Wie Gesundheitsförderung in Krisenzeiten funktioniert
Noch nie war betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) so entscheidend wie heute. Globale Unsicherheiten, digitale Transformationen, geopolitische Spannungen und eine alternde Belegschaft verändern die Arbeitswelt tiefgreifend. Gleichzeitig nehmen psychische Belastungen und chronische Erkrankungen zu. Unternehmen stehen unter hohem wirtschaftlichem Druck. Dennoch ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu investieren.
Denn: Gesunde Mitarbeitende sind produktiver, engagierter und loyaler. Unternehmen, die Gesundheit strategisch fördern, steigern nicht nur ihre Arbeitgeberattraktivität, sondern auch ihre Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten. Doch in der Praxis wird Gesundheitsförderung häufig als "weiches Thema" eingeordnet - und ist damit in wirtschaftlich angespannten Zeiten eines der ersten Budgetopfer. Ein Fehler mit weitreichenden Folgen.
Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie ist die Grundlage für Leistungsfähigkeit, Kreativität, Anpassungsfähigkeit, kurz: für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Und da die meisten Beschäftigten einen überwiegenden Anteil ihrer Wachzeit mit Arbeit verbringen, haben gute Gesundheitskulturen in Unternehmen immense positive gesellschaftliche Auswirkungen, die weit über den Arbeitskontext hinausgehen.
Gelebte Gesundheitskultur im Unternehmen
Gesundheit am Arbeitsplatz ist weit mehr als Rückenkurse oder der berühmte Obstkorb. Eine gelebte Gesundheitskultur kann nur als integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie und -kultur existieren. Sie umfasst die physische, psychische, soziale und finanzielle Gesundheit der Beschäftigten.
Eine solche Kultur entsteht nicht durch Einzelmaßnahmen, sondern durch Haltungen und konkretes Verhalten: Wie sprechen Führungskräfte über Belastung? Wird Erschöpfung als Schwäche gesehen – oder als Signal ernst genommen? Wie werden Arbeitszeiten, Pausen, Erreichbarkeit und Erholung im Alltag tatsächlich gelebt?
Meine Gesundheit und die meiner Kolleginnen und Kollegen muss zur selbstverständlichen Priorität werden – ähnlich wie Qualität oder Sicherheit. Nur wenn Gesundheitsförderung systematisch und systemisch gedacht und strukturell verankert ist, entfaltet sie ihre volle Wirkung.
Schritte zur Etablierung einer nachhaltigen Gesundheitskultur
Eine wirkungsvolle Gesundheitskultur entsteht nicht zufällig – sie braucht Struktur, Strategie und Haltung. Der Prozess beginnt mit einer fundierten Analyse und führt über klare Ziele und konsequente Umsetzung zu einer gelebten Gesundheitsstrategie.
1. Analyse & Bedarfsermittlung
Basis jeder erfolgreichen BGF ist eine datenbasierte Analyse. Neben Fehlzeitenstatistiken sind Mitarbeiterbefragungen und Pulsbefragungen entscheidend. Ergänzt werden diese durch psychische Gefährdungsbeurteilungen, Arbeitsplatzanalysen und branchen- und rollenspezifische Belastungsprofile. Die physische und psychische Beanspruchung in der Produktion unterscheidet sich grundlegend von der im Homeoffice – beides braucht unterschiedliche Herangehensweisen.
2. Zielsetzung & Strategieentwicklung
Auf Basis der Analyse werden strategische Ziele formuliert, z. B. Reduktion von Fehlzeiten, Verbesserung der Zufriedenheit der Mitarbeitenden, Senkung von Fluktuationen, Stärkung psychischer Resilienz. Diese Ziele müssen messbar sein, z. B. durch KPIs wie Krankenquote, Nutzung von Gesundheitsangeboten oder durch aus Befragungen abgeleitete Indizes wie einem Engagement oder einem Business Health Index.
3. Umsetzung von Maßnahmen
Die Umsetzung erfolgt in mehreren Dimensionen:
- Physisch: Dazu gehören die an die jeweiligen Aufgaben angepasste ergonomische Arbeitsplätze, gesundes Licht-, Geräusch- und Raumklima, Bewegungsförderung durch Arbeitswege, Steh- und Gehmeetings oder aktives Pausenmanagement. Letztere können durch auf kurze Pausen im Arbeitskontext optimierte und App-basierte Bewegungsprogramme unterstützt werden.
- Ernährung: Impulse zu gesunder Ernährung über Workshops, Apps oder das Intranet sind hilfreich, wichtiger ist jedoch, dass alle Beschäftigten während ihrer Arbeitszeit Zugang haben zu gesunden Essensoptionen, z. B. in Kantinen oder über Essensgutscheine oder Lieferboxen. Das ist vermutlich einer der größten Kostentreiber, aber immer noch günstiger, wenn man die negativen Folgen von schlechter Ernährung berücksichtigt. Wer ist nach einer fettigen Pizza zu Mittag denn noch voll leistungsfähig? EInmal ganz zu schweigen von den langfristigen Konsequenzen für den Körper.
- Psychisch: Wenn wir (langfristig) gestresst sind, haben wir dafür nur schwach ausgeprägte Sensoren - mit körperlichen Konsequenzen, wenn sich der chronische Stress zu permanenten Entzündungsherden führt. Daher braucht es präventive Angebote von besserer individueller Stresskompetenz über Resilienztrainings bis hin zu professioneller Einzelberatung, Supervisionen und Teamworkshops.
- Sozial: Einer der wichtigsten Faktoren für unser allgemeines Wohlbefinden ist das Gefühl der Zugehörigkeit. Aufbau von Peer-Angeboten, Stärkung der Führungskommunikation und regelmäßige Check-ins können dazu beitragen.
- Finanziell: Hier geht es nicht darum, dass alle immer mehr Geld bekommen. Hier geht es zum einen um elementare Grundbedürfnisse wie (Arbeitsplatz-)Sicherheit, das Gefühl von ausreichender (auch finanzieller) Anerkennung und das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Letzteres lässt sich gerade für die jüngere Generation durch Schulungen zu Finanzthemen wie Steuern, richtiger Umgang mit Geld, Altersvorsorge und Anlagen unterstützen.
- Strukturell: Hierzu gehören die Möglichkeit, lebensphasengerecht Anpassung von Arbeitszeitmodellen vornehmen zu können, sowie eine (Meeting)Kultur, die durchgängige, mehrstündige Meetings nicht gutheißt und die digitale Auszeiten und klare Pausenregelungen vorsieht.
4. Führungskräfte einbinden
Führungskräfte sind zentrale Multiplikatoren. Sie brauchen nicht nur das relevante Wissen um die Zusammenhänge, sondern auch erprobte und bekannte Werkzeuge für die Umsetzung. Schließlich brauchen sie selbst die Unterstützung in der Organisation sowie eine gelebte Haltung durch das Top-Management. Denn ohne werden die besten Programme zu z. B. "Healthy Leadership" nicht verfangen.
5. Evaluation & Nachjustierung
Gesundheitsmaßnahmen müssen regelmäßig evaluiert werden. Erfolgskennzahlen umfassen neben klassischen bereits genannten Indikatoren auch qualitative Daten wie Feedback oder psychologische Sicherheit im Team.
Warum sich eine Gesundheitskultur wirtschaftlich lohnt
Die betriebswirtschaftlichen Vorteile einer funktionieren Gesundheitskultur sind in der Forschung gut belegt. Relevant ist dabei z. B. die jüngste Studie von De Neve et al. (2024) auf Basis von über einer Million Mitarbeitenden-Bewertungen aus 1.782 börsennotierten US-Unternehmen: Ein höherer Wellbeing-Score ist demnach prädiktiv für höhere Rentabilität, Kapitalrendite und Unternehmenswert. Ein Standardabweichungspunkt mehr im Wellbeing-Wert führt zu einer um bis zu 2,29 Milliarden US-Dollar höheren Jahresprofitabilität. Zudem schneiden Unternehmen mit hoher Mitarbeiterzufriedenheit langfristig besser an der Börse ab.
Auch im Kontext von ESG gewinnen Gesundheitsaspekte an Bedeutung. Die soziale Nachhaltigkeit wird zunehmend durch langfristige Beschäftigungsfähigkeit und psychische Gesundheit definiert. Eine bessere und längere Gesundheit reduziert Krankheitskosten, verringert den Druck auf soziale Sicherungssysteme und fördert ein stabiles Erwerbsleben. Arbeitgeber, die hier proaktiv handeln, profitieren doppelt – durch Resilienz im Unternehmen und durch gesellschaftliche Anerkennung.
Gesundheitsförderung trotz Personalabbau
Gerade in Krisenzeiten – sei es durch wirtschaftliche Transformation, Umstrukturierung oder Personalabbau – ist die Versuchung groß, Gesundheitsinitiativen zurückzufahren, da sie nicht sofort geschäftsrelevant zu sein scheinen. Es ist ein wenig wie mit unserer eigenen Gesundheit: Unter individuellem Stress vergessen wir manchmal alles, was wir über gesundes Verhalten gelernt und praktiziert haben. Doch das ist immer ein strategischer Fehler. Zum einen zeigen die Studien aus dem Abschnitt zuvor die positiven Auswirkungen dieser Investitionen. Zum anderen erreichen psychische Belastungen, Unsicherheit und Stress in solchen Phasen oft ihren Höhepunkt. Denn Unternehmen, die hier gezielt unterstützen, stärken nicht nur das Vertrauen ihrer Mitarbeitenden, sondern sichern kurzfristig Leistungsfähigkeit und langfristig Motivation und Produktivität.
Und diese Unterstützung muss nicht immer teuer sein. Nehmen wir das Beispiel Transformation von Geschäftsbereichen. Unternehmen brauchen diese Mittel, um selbst auf sich verändernde Marktbedingungen reagieren zu können. Dies steht im Konflikt mit dem Wunsch von vielen Beschäftigten nach Stabilität und Sicherheit. Wenn wir genauer hinschauen, so ist dieser Wunsch jedoch nicht universell. Denn die meisten Menschen verändern ständig etwas in ihrem Leben: sie gründen Familien, bauen Häuser, ziehen um, wechseln den Arbeitgeber und so fort. Das sind in der Regel Veränderungen, die die Menschen selbst initiieren. Übertragen auf den Unternehmenskontext bedeutet das, dass es sich lohnt, die Betroffenen mindesten frühzeitig zu informieren und im Idealfall auch mitwirken zu lassen (nein, das ist jetzt keine Basisdemokratie, aber aus der Psychologie wissen wir, dass alleine das Gefühl, gehört zu werden und seine Meinung kundzutun, die wahrgenommene Passivität verringert und Motivation steigert).
Weitere Maßnahmen in Zeiten von Krisen und Transformationen, die wenig kosten, sind:
- Haltung statt Hochglanz: Eine wertschätzende, offene Kommunikation kostet nichts – wirkt aber unmittelbar.
- Psychologische Sicherheit im Team: Führungskräfte, die offen über Unsicherheiten sprechen, geben anderen die Erlaubnis, das auch zu tun.
- Peer-Support: Kollegiale Unterstützungsformate wie Tandems oder Gesprächsgruppen lassen sich ohne zusätzliche Kosten realisieren.
- Gesunde Rituale und "Tiny Habits": Kurze Achtsamkeitsübungen, bewegte Pausen oder digitale Detox-Impulse können mit wenig Aufwand in den Alltag als effektive Mini-Routinen integriert werden.
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