Die Sehnsucht nach der großen Rentenreform
In unregelmäßigen Abständen – nicht selten in den nachrichtenarmen Hochsommerwochen – wird eine überfällige große Rentenreform gefordert – häufig unter dem eingängigen Motto: "Alle Erwerbstätige – und auf jeden Fall die Beamten – gehören in die gesetzliche Rentenversicherung." Bei dieser – nur auf den ersten Blick plausiblen – Forderung wird durchweg übersehen, dass es neben der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) mit ihren Sondersystemen für Bergleute, Landwirte, Seeleute, Lotsen, Hauslehrer und Schauspieler noch einen Patchwork von 17 obligatorischen Systemen der Beamtenversorgung sowie der Altersentschädigung für Abgeordnete und zudem 91 Berufsständische Versorgungswerke gibt, die ebenfalls verpflichtend sind.
Die Forderung "Alle in die gesetzliche Rentenversicherung" ist daher sehr viel leichter erhoben als umgesetzt. Denn da alle in den eben genannten obligatorischen Systemen erworbenen Versorgungsansprüche eigentumsrechtlich geschützt sind, müssten die dort erworbenen Anwartschaften – ungeachtet einer Schließung für Neuzugänge – bedient werden. Die Gesetzliche Rentenversicherung hätte dann zwar unmittelbar Mehreinnahmen, denen erst im Zeitverlauf höhere Ausgaben entgegenträten. Die anderen Versorgungswerke verlören jedoch ihre Finanzierungsbasis und müssten aus anderen Quellen finanziert werden – zum Beispiel durch Ausgleichszahlungen der Rentenversicherung oder Steuerzuschüsse. Die bestehenden Lasten der erworbenen Versorgungsansprüche könnten also anders verteilt, aber nicht aus der Welt geschafft werden. Folge wäre das Entstehen einer "Sandwich-Generation", also einer Generation, von der die Ansprüche, die in den in Abwicklung stehenden Systemen erworbenen Ansprüche zu bedienen wären und die gleichzeitig Beiträge für die eigene Versorgung entrichten müsste.
Beamtenversorgung bleibt ein Streitpunkt
Einzig für die Gruppe der Selbstständigen, die nicht Mitglieder eines der Berufsständischen Versorgungswerke sind, besteht derzeit keine Altersvorsorgepflicht. Diese etwa drei Millionen Personen umfassende Gruppe reicht vom soloselbstständigen Taxifahrer, über die Inhaberin eines Nagelstudios mit einer Hilfskraft bis zum Inhaber eines Großunternehmens. Hier sollte die Politik die Kraft finden, diese Selbstständigen zu Pflichtmitgliedern in der gesetzlichen Rentenversicherung zu machen – allerdings unter der Bedingung, dass ihnen hinreichend Zeit bleibt, dort noch auskömmliche Rentenansprüche erwerben zu können.
Selbst wenn man davon absieht, dass es sich bei der Beamtenversorgung – wie auch bei der knappschaftlichen Rentenversicherung – um ein bifunktionales System aus gesetzlicher Rente und einer fiktiven betrieblichen Zusatzversorgung handelt, muss man sich bewusst sein, dass Beamte versicherungstechnisch "schlechte Risiken" darstellen. Der Grund: Die Lebenserwartung von Beamten ist, mutmaßlich nicht zuletzt als Folge des durchweg überdurchschnittlichen Bildungsniveaus, um mehr als zwei Jahre höher im Vergleich zum Durchschnitt der gesamten Wohnbevölkerung und insbesondere zu den bisher in der GRV Versicherten. Die Folge einer Integration der (potenziellen) Beamten in die GRV wäre eine versicherungsinterne Umverteilung von den bisherigen Versicherten zur Gruppe dieser Angestellten, die die bisherigen nun wegfallenden Beamtenstellen besetzen.
Reformbedarf eines Systems von 1957
Diese kritische Bewertung einer Reform, die darauf abzielt, aus der gegenwärtigen gesetzlichen Rentenversicherung eine "Bürgerversicherung" zu machen, bedeutet allerdings nicht, dass es in diesem System keinen Reformbedarf gibt. Unsere gegenwärtige gesetzliche Rentenversicherung wurde zu Beginn des Jahres 1957 eingeführt – also zu einer Zeit, in der die dauerhafte Vollzeitbeschäftigung die Regel und durchbrochene Erwerbsbiografien unbekannt waren. Zudem konnte man sich vor 70 Jahren nicht vorstellen, dass eine Rentenversicherung als Folge niedriger Geburtenraten in Schwierigkeiten geraten könnte.
Versteht man unter "lebensstandardsichernd" solche Alterseinkommen, die zumindest 70 Prozent der in den letzten Erwerbsjahren bezogenen Nettoentgelte entsprechen, dann waren unsere gesetzlichen Renten zu keinem Zeitpunkt lebensstandardsichernd. Der Grund: Die Festsetzung der Höhe der Zugangsrenten nach dem Äquivalenzprinzip. Dieses einer Monstranz gleich hochgehaltene Prinzip, welches nur in acht der 38 Industriestaaten der OECD zur Anwendung kommt, zielt darauf ab, dass Rentner und Rentnerinnen in der Verteilungspyramide der Rentenempfänger genau die Position einnehmen, die sie während der Dauer ihrer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in der Pyramide der Lohnempfänger hatten.
In der Lebenswirklichkeit wird die gewünschte Höhe der Altersbezüge in aller Regel vom Einkommen während der letzten Arbeitsjahre bestimmt. Und wenn man die "Generosität" eines Rentensystems an der Ersatzrate bemisst, also dem Verhältnis von Bruttorentenanspruch und der Höhe der letzten Bruttoarbeitsentgelte vor dem Renteneintritt, dann liegt das deutsche Rentensystem ziemlich weit hinten in der Rangfolge der Industrieländer. Zu den Spitzenreitern zählen Österreich, Spanien, die Niederlande und Luxemburg.
Rentenpolitik: vordringlichere Aufgaben
Wenn es in Deutschland eine vordringliche rentenpolitische Aufgabe gibt, dann besteht diese weniger in der Gewährleistung eines stabilen – aber hinsichtlich der individuellen Rentenhöhe wenig aussagekräftigen – Rentenniveaus, sondern mehr darin, die Armutsfestigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen. Dies ist umso mehr geboten, als demnächst gerade in Ostdeutschland ein Armutsschub unter den Rentenempfängern zu erwarten ist – wenn die "Vereinigungsverlierer" das Erwerbsleben verlassen. Dies wiederum ist umso mehr ein drängendes Problem, da in den neuen Ländern die private Vermögensbildung vergleichsweise gering ist und Wohneigentum oder Betriebsrenten wenig verbreitet sind.
Vor diesem Hintergrund wäre es erwägenswert, die – von den Beitragsleistungen und Steuerzuschüssen unabhängigen – Nettoerträge des sich im Aufbau befindenden Generationenkapitals nicht zur generellen Kofinanzierung aller gesetzlichen Renten einzusetzen, sondern gezielt zur Aufstockung geringer Rentenzahlbeträge – trotz langjähriger Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Der Autor dieses Beitrags, Prof. em. Dr. Dr. h. c. Bert Rürup, Chefökonom des Handelsblatts, war viele Jahre Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und rentenpolitischer Berater der deutschen Bundesregierung sowie Berater ausländischer Regierungen und internationaler Gremien zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. An der TU Darmstadt leitete er das Fachgebiet Wirtschafts- und Finanzpolitik.
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