Netzwerkorganisation: Vision und Kultur bei Viva con Agua

Viva con Agua setzt sich weltweit für den Zugang zu sauberem Trinkwasser und für eine sanitäre Grund­ver­sorgung ein. Der 38-jährige Ex-Profifußballer Benjamin Adrion, Initiator und Gesicht der erfolgreichen Initiative, baut in der Zusammenarbeit mit dem Netzwerk auf Führung durch Spaß, Wissenstransfer und positive Kommunikation. Ein Gespräch über die Kraft von Vision und Organisationskultur. 

Haufe Online-Redaktion: Benjamin, die Vision von Viva con Agua lautet „Wasser für alle – alle für Wasser“. Wie hat sich diese Vision herauskristallisiert?

Benjamin Adrion: Angefangen hat alles im jahr 2005 nach einem Trainingslager auf Kuba. Damals spielte ich beim FC St. Pauli und wir kamen in der Mannschaft auf die Idee, unser Umfeld zu nutzen, um auf die Trinkwassersituation in Kuba aufmerksam zu machen. Das Ziel war zunächst, 50.000 Euro für Trinkwasserspender in kubanischen Kindergärten zu sammeln. Aber gleich im ersten Jahr ist eine überwältigende Dynamik entstanden. So habe ich gemeinsam mit Freunden und Bekannten einen Verein ins Leben gerufen, um ein offenes Netzwerk zu schaffen, in dem jeder mitmachen kann. 

Haufe Online-Redaktion: Was macht ihr genau?

Adrion: In erster Linie sammeln wir auf freudvolle Art Spenden, um damit Wasserprojekte in Ländern wie Äthiopien, Uganda oder Nepal zu unterstützen. Wir machen das, indem wir verschiedene Aktionen organisieren, Spendenläufe zum Beispiel. Zudem sind wir auf rund 180 Festivals und etwa 250 Konzerten pro Jahr – ehren­amtliche Unterstützer sammeln dort Pfandbecher als Spende ein. Das läuft sehr gut, vor allem dank der vielen Unterstützer, neben den Freiwilligen auch Künstler, Musiker und Influencer oder verschiedene Fußballvereine. Wir haben mehrere „Water Walks“ gemacht, zunächst 2008 von Hamburg nach Basel in der Schweiz und 2017 dann von Kigali in Ruanda nach Kampala in Uganda, ein Fußmarsch gemeinsam mit internationalen Läufern über 533 Kilometer. Die ausgegliederte Viva con Agua Wasser GmbH vertreibt unser soziales Mineralwasser in Flaschen und seit ein paar Jahren gibt es mit dem weltweit ersten sozialen Klopapier von Goldeimer ein weiteres Produkt einer eigenen gemeinnützigen GmbH. 2010 haben wir eine Stiftung für die Entwicklungszusammenarbeit gegründet und es entstehen weltweit immer mehr Vereine, zuletzt in den Niederlanden, Uganda und bald auch in Kalifornien. Es ist eine schöne Entwicklung, dass die Leute im Netzwerk zunehmend von dort kommen, wo die Wasserprojekte tatsächlich stattfinden.  

Arbeiten im Netzwerk: Win-win für alle und Freude als Kernelement der Kultur

Haufe Online-Redaktion: Hinter Viva con Agua steht ein enormes internationales Ehrenamtsnetzwerk. Und mittlerweile sind es dazu über 20 Mitarbeiter allein im Verein in Hamburg. Wie würdest du eure Kultur beschreiben?

Adrion: Ein wichtiges Grundprinzip lautet „Verbindung“. Wir nehmen an, dass unser Erfolg immer etwas mit Zusammenarbeiten und Win-win für alle Beteiligten zu tun hat. Viele werden sagen, das ist ja banal und logisch. Aber wenn man genau hinschaut, gibt es doch viele Unternehmen, die sich anders definieren. In solchen Organisationen ist jemand erfolgreich, wenn er andere übertrumpft und aussticht. Bei einem derart konfrontativen Ansatz kann ich nur gewinnen, wenn andere verlieren. Wir definieren uns als All-Profit-Organisation und finden: Konkurrenz war gestern. Heute leben wir von Zusammenarbeit und Netzwerk.

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Ein weiteres Kernelement unserer Kultur ist Freude. Damit unterscheiden wir uns deutlich vom Marketing vieler anderer Spenden sammelnder Organisationen. Wir kennen alle diese Plakate, die ausgemergelte afrikanische Kinder mit dickem Bauch und Fliege im Auge zeigen. Warum machen diese Organisationen das? Weil es so gut funktioniert. Untersuchungen belegen, dass glückliche Kinder eher Neid statt Mitleid in uns erregen. Wir haben trotzdem einen anderen Weg gewählt: Wir wollen, dass die Menschen beim Spenden kein schlechtes Gewissen haben müssen, sondern ein gutes Gefühl. Statt mit erhobenem Zeigefinger möchten wir soziales Engagement mit Freude verbinden. Es darf Spaß machen, die Welt ein bisschen besser zu machen. 

Haufe Online-Redaktion: Positive Kommunikation statt Mitleid – das hört sich zwar gut an, ist aber in der Praxis vermutlich nicht so einfach ...

Adrion: Für uns gibt es keine andere Option, auch wenn wir über einen anderen Weg vielleicht mehr Spenden sammeln könnten. Wir wollen Menschen mit der universellen Sprache der Kunst, der Musik und des Sports inspirieren. Wenn wir in Zukunft etwas verändern wollen auf der Welt, dann müssen wir dafür vor allem junge Menschen erreichen. Das gilt insbesondere für Länder in Afrika wie Uganda, in denen das Durchschnittsalter bei 15 Jahren liegt. Uns geht es darum, dass die Menschen ihre Energie und ihre Zeit in ehrenamtliches Engagement einbringen. 

Flexibles Arbeiten: "World Office" statt Homeoffice

Haufe Online-Redaktion: Inwiefern setzt sich das Kernelement der positiven Kommunikation in der Art zusammenzuarbeiten fort – auch bei den festangestellten Mitarbeitern?

Adrion: Wir hatten von Anfang an den Anspruch, ein Arbeitgeber zu sein, für den Menschen gerne arbeiten. Wir möchten langfristig mit Menschen zusammenarbeiten und ihnen ermöglichen, dass sie in verschiedenen Phasen ihres Lebens die Dinge tun können, die ihnen wichtig sind – mal eine längere Reise machen oder eine Zeit lang im Ausland leben. Jeder unserer Mitarbeiter kann dort arbeiten, wo er gerade ist oder sein möchte – Hauptsache er oder sie macht den eigenen Job bestmöglich. Wenn jemand in der Hängematte die besten Ideen hat und das zur Inspiration braucht, dann soll er gefälligst in der Hängematte liegend arbeiten. Dann ist das offensichtlich genau das richtige Arbeitsumfeld. Bei uns gibt es nicht nur Homeoffice, sondern auch „World Office“. Wenn eine Kollegin das Gefühl hat, ein Projekt von Guadeloupe aus am besten stemmen zu können, hat sie die Freiheit, das so für sich zu regeln. Das ist für die intrinsische Motivation der Mitarbeiter besser und auch effektiver für die Organisation.
Klar gibt es dabei ein paar Regeln und Leitplanken. Wir müssen uns austauschen und uns im Team auch mal sehen. Aber ich halte nichts von der Principal-Agent-Theorie, dass jeder Arbeitnehmer, der Agent, nur seinen eigenen Nutzen maximieren will zuungunsten des Arbeitgebers, des Principals. Es kostet doch nur unnötig Geld, wenn man kontrollieren muss, ob die Leute ihre Arbeit machen. Wir glauben, dass die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durchaus deckungsgleich sein können. 

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Haufe Online-Redaktion: Wozu braucht ihr dann noch Führungskräfte?

Adrion: Ich bin kein Vertreter des Ansatzes, Führung komplett abzuschaffen. Es gibt Leute, die aufgrund ihrer Kompetenz, Erfahrung oder der persönlichen Reife eine höhere Qualität erreichen oder bessere Entscheidungen treffen. Unsere Teamleader sehen wir in so einer Art Coaching-Situation. Das geht in Sachen Feedback auch gerne in beide Richtungen. Aber so ganz zu sagen, jeder ist seines Glückes Schmied und es gibt gar keine Hierarchien mehr, das halte ich für Quatsch.

Dezentrale Organisation, gemeinsame Vision und Kultur

Haufe Online-Redaktion: Wie funktioniert Teamarbeit in eurer Netzwerkorganisation?

Adrion: An erster Stelle: dezentral. Unser Netzwerk setzt sich aus vielen kleinen Hubs zusammen, die in sich geschlossene Kreisläufe haben, eigene Entscheidungen treffen und flexibel arbeiten. Selbst in Hamburg in der Zentrale versuchen wir kleine flexible Einheiten zu kultivieren. Das geht alles nur, wenn die Leute intrinsisch motiviert sind. Wir können das Netzwerk nicht im Detail kontrollieren. Deshalb brauchen wir unsere gemeinsame Vision und Kultur. Nur wenn alle überzeugt sind, dass sie sich für „Wasser für alle“ einsetzen und sich dabei auch an unserer Kultur orientieren möchten, kann ein weitgehend selbstorganisiertes Netzwerk funktionieren.

Haufe Online-Redaktion: Was heißt das zum Beispiel für das Zusammenspiel von Festangestellten und Freiwilligen? Wer hat da den Hut auf?

Adrion: Da haben wir natürlich schon viele Strukturelemente eingebaut. Es gibt im Hauptamt Leute, die sich um Schnittstellen zu den Ehrenamtlichen kümmern. In jeder Stadt haben wir klare Ansprechpartner unter den Freiwilligen, die jährlich von den Supportern selbst neu gewählt werden. Neue Ideen können natürlich von beiden kommen: von den Freiwilligen und den Festangestellten. Wir stellen eigentlich nur eine Kulturplattform zur Verfügung. Die Guidelines von Vision und Kultur machen unsere Form der Führung aus. Wir haben das auch sehr streng eingegrenzt. Wir möchten nicht, dass Leute mit einer Viva-con-Agua-Flagge zu Anti-AfD-Demos, zu Aktionen gegen Nazis oder gegen Atomkraft gehen. Das können die Freiwilligen im Netzwerk privat wichtig finden, aber das ist politisch und nicht Teil von Viva con Agua. Unser Thema ist ganz zugespitzt „Wasser für alle – alle für Wasser“ und das möchten wir nicht verwässern. Diese klaren Regeln geben Sicherheit. 

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Haufe Online-Redaktion: Ihr fördert Wasserprojekte in den Schwerpunktregionen Ostafrika und Südasien. Die Projekte setzen lokale Partnerorganisationen und Experten vor Ort um. Wie stellt ihr sicher, dass eure Projektpartner auch verlässlich sind und eure Prinzipien umsetzen?

Adrion: Bei langjährigen Partnern wie der Welthungerhilfe gibt es eine transparente Kalkulation und klare Monitoring- und Controlling-Mechanismen. Die Kontrolle bei den Projektpartnern vor Ort ist da schon etwas schwieriger. Wichtig ist, dass wir immer auf die Einhaltung unserer Prinzipien achten und Missachtungen ansprechen und gegebenenfalls sanktionieren. Es muss klar sein, wo das Spielfeld verläuft und wann der Ball im Aus ist. 

Haufe Online-Redaktion: Inwiefern ist es problematisch, dort die eigene Organisationskultur überzustülpen?

Adrion: Das haben wir uns intensiv gefragt: Dürfen wir überhaupt die Kultur unseres Unternehmens mit in den globalen Süden bringen vor dem Hintergrund der Kolonialisierung und der ganzen Bevormundung, die damit einherging. Also haben wir dieses Dilemma unseren lokalen Projektpartnern gegenüber einfach angesprochen. Sie haben sinngemäß gesagt, dass wir zu streng mit uns selbst seien. Sie möchten ein Teil von Viva con Agua sein und haben uns gebeten, ihnen die Vision und Kultur in der Tiefe einfach besser zu erklären, damit sie das für sich interpretieren können. Sie freuen sich eher über den Rahmen, den sie dadurch bekommen. Das war eine interessante Erkenntnis. 

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Braucht es Führungsfiguren mit Strahlkraft?

Haufe Online-Redaktion: Wie wichtig bist du als Kopf mit Strahlkraft für die Verbreitung eurer Vision oder für den Erfolg der Organisation?

Adrion: Es gibt viel prominentere Leute, die Viva con Agua unterstützen – wie zum Beispiel Bela B, Max Herre oder verschiedene Fußballprofis. Die Bekanntheit ist bei mir nicht der wichtigste Faktor und das ist auch gut so. Was sonst passiert, sieht man ja zum Beispiel bei Karlheinz Böhm und seiner Stiftung Menschen für Menschen. Als er nicht mehr da war, geriet die Organisation in eine Identitätskrise. Wir brauchen nicht einen Ritter, der vorneweg geht, sondern das Schild muss stark genug sein, damit die Leute sich dahinter versammeln wollen. Deshalb kultivieren wir schon seit einiger Zeit das Motto „Tötet den Sonnenkönig“. Damit bin dann schon ich gemeint. 

Haufe Online-Redaktion: Dennoch hast du eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit…

Adrion: Meine Rolle ist Fluch und Segen zugleich. Ich habe die Aufgabe immer wieder zu wiederholen, was unsere Vision und unsere Kultur ausmachen. Das hat etwas Repetitives. Je größer eine Organisation wird, desto mehr Zeit braucht der CEO für Kulturarbeit und desto weniger bleibt für das operative Geschäft. Diese Herausforderungen kann man nur als Team schaffen. Schon Aristoteles sagte, „das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile“. Es bringt nichts, richtig gute Einzelkönner zu haben, wenn keiner mit ihnen zusammenspielen möchte. Wenn einer den Ball immer alleine rein machen will, beeinflusst das alle – und zwar nicht unbedingt positiv. Ein Team ist nur dann richtig geil, wenn es zusammenspielt, nicht wenn einer glänzt.

Das Interview ist im Personalmagazin Ausgabe 8/2019 erschienen.


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