Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber dem prozessunfähigen Beteiligten. besonderer Vertreter. Unwirksamkeit der Prozesshandlungen des Prozessunfähigen wegen Nichtgenehmigung. Vertreterpflichten. Wohl des Betreuten. Nachteil. gerichtliche Überprüfung
Leitsatz (amtlich)
Ein Gericht hat grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die prozessualen Handlungen eines für einen prozessunfähigen Beteiligten bestellten besonderen Vertreters im Rahmen der diesem obliegenden Pflichten gehalten haben.
Leitsatz (redaktionell)
Ein Gericht hat grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die prozessualen Handlungen eines für einen prozessunfähigen Beteiligten bestellten besonderen Vertreters im Rahmen der diesem obliegenden Pflichten gehalten haben.
Normenkette
SGG § 72 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; SGB 10 § 15 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 4; BGB § 1901; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; UNBehRÜbk Art. 12 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Mit Beschluss vom 26.9.2012 hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln (SG) vom 18.4.2012 als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4.10.2011 (B 8 SO 3/11 AR) und vom 12.7.2012 (B 9 SB 4/12 AR) ausgeführt, dass der vom SG bestellte besondere Vertreter, Rechtsanwalt A., auf Anfrage des Senats erklärt habe, dass er die vom Kläger erhobene Berufung sowie die eingereichten Anträge nicht genehmige (Schreiben vom 14.9.2012). Damit seien die vom Kläger persönlich vorgenommenen Prozesshandlungen, insbesondere die eingelegte Berufung, unwirksam. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig. Die Begründung genügt den gesetzlichen Anforderungen (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie hier - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36).
Diese Erfordernisse hat der Kläger beachtet. Er macht im Wesentlichen geltend, das LSG habe ihm gegenüber seine Fürsorgepflicht verletzt, ihm den Zugang zum Gericht in nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert und rechtliches Gehör versagt, indem es seine Entscheidung ohne Weiteres darauf gestützt habe, dass sein besonderer Vertreter es abgelehnt habe, seine Einlegung der Berufung zu genehmigen. Sein auf Zuerkennung des Merkzeichens G gerichtetes Begehren sei jedenfalls nicht offensichtlich haltlos. Vielmehr liege eine weitere Sachverhaltsaufklärung nahe.
Die Beschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Beschluss beruht auf einem Verfahrensmangel, weil das LSG erkennbar nicht geprüft hat, ob sich der besondere Vertreter des Klägers bei seiner Weigerung, den Kläger bei der Durchführung der Berufung zu unterstützen, im Rahmen seiner dem Kläger gegenüber bestehenden Pflichten gehalten hat.
Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 Nr 2 BGB) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.
Auf der Grundlage eines Gutachtens, das am 21.6.2009 von Dr. V., Chefarzt des Instituts Neurologie/Psychiatrie der Kliniken St. A., erstattet worden ist, hat das SG Köln den Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren als prozessunfähig angesehen und ihm durch Beschluss vom 6.6.2011 Rechtsanwalt A., als besonderen Vertreter beigeordnet. Auch der Senat hat keine Zweifel an dem Vorliegen von Prozessunfähigkeit (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 8). Da die Bestellung des besonderen Vertreters nicht auf einen Rechtszug beschränkt worden ist, wirkt sie bis jetzt fort (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 72 RdNr 4b mwN).
Die Pflichten eines besonderen Vertreters sind im SGG nicht ausdrücklich geregelt. Insofern liegt es nahe, § 15 SGB X heranzuziehen, der die Bestellung eines Vertreters im Verwaltungsverfahren betrifft. Ist ein Vertreter nicht vorhanden, so hat das Gericht nach § 15 Abs 1 Nr 4 SGB X auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter für einen Beteiligten zu bestellen, der infolge einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden. Gemäß § 15 Abs 4 SGB X gelten für das Amt des Vertreters in den Fällen des Abs 1 Nr 4 die Vorschriften über die Betreuung entsprechend. Demgemäß geht der Senat davon aus, dass sich auch die Pflichten eines nach § 72 Abs 1 SGG bestellten besonderen Vertreters an § 1901 BGB orientieren. § 1901 Abs 2 S 1 BGB sieht vor, dass der Betreuer die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen hat, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten (§ 1901 Abs 2 S 2 BGB ). Darüber hinaus hat der Betreuer Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist (§ 1901 Abs 3 BGB).
Ferner ist in diesem Zusammenhang Art 12 Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK; BGBl II 2008, 1419 ff) zu berücksichtigen (vgl dazu allgemein Loytved/Frerichs in Aichele ≪Hrsg≫, Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, 2013, S 121, 135 ff). Nach Art 12 Abs 3 UN-BRK treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Dementsprechend sollte auch die Tätigkeit eines besonderen Vertreters darauf ausgerichtet sein, nicht einfach seine eigenen Entscheidungen an die Stelle derjenigen des prozessunfähigen Beteiligten zu setzen, sondern diesen - soweit wie möglich und zumutbar - bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit zu unterstützen.
Im Rahmen seiner den Beteiligten gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, Vor § 60 RdNr 1b; Leitherer, aaO, § 106 RdNr 2 mwN) hat das Gericht zur Wahrung der prozessualen Rechte prozessunfähiger Beteiligter (vgl Art 19 Abs 4, Art 103 Abs 1 GG) grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die Maßnahmen eines besonderen Vertreters, der für das bei ihm anhängige Verfahren bestellt ist, im Rahmen der Pflichten halten, die diesem dem prozessunfähigen Beteiligten gegenüber obliegen. Auch insoweit wirkt sich Art 12 Abs 3 UN-BRK bei der Auslegung des innerstaatlichen Rechts aus. Jedenfalls darf das Gericht eine Handlung des besonderen Vertreters, die den Wünschen und Interessen des prozessunfähigen Beteiligten erkennbar widerspricht, nicht ohne Weiteres seiner Entscheidung zum Nachteil des Vertretenen zugrunde legen.
Diesen Kriterien wird der vom Kläger angegriffene Beschluss des LSG nicht gerecht. Er betrifft eine an sich statthafte Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG Köln vom 18.4.2012. Darin hat das SG zum Ausdruck gebracht, dass der Sachverhalt wegen der Weigerung des Klägers, sich einer psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, nicht vollständig habe aufgeklärt werden können. Insofern ist das Berufungsbegehren des Klägers - wie dieser zutreffend geltend macht - nicht offensichtlich haltlos. Unter diesen Umständen durfte sich das LSG nicht mit der ohne nähere Begründung abgegebenen Erklärung des besonderen Vertreters des Klägers begnügen, es sei nicht beabsichtigt, die vom Kläger eingereichten Anträge zu genehmigen. Auf die Beschlüsse des BSG vom 4.10.2011 - B 8 SO 3/11 AR - und vom 12.7.2012 - B 9 SB 4/12 AR - kann sich das LSG insoweit nicht berufen, weil es sich dabei nicht um Entscheidungen über statthafte Rechtsmittel gehandelt hat.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der in § 160a Abs 5 SGG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 6314643 |
NJW 2014, 10 |
NJW 2014, 1039 |
FA 2014, 96 |
JM 2014, 206 |