Wertewandel bei der Arbeitszeit: Interview mit Cawa Younosi

Wer länger arbeitet als die Kollegen, leistet mehr und macht Karriere – dieses Denken entspricht nicht mehr den heutigen Wertvorstellungen, meint Cawa Younosi, Head of Human Resources und Mitglied der Geschäftsführung von SAP Deutschland. Im Interview spricht er über HR-Instrumente, die ein neues Verhältnis zur Arbeitszeit prägen können.

Haufe Online Redaktion: Sie setzen bei SAP seit vielen Jahren auf Vertrauensarbeitszeit und Vertrauensarbeitsort. Was heißt das konkret?

Cawa Younosi: Wir zählen die Arbeitsstunden nicht, Hauptsache ist das Ergebnis. Wenn Mitarbeiter liefern, interessiert uns nicht, wann und wo sie das tun – im Büro oder im Schwimmbad. Worauf wir aber gleichwohl sehr großen Wert legen, ist, dass die Vertrauensarbeitszeit nicht dazu führt, dass im Schnitt die Mitarbeiter mehr arbeiten als vertraglich vereinbart!

Haufe Online Redaktion: Was ist die reine Arbeitszeit der Mitarbeiter dann aus Ihrer Sicht noch wert?

Younosi: Die denke, Arbeitszeit ist gleich Produktivität und entsprechendes Geld – das halte ich in der heutigen Zeit nicht für den richtigen Maßstab. Das kommt noch von der industriellen Revolution, wo man Akkordarbeit hatte: Da galt, wenn ich 40 Stunden am Band arbeite, dann schaffe ich mehr als jemand mit 25 Stunden und verdiene auch mehr. Bei Unternehmen wie SAP kommt es auf die Kreativität der Mitarbeiter an. Da greift das nicht mehr. Manchmal braucht ein Mitarbeiter eben für ein Ergebnis länger, manchmal geht es schneller.

Eigenverantwortliche Verteilung der individuellen Arbeitszeit

Haufe Online Redaktion: Dennoch bieten Sie Vollzeit- oder Teilzeitmodelle an, die eine bestimmte Stundenzahl vorgeben…

Younosi: Wenn wir über Vertrauensarbeitszeit sprechen, dann geht es um eigenverantwortliche Verteilung der individuellen Arbeitszeit und nicht um die Abschaffung jeglicher Arbeitszeitvereinbarung. In der Praxis ist es aber am Ende gleich, ob Voll- oder Teilzeit: Beide Mitarbeitergruppen leben die Vertrauensarbeitszeit entsprechend ihrer Beschäftigungsgrade.

Haufe Online Redaktion: Sie schreiben alle Führungspositionen generell in Teilzeit aus. Wie kam es dazu?

Younosi: Uns geht es darum, dass wir Mitarbeitern in der jeweiligen Lebensphase ein Angebot unterbreiten, Privatleben und Job zu vereinbaren und sich nicht zwischen einem von beiden entscheiden zu müssen. Das Thema Führung in Teilzeit kam bei uns auf, da wir Gender-Diversity in Deutschland vorantreiben möchten. Die Mehrheit der Teilzeitler sind nach wie vor Frauen, auch bei uns. Deshalb sind wir vor drei Jahren davon abgekommen, dass Führung in Teilzeit auf Einzelfallebene ausgehandelt werden muss. Wir sind der Überzeugung gefolgt, dass wir nur einen "Mind Change" erreichen, wenn wir die Regeln auf den Kopf stellen: nämlich die Führung in Teilzeit zur Normalität machen und die Führung in Vollzeit optional anbieten.

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Haufe Online Redaktion: Was heißt Führungsteilzeit da genau? Ist das dann doch versteckte Vollzeit, weil sie ja die Arbeitszeit nicht protokollieren?

Younosi: Wir wollen keinen Etikettenschwindel, also dass man dann praktisch doch 100 Prozent arbeitet, obwohl im Arbeitsvertrag etwas anderes steht. Deswegen haben wir gemeinsam mit den Mitarbeitern überlegt, was für eine Minimum-Teilzeit für Führungskräfte es braucht. Wir haben uns auf einen Beschäftigungsgrad von 75 Prozent geeinigt. Nach einigen Diskussionen hin und her haben wir das einfach probiert. Es hat so gut funktioniert, dass wir das Anfang 2018 auf ganz Deutschland ausgerollt haben. Wir konnten keine Nachteile oder Behinderungsgründe für die Führungskräfte entdecken.

Co-Leadership als Alternative oder in Ergänzung zur Teilzeit

Haufe Online Redaktion: 75 Prozent ist für manche Lebenssituationen durchaus schon viel....

Younosi: Wir schreiben Führungspositionen in Teilzeit zu 75 Prozent aus, wenn man die Stelle alleine machen möchte. Es besteht aber auch die Möglichkeit zum Co-Leadership. Da sind verschiedene Konstellationen von 30-70, 50-50 oder 100-50 möglich. Inzwischen haben wir mehr als zehn verschiedene Modelle und ein Tool von Tandemploy eingeführt, um leichter einen Tandempartner zu finden. Seit März dieses Jahres haben sich rund 3.000 Kolleginnen und Kollegen registriert. Wir pflegen auch eine Co-Leadership- und Jobsharing-Community von Mitarbeitern, die bereits so arbeiten oder daran interessiert sind. Da informieren wir laufend, wie das Ganze in der Praxis – auch in verschiedenen Führungsebenen – gelebt wird.

Haufe Online Redaktion: Wie hoch ist der Anteil von Teilzeit im Vergleich zu Vollzeit?

Younosi: Die Teilzeitquote in Deutschland liegt insgesamt bei etwa einem Prozent, weltweit sind es 0,3 Prozent. Das ist eine Minderheit, aber das ist auch okay. Wir möchten die Menschen nicht missionieren und in Teilzeit treiben. Interessant ist aber: Die Erfahrung zeigt jetzt nach zweieinhalb Jahren, dass Führen in Teilzeit nicht nur für Frauen interessant ist, sondern auch für Männer. Der Männeranteil beträgt bei SAP mittlerweile knapp 43 Prozent. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist also kein Geschlechter-Thema, sondern ein Zeitgeist-Thema. Die Werte haben sich verschoben – in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung, aber über alle Generationen, Schichten, Regionen und Branchen hinweg.  

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Haufe Online Redaktion: Dennoch sind noch mehr Frauen als Männer in Teilzeit – und bleiben dort häufig hängen. Wie versuchen Sie das zu vermeiden?

Younosi: Wir waren der erste DAX-Konzern, der vor vier Jahren freiwillig die heutige Brückenteilzeit eingeführt hat, die befristete Teilzeit. Wir haben nur eine Bedingung: Die Mitarbeiter müssen eine gewünschte Änderung der Arbeitszeit, egal ob Rückkehr zur Vollzeit oder Reduzierung der Arbeitszeit, drei Monate vorher ankündigen. Damit gehen wir über das heutige Gesetz hinaus. Eine Mindestbeschäftigungszeit von zwei Jahren braucht es dafür bei uns nicht und das funktioniert gut. Die Ängste vieler Unternehmen diesbezüglich kann ich nicht verstehen. Die Welt ist nicht untergegangen.

Haufe Online Redaktion: Aber der Aufwand und somit die Kosten für Arbeitgeber steigen doch durch ständige Wechsel der Arbeitszeit und individuelle Vereinbarungen durchaus, oder?

Younosi: Das Managen von Mitarbeiterwünschen wie Elternzeit oder Urlaub gehört zu generischen Aufgaben einer Führungskraft. Wenn das jemand zu viel ist, sollte man der Person vielleicht nahelegen, etwas anderes zu machen. Auch erhöhte Kosten sehe ich nicht, da die meisten in der Regel ihre Arbeitszeit mindestes für ein Jahr beibehalten und nicht im kurzen monatlichen Turnus wechseln – das sind nur Ausnahmefälle, zum Beispiel bei Pflege in der Familie. Wenn das Verhältnis zum Team und zur Führungskraft stimmt, dann lösen sich die Probleme im Normalfall einvernehmlich im Interesse aller Beteiligten. Viele Unternehmen sehen zu viele theoretische Risiken statt einfach zu vertrauen, dass Menschen grundsätzlich mit Freiheiten verantwortungsvoll umgehen.

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Wertewandel bei der Mehrarbeit

Haufe Online Redaktion: Sie wollen keinen Etikettenschwindel. Aber wie schützen Sie Ihre Mitarbeiter vor zu viel freiwilliger Arbeit on top zur Regelarbeitszeit?

Younosi: Wir bieten das größte Achtsamkeitsprogramm in der deutschen Industrie an und versuchen unseren Mitarbeitern den richtigen Umgang mit der maximalen Flexibilität, neuen Medien und Informationsflut zu vermitteln. Es ist nicht in unserem Sinne, dass im Homeoffice das Kind in einem Arm ist und man gleichzeitig auf den Rechner schaut und telefoniert. Ich arbeite selbst manchmal bewusst weniger und bin nicht erreichbar, wenn zum Beispiel Privates ansteht. Dass wir Mails spätabends oder am Wochenende bearbeiten, ist zunehmend eher die Ausnahme.

Dadurch dass wir die Gleichung "mehr Präsenz = mehr Arbeit = mehr Leistung = mehr Karriere" abgeschafft haben, ist Mehrarbeit für die Mitarbeiter nicht erstrebenswert. Diesen Karriereanreiz aus der analogen Welt gibt es bei uns einfach nicht mehr. Als Führungskraft brauche ich nicht mehr Präsenz, sondern mehr begeisterte Mitarbeiter, die gern zur Arbeit kommen und sich als Mensch gesamtheitlich angenommen fühlen. Stichwort: Empathie. Wir dürfen Gott sei Dank Gefühle zeigen – das ist neu im Vergleich zu früher.

Haufe Online Redaktion: Sie haben einen Wertewandel angesprochen. Häufig heißt es inzwischen auch: Zeit ist das neue Geld. Immer mehr Unternehmen bieten in dem Zusammenhang Wahlmöglichkeiten zwischen mehr Urlaub oder mehr Gehalt. Wie reagieren Sie darauf?

Younosi: Aufgrund der zahlreichen Flexibilitätsangebote wie Zeitwertkonto, Sabbaticals und Nichtverfallbarkeit von Resturlaub für unsere aktuellen Mitarbeiter, spielen Urlaub versus Geld keine große Rolle.

Volle Flexibilität für die Beschäftigten im Fokus

Haufe Online Redaktion: In der New-Work-Szene wird darüber diskutiert, ob eine geringere Regel-Wochenarbeitszeit von etwa 30 Stunden sinnvoll wäre, da wir danach sowieso nicht mehr produktiv arbeiten. Was halten Sie davon?

Younosi: Das ist mir zu pauschalisierend. Außerdem ist zu bedenken: Wenn, dann muss sichergestellt sein, dass das bei vollem Lohnausgleich erfolgt. Ansonsten würde das kein Mensch machen, wenn man dann entsprechend weniger verdient. Wir müssen abwägen, ob es das beste Modell ist und was das kostet. Prinzipiell begrüßen wir alles, was zu einer größeren Begeisterung unserer Mitarbeiter führt. Wichtiger als eine generelle Arbeitszeitreduzierung ist für uns volle Flexibilität für die Beschäftigten: Wer 30 Stunden oder 25 Stunden arbeiten will, kann das auch heute schon jederzeit machen, muss das aber nicht.

Haufe Online Redaktion: Wenn das jüngste EuGH-Urteil, das vorsieht, Arbeitszeiten systematisch zu erfassen, in nationales Recht umgesetzt wird, könnte Ihr Ansatz von Vertrauensarbeitszeit dann bald Geschichte sein?

Younosi: Wir sind zuversichtlich, dass eine etwaige Neuregelung die Wünsche vieler Arbeitnehmer nach Flexibilität berücksichtigt, beispielsweise durch Öffnungsklauseln für betriebliche Lösungen. Wenn wir zur klassischen Zeiterfassung zurückkehren müssten, wäre das für uns ein Rückschritt: Die Mitarbeiter wollen das nicht. Die Frage ist dann auch, was ist denn eigentlich Arbeit: Arbeiten wir auch schon, wenn wir nach Feierabend auf unser Handy schauen? Solche Fragen passen nicht in die digitale Welt. Wenn man Vertrauensarbeitszeit gut, fair und ausbalanciert lebt, dann braucht es keine neue Gesetzgebung.


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