Anonyme Bewerbung: Das Fazit aus der Wissenschaft

Das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) hat das Pilotprojekt "Anonyme Bewerbungen" wissenschaftlich begleitet. Dr. Ulf Rinne, Senior Research Associate am IZA, zieht exklusiv auf dem Personal-Portal Bilanz.

Haufe Online Redaktion: Wie erfolgreich war das Projekt aus Ihrer Sicht?

Dr. Ulf Rinne: Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass mit der Anonymisierung von Bewerbungsverfahren unbewusster oder bewusster Diskriminierung erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Die Untersuchungen des IZA verdeutlichen, dass nach der Anonymisierung von Merkmalen wie Name, Geschlecht, Alter und Herkunft sowie dem Verzicht auf ein Bewerbungsfoto Chancengleichheit unter den Bewerbenden herrscht. Innerhalb der anonymisierten Bewerbungsverfahren haben also potenziell benachteiligte Gruppen die gleiche Chance auf eine Einladung zu Vorstellungsgespräch oder Eignungstest. Im Vergleich mit klassischen Bewerbungsverfahren gibt es darüber hinaus Anzeichen dafür, dass Frauen von anonymisierten Bewerbungsverfahren besonders profitieren können. Das gilt etwa für jüngere Frauen, die bereits Berufserfahrung haben und zum Beispiel wegen eines möglichen Kinderwunsches bislang schlechtere Chancen hatten. Zudem gilt, dass sich die Chancen für Bewerbende mit Migrationshintergrund nach der Einführung anonymisierter Bewerbungsverfahren verbessert haben, falls sie zuvor geringere Chancen auf eine Einladung hatten. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse des Pilotprojektes, dass in Organisationen, die ohnehin bereits Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt ergriffen hatten, anonymisierte Verfahren nur ein begrenztes Potenzial entfalten konnten.

Haufe Online Redaktion: Haben sich große Veränderungen in der Einstellungspraxis der Unternehmen ergeben oder waren diese eher marginal?

Rinne: Bei den freiwillig am Pilotprojekt teilnehmenden Organisationen wurde deutlich, dass eine Mehrheit schon zuvor verschiedene Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt ergriffen hatte. Trotz der positiven Tendenzen, welche die Resultate aufzeigen, konnten anonymisierte Bewerbungsverfahren daher bei dieser positiven Auswahl nur ein begrenztes Potenzial entfalten. Dieser Befund ist jedoch nicht als repräsentativ für die Gesamtheit der deutschen Unternehmen anzusehen. Dennoch hat auch bei diesen Unternehmen ein Prozess eingesetzt, die eigene Rekrutierungspraxis kritisch zu hinterfragen. Inwieweit sich dadurch mittel- bis langfristig Änderungen in der Einstellungspraxis ergeben, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.

Haufe Online Redaktion: Welche Methode im Bewerbungsverfahren hat sich als die am praxisrelevanteste herausgestellt?

Rinne: Hinsichtlich der Methoden der Anonymisierung hat sich die Verwendung von standardisierten Bewerbungsformularen als empfehlenswerte Lösung erwiesen, die sich prinzipiell für alle untersuchten Organisationsformen eignet. Das Fazit der Personalverantwortlichen fiel hier positiv aus. Das Schwärzen von herkömmlichen Bewerbungsunterlagen ist dagegen relativ zeitintensiv und für eine größere Bewerbendenzahl unpraktikabel.

Haufe Online Redaktion: Und wie bewerten Sie die praktische Umsetzung des anonymen Bewerbungsverfahrens?

Rinne: Die Befürchtungen, solche Verfahren der Personalrekrutierung führten zu unnötiger Bürokratie, haben sich in dem Modellprojekt größtenteils als unbegründet erwiesen. Die Einschätzung der Personalverantwortlichen zeigt, dass sich anonymisierte Bewerbungsverfahren nahezu in allen Beschäftigungsbereichen umsetzen lassen und Stellen erfolgreich besetzt werden können. Diese Sicht wird im Übrigen auch von den Bewerbenden geteilt, denn die Anonymisierung mit einem standardisierten Bewerbungsformular wird von ihnen als praktikabel beurteilt. 31 Prozent benötigten nach eigener Einschätzung für anonymisierte Bewerbungen weniger Zeit als für herkömmliche Verfahren, 44 Prozent sahen kein Unterschied und lediglich 25 Prozent der Befragten gaben für das anonymisierte Verfahren einen höheren Zeitaufwand an.

Haufe Online Redaktion: Würden Sie das anonyme Verfahren nun allen empfehlen?

Rinne: Anonymisierte Bewerbungsverfahren stellen Chancengleichheit her und fördern die nötige Sensibilität in der betrieblichen Praxis. Sie sind jedoch allein auch kein Allheilmittel.

Es ist insgesamt wünschenswert, dass Auswahlverfahren noch stärker als bislang unter den Gesichtspunkten der Transparenz und Objektivität gestaltet werden. Dies beinhaltet zum Beispiel genaue und geschärfte Anforderungsprofile sowie klare und nachvollziehbare Bewertungskriterien. Aber Chancengleichheit im Bewerbungsprozess kann die strukturellen Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen etwa im Bildungsbereich oder bei Beförderungen nicht kompensieren. Dazu sind weitere Strategien notwendig – und möglich.

Haufe Online Redaktion: Würden Sie sich für eine gesetzliche Verpflichtung aussprechen?

Rinne: Eine gesetzliche Verpflichtung ist vermutlich nicht erstrebenswert. Allerdings erscheint ein - freiwilliger - Verzicht auf persönliche Angaben, die typischerweise den Kopf einer Bewerbung ausmachen, unkritisch. Diese Angaben auf der ersten Seite umfassen das Foto, den Namen, die Anschrift, das Geburtsdatum, den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit und den Familienstand. Auch wenn in diesem Szenario indirekte Rückschlüsse weiter möglich sind, resultiert automatisch ein stärkerer Fokus auf die Qualifikation der Bewerbenden. Dazu bedarf es jedoch der Initiative der Organisationen – Bewerbende gehen davon aus, dass ihnen zum Beispiel ein fehlendes Bewerbungsfoto nachteilig ausgelegt wird. Dass dies nicht der Fall ist, müsste daher entsprechend kommuniziert werden.

Dr. Ulf Rinne ist Senior Research Associate am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Er hat das Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet.

Das Interview führte Kristina Enderle da Silva.