekt bei der Berliner Stadtreinigung Gruppenarbeit bei den Reinigungskräften umgesetzt und die Mitarbeiterzufriedenheit ist innerhalb eines Jahres um elf Prozent gestiegen. Dieses Projekt erreichte 2020 beim Deutschen Personalwirtschaftspreis den zweiten Platz.

Wahlmöglichkeiten schaffen langfristige Autonomie

Üblicherweise gibt es in den Unternehmen für einen Bereich einen Schichtplan und einige Teilzeitmodelle. Nach wie vor ist Teilzeit aber aus Unternehmenssicht oft unbeliebt. Dabei vergeben Arbeitgeber die Chance, Arbeitszeitmodelle aktiv anzubieten, die sich für sie sogar sehr positiv auswirken könnten. Modelle, die durchschnittlich drei oder vier Tage pro Woche vorsehen, bei denen bei Bedarfsspitzen oder in der Urlaubszeit Vollzeit gearbeitet und in Phasen mit geringerer Auslastung mehr Freizeit anfällt, können für Mitarbeitende attraktiv sein und zudem dem Unternehmen helfen. Statt eines starren Schichtplans können Arbeitgeber mehrere Modelle mit unterschiedlichen Flexibilitätsgraden anbieten, die die Mitarbeitenden je nach Lebensphase freiwillig wählen können. 

In einem Projekt haben wir es ermöglicht, dass die Mitarbeitenden von Jahr zu Jahr eine Wochenarbeitszeit zwischen 33,6 und 40 Stunden wählen können. Die damit verbundene Anzahl an Einbringschichten kann das Unternehmen bedarfsorientiert verplanen. Dieses Projekt wurde 2023 mit dem HR Award in Österreich ausgezeichnet.

Die Bedürfnisse der Deskless Workforce 

Kaufmännisch Angestellte haben in der Regel eine klare Struktur: Montag bis Freitag wird gearbeitet und dann ist zwei Tage Wochenende. In teil- und vollkontinuierlichen Betrieben wird diese Logik durchbrochen. Oft haben die Beschäftigten dort nur ein freies Wochenende pro Monat und die anderen freien Tage unter der Woche. Daher gibt es auch ein großes Bedürfnis, die freien Tage möglichst lange im Voraus zu kennen. In klassischen Schichtplänen war das lange der Fall. Mittlerweile wird aber der Flexibilitätsbedarf der Unternehmen immer größer. Die Auftragsschwankungen nehmen zu, Lieferketten werden unterbrochen und plötzlich wird in einer Schicht nicht produziert und diese muss an anderer Stelle nachgeholt werden. Selbst in Drei-Schicht-Bereichen, die "nur" von Montag bis Freitag produzieren, muss immer häufiger samstags gearbeitet werden, um die in der Woche aufgelaufenen Rückstände aufzuholen. Die Folge: Immer mehr Sechs-Tage-Wochen, kurze Wochenenden und eine hohe Belastung. 

Der Vorteil der Planbarkeit der starren Schichtpläne trifft immer weniger zu. Im Gegenzug müsste daher der Einfluss auf die eigene Arbeitszeit steigen, frei nach dem Motto: Ich kenne zwar meine freien Tage nicht mehr so langfristig, dafür habe ich selbst auch Einfluss darauf, wo sie liegen. Aktuell sehe ich aber bei den meisten Unternehmen nur, dass die Planbarkeit sinkt, aber der Einfluss auf die eigene Arbeitszeit weiterhin nicht vorhanden ist. Die hohen Krankenstände in der Industrie kommen nicht von ungefähr.

Die Schere geht weiter auf

Während man in einigen Produktionshallen sanitäre Einrichtungen vorfindet, die mit dreckigen, weißen Kacheln an Schlachtbetriebe aus den 1950er-Jahren erinnern, werden für Angestellte Bürogebäude mit Baristalounges errichtet. Das mag nicht in der Mehrheit der Unternehmen so sein, aber es sind definitiv auch keine Einzelfälle. Bei Mitarbeiterinterviews, die standardmäßig zu unseren Projekten gehören, wurde mir von der Produktionsleitung beispielsweise gesagt, ich solle doch bei Bedarf lieber die Toiletten im Angestelltenbereich nutzen. Ich habe dann bewusst die Sanitäranlagen in der Produktion genutzt und wusste danach, warum ich den Tipp bekommen hatte. Es kann doch heutzutage nicht zu viel verlangt sein, dass man Mitarbeitenden menschenwürdige und regelmäßig gereinigte Toiletten zur Verfügung stellt. Genauso sollte auch in der Produktion und im Lager Kaffee und Wasser zur Verfügung gestellt werden, wenn dies in den Verwaltungstrakten üblich ist. Und zwar in der gleichen guten Qualität. Denn ansonsten entsteht eine "Wir unten"- und "Die da oben"-Mentalität, die sich schnell verfestigt und vertieft, was sich zunehmend auch in gesellschaftlichen Entwicklungen widerspiegelt.

HR muss einen stärkeren Fokus auf die Deskless Workforce legen

Der Impuls zum Schreiben des zu Beginn angesprochenen Linkedin-Artikels kam auch durch das Programm von HR-Veranstaltungen wie der Zukunft Personal im Jahr 2020. In diesem Artikel hatte ich geschrieben: "Während es viele Themen gab, die sich ausschließlich dem White Collar-Bereich widmen (…), habe ich nicht einen einzigen Vortrag gehört, der sich ausschließlich damit beschäftigt hat, wie man die Arbeitssituation der Beschäftigten in Blue-Collar-Bereichen beziehungsweise der "Systemrelevanten" verbessern kann." Das war 2020 und ich bezweifle, dass es in den Folgejahren grundsätzlich besser wurde.

Anstatt über immer bessere Recruiting-Prozesse und Employer Branding zu debattieren, sollten Arbeitgeber erst einmal die Situation so verbessern, dass die Fluktuation geringer wird und dass sie ihren Personalmarketing-Botschaften gerecht werden. Ansonsten ist es so, als ob sie in einem lecken Boot den Eimerschöpfprozess optimieren, statt die Löcher im Rumpf zu stopfen. HR sollte daher gezielt die Bedürfnisse der operativen Beschäftigten abfragen und stark an der Unternehmenskultur und den Arbeitszeitsystemen arbeiten. 

Manchmal kann schon eine Reihenfolge ein Signal setzen. Bei einem Unternehmen arbeiten wir gerade in einem Projekt, in dem die Arbeitszeiten für die Mitarbeitenden aus der Produktion verbessert werden sollen. Erst danach kommt das Projekt für die Verwaltungsbereiche. Das wird durchaus positiv wahrgenommen. 

HR sollte bei jeder Verbesserung im Angestelltenbereich immer mitdenken, ob und wie diese auch in den operativen Bereichen umgesetzt werden kann. Sollte das nicht möglich sein, dann heißt dies nicht, dass man es den Angestellten verwehren sollte, denn sonst landen wir immer beim kleinsten gemeinsamen Nenner. Dann sollte man aber umso mehr darüber nachdenken, was man den Deskless Workern ermöglichen könnte, was wiederum bei den Angestellten nicht geht.

Tipp: Mitarbeiter-Apps bieten verschiedene Funktionen, um den Arbeitsalltag zu erleichtern, die Kommunikation zu verbessern, den Schichttausch zu unterstützen und die Mitarbeiterbindung zu fördern. Manche haben ihren Ursprung im Workforce Management, andere in der Kommunikation oder Kollaboration. Die Angebotsvielfalt ist groß. Für diese Übersicht haben wir neun Anbieter beispielhaft ausgewählt.


Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 6/2025. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


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Schlagworte zum Thema:  New Work, Schichtarbeit, Work Life Balance