Nur ein Mythos: Blickrichtung der Lügner

Mit psychologischen Fakten und einer großen Portion bissigem Humor klärt Professor Uwe P. Kanning in seiner Kolumne über Mythen und Missstände im Bereich der Führung, Personalauswahl und Personalentwicklung auf. Heute hat er sich die Menschenkenner vorgenommen, die immer noch glauben, dass sie Lügner an deren Blickrichtung erkennen können.

Es ist Freitagvormittag. Hunderte von Personalern und Führungskräften sitzen vor ihrem Bildschirm oder vor Ort in der Stadthalle und warten darauf, dass es endlich losgeht. Heute wollen sie sich wieder einmal weiterbilden und der eigenen Praxis den letzten Schliff geben. Fast ein Dutzend Redner wird der Veranstalter auffahren, vom Esoterik-Coach über den Best-Practice-Experten aus dem Dax-Unternehmen und zahlreichen Consultants bis hin zum Wissenschaftler. Die richtige Mischung macht’s.

Mythos: Lügner an der Blickrichtung erkennen

Zum Auftakt spricht der Personalchef eines mittelständischen Unternehmens. In Ehren ergraut berichtet er von seiner langjährigen Praxis als Profi-Interviewer. Natürlich führt er seine Einstellungsinterviews ohne Anforderungsanalyse und Leitfaden durch, denn schließlich hat er sich im Laufe seiner Berufspraxis zum großen Menschenkenner entwickelt. Nur in einem Punkt greift er zurück auf Literatur, die er für Fachliteratur hält. Stolz berichtet er, dass er seit einigen Jahren auch fast schon perfekt darin ist, Lügner unter den Bewerbern als solche zu erkennen. Und als wäre das nicht schon großartig genug, lässt er die Zuhörer auch noch an seiner Weisheit teilhaben: Lügner erkennt der schlaue Fuchs an der Blickrichtung beim Nachdenken. Schaut der Bewerber aus der Perspektive des Interviewers betrachtet nach links, so ist er der Lüge überführt.

Wer Psychologie studiert, glaubt nicht an einfache Lösungen

Würde man dieselbe Behauptung in einer Vorlesung für Drittsemester der Wirtschaftspsychologie aufstellen, so könnte man beobachten, dass die eine Hälfte der Studierenden sofort in Gelächter ausbräche, während die andere Hälfte ungläubig den Kopf schütteln würde. In der Veranstaltung für Praktiker ist davon nichts zu spüren. Vielleicht sind sie ja durch jahrelange Erfahrungen mit ähnlichen Veranstaltungen schon so abgestumpft, dass selbst die absurdesten Thesen zu keiner psychosomatischen Reaktion mehr führen können. Vielleicht haben sie aber auch schon davon gehört und glauben an die Segnungen der reichhaltigen Toolbox des Neurolinguistischen Programmierens.

Forschung: Kein Zusammenhang von Lügen und Blickrichtung

Auch wenn es vielleicht aussichtslos erscheint, überzeugte Jünger der Bewegung auf den Pfad der Erkenntnis zu locken, wollen wir dennoch einen Blick in die Forschung wagen und uns fragen, ob Lügner sich tatsächlich an ihrer Blickrichtung erkennen lassen. Die Idee ist so lustig, dass sich tatsächlich mehrere Forscher ihrer angenommen haben. Hier einige Beispiele:

  • In einem Laborexperiment werden Probanden gebeten, in ein Büro zu gehen und dort einen Gegenstand an einer bestimmten Stelle abzulegen. Dabei werden sie gefilmt. Später werden sie aufgefordert, einer anderen Person von den Ereignissen im Büro zu berichten und dabei entweder zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Ergebnis: Probanden, die lügen, schauen nicht häufiger nach links als solche, die die Wahrheit sagen.
  • In einem Feldexperiment wird das Blickrichtungsverhalten von Menschen untersucht, die sich über die Medien an die Entführer eines Familienangehörigen wenden. Dabei wird unterschieden zwischen Menschen, die sich tatsächlich an reale Entführer wenden, oder aber im Nachhinein selbst als Täter oder Mittäter der Entführer enttarnt wurden. Ergebnis: Diejenigen, die vor der Kamera lügen, schauen nicht häufiger nach links.
  • Passanten werden aufgefordert, in einem kurzen Interview richtige und falsche Angaben zu ihrem Beruf zu machen. Ergebnis: In nur neun Prozent der Fälle stimmt die Blickrichtung mit den Erwartungen überein.

Es gibt keine Studien, die zeigen, dass es sinnvoll wäre, einen Blick nach links als Ausdruck unwahrer Antworten zu interpretieren. Dennoch werden sich viele Menschen finden lassen, die wie der Personalchef aus unserem Beispielfall fest daran glauben.

Die selbsterfüllende Prophezeiung schlägt zu

Verantwortlich hierfür ist der Erwartungseffekt - ein wunderbares Instrument des Selbstbetrugs: Wer an die Blickrichtungsdiagnostik glaubt, der wird insbesondere bei solchen Bewerbern, die ihm irgendwie dubios erscheinen, auf die Blickrichtung achten und natürlich wird der Bewerber früher oder später nach links schauen. Zufrieden nimmt der Interviewer zur Kenntnis, dass ihn sein Bachgefühl nicht getäuscht hat. Er hält den merkwürdigen Bewerber bereits jetzt für einen Lügner. Bei den nächsten Fragen achtet er noch stärker auf den Blick nach links und drängt den Bewerber damit immer weiter in die zurechtgebastelte Schublade. Am Ende wird der Bewerber nicht eingestellt, unter anderem, weil man glaubt, er habe nicht die Wahrheit gesagt. Bei Bewerbern, denen der Interviewer hingegen wohlgesonnen ist, achtet er weniger auf den Blick nach links oder interpretiert ihn korrekt als Zufallsereignis. Letztlich wird die Person eingestellt, die ihm das beste Gefühl vermittelt hat und das ist dann gleichzeitig auch diejenige, bei der er weniger Blickbewegungen nach links feststellen konnte. Je häufiger der Interviewer diesen Prozess durchläuft, desto größer wird die Resistenz seiner Erwartung gegenüber der Realität. Irgendwann wird die Erwartung zur Gewissheit und seine Seele ist für die professionelle Personaldiagnostik verloren.

Wer daran glaubt, dass er Lügner an der Blickrichtung erkennen kann, sollte konsequenterweise auch daran glauben, dass Lügner sich durch kleinen Körperwuchs zu erkennen geben, denn schließlich weiß der Volksmund doch schon seit Jahrhunderten: Lügen haben kurze Beine.


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.

Schlagworte zum Thema:  Personalauswahl, Personalarbeit