Wenn die Timeline zur intellektuellen Flatline wird

So manchen Mythos in der HR-Welt konnte Professor Uwe P. Kanning schon in seiner Kolumne aufklären. Mit psychologischen Fakten und einer großen Portion bissigem Humor begegnet er den Anhängern des Bauchgefühls – heute denen, die sich auf eine spirituelle Zeitreise begeben, um die eigene Lebensgeschichte aufzurollen.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir unsere Vergangenheit beliebig manipulieren könnten? Fehlentscheidungen ließen sich im Nachhinein korrigieren. Ein Studium könnte positiv zum Abschluss gebracht werden. Man wäre immer zur rechten Zeit am rechten Ort.

All jene von uns, die voller Gram auf ihr Leben schauen, kann an dieser Stelle Hoffnung gegeben werden: Sie müssen nicht weiterhin Opfer ihrer Vergangenheit bleiben. Nein, sie können ihre Vergangenheit vielmehr aktiv gestalten und sich damit eine glänzende Zukunft sichern.

Nachträgliche Lebensgestaltung im Esoterik-Coaching

Hierzu müssen Sie keinen Roman von H. G. Wells studieren und sich auch keinen DeLorean mit Fluxkompensator anschaffen. Nein, den Segnungen des modernen Esoterik-Coachings ist es zu verdanken, dass Sie sich Ihr Leben in nur einer einzigen Coaching-Sitzung vollends Untertan machen können. Und das geht ungefähr so:

  1. Gemeinsam mit einem Master-Esoterik-Coach legen Sie zunächst in einem Raum ein Seil auf den Boden, das den Verlauf Ihres Lebens beschreibt, von der Geburt bis zum Tod – die sogenannte Timeline.
  2. Anschließend positionieren Sie sich entlang dieser Linie und legen fest, an welcher Stelle des Lebenslaufes Sie heute real stehen. Wer klug taktiert, wählt dabei einen Punkt, der nicht zu nah am Ende des Seils liegt, denn sonst könnte Ihr Leben schon bald ein jähes Ende nehmen.
  3. Unter Anleitung des Coaches begeben Sie sich danach in Trance, heben langsam vom Boden der Tatsachen ab und schweben ein Stück weit der Sonne entgegen.
  4. Aus dieser gottgleichen Perspektive haben Sie erstmals einen kompletten Blick auf Ihr Leben und erkennen mit einem Mal, wo die Fallstricke Ihres Lebens liegen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt die Quelle allen Übels in Ihrer Kindheit. Das ist immer so, wie schon der große Sigmund Freud postulierte.
  5. Die Fehler von damals müssen nun korrigiert und Blockaden beiseite geräumt werden, auf dass positive Energie Ihr weiteres Leben durchströmt. Hierzu bedarf es zunächst einer gründlichen Analyse des Casus knacksus. Nichts leichter als das: Sie schweben einfach kurzerhand zurück in Ihre Kindheit. (Bei Anfängern genügt es, wenn Sie diesen Prozess imaginär vollziehen.) Schwebend über Ihrem kritischen Lebensereignis erkennen Sie Ihren Fehler auf wundersame Weise ganz von allein: Sie hätten sich damals auf dem Schulhof das Pausenbrot nicht von Kevin aus der vierten Klasse klauen lassen dürfen.
  6. Nach dieser gründlichen Psychoanalyse schweben Sie noch mal einige Tage weiter zurück und wappnen sich für das bevorstehende Ereignis, dass Ihr ganzes weiteres Leben prägen soll. Hier entscheiden Sie jetzt auch, welche Richtung Sie Ihrem Leben geben wollen. Für eine glänzende Zukunft als Sozialpädagoge legen Sie sich ein paar überzeugende Argumente zurecht: "Gewalt ist keine Lösung", "Ich bin OK und Du bist OK" oder "Alle Menschen sind gut". Wenn Sie lieber eine erfolgreiche Managementkarriere anstreben, trainieren Sie Ihren linken Haken.
  7. Nun schweben Sie zurück in die Zukunft auf den Pausenhof. Hier angelangt treten Sie mit Kevin wahlweise in einen konfliktphilosophischen Dialog oder strecken ihn mit zwei gezielten Schlägen nieder.
  8. In der vorletzten Phase des Coachings schweben Sie wieder langsam zurück in die Gegenwart und betrachten dabei Ihr neues Leben, das sich auf so wunderbare Weise zum Positiven gewendet hat.
  9. Zum Schluss sollten Sie noch auf den Boden der Realität zurück schweben, dem Coach beim Zusammenrollen Ihrer Timeline helfen und alles wird gut.

Träume werden wahr

Natürlich ist dies nur eine grobe Skizze. Die wahren Potenziale der spirituellen Timeline offenbaren sich den Gläubigen erst, wenn sie noch weiter in der Geschichte zurückreisen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass Sie in der vergangenen Woche nur deshalb nicht befördert wurden, weil Sie schon bei Ihrer eigenen Geburt allzu zögerlich aufgetreten sind? Warum schweben Sie also nicht einfach zurück, sorgen für eine schnellere Geburt und brüllen der Hebamme beherzt ins Gesicht: "Hier bin ich und ich bin super!".

Doch selbst damit sind die Potenziale der Methode noch lange nicht ausgeschöpft. Sie können auch Ereignisse in der Familienkonstellation verändern, die zeitlich vor Ihrer Geburt lagen – kein Witz! Hätte damals Ihre Urgroßmutter den Millionär geheiratet, wären Sie heute Milliardär. Und als wäre das alles nicht schon genug, können Sie sogar in eines Ihrer früheren Leben zurückschweben und hier noch das eine oder andere zurechtbiegen. Waren Sie zur Zeit der Französischen Revolution vielleicht der Marquis de Petit Noblesse, sollten Sie noch rechtzeitig ins Bürgertum wechseln und eine handwerkliche Ausbildung an der Guillotine absolvieren – ein Beruf mit Zukunft.

Wenn die spirituelle Zeitreise zur Gefahr wird

Aber Vorsicht, wer die Vergangenheit verändert, muss auch die Folgen bedenken - ansonsten reisen Sie in die Gegenwart zurück und stellen dort fest, dass Sie gar nicht geboren wurden oder schon seit 20 Jahren tot sind. Gefährliche Sache! Daher ist dringend zu raten, sich bei der Zeitreise nur von einem erfahrenen Esoterik-Coach begleiten zu lassen, der mindestens den schwarzen Gurt in Reinkarnationstherapie besitzt.

Für all jene, die den Aufwand eines solchen Coachings scheuen, hier einige Alternativen, die kaum minder wirksam sein dürften: Suchen Sie ein vierblättriges Kleeblatt, spielen Sie Lotto, lassen Sie sich ein Horoskop legen, besorgen Sie sich eine Voodoo-Puppe oder schlucken Sie mehr Globuli ...


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.

Schlagworte zum Thema:  Coaching, Personalarbeit