Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Menschenwürde und des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz durch das Weglassen der Anrede „Herr” vor dem Namen der Personen in einem Strafbefehlsantrag. Verweigerung eines Staatsanwalts der Höflichkeitsanrede „Herr” in einem von ihm vorgefertigten und anschließend vom Gericht zu unterzeichnenden Strafbefehlsantrag gegenüber einem ausländischen Arbeitnehmer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. Deutsche Praxis bei der Formulierung der Strafbefehlsanträge bezüglich der Höflichkeitsanrede. Fehlender Bezug einer Vorabentscheidungsfrage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts
Normenkette
EGV Art. 177; EGVtr Art. 234; EGV Art. 6
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Amtsgericht Reutlingen vorgelegten Frage nicht zuständig.
Gründe
1.
Das Amtsgericht Reutlingen hat mit Beschluß vom 19. August 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 3. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 6 dieses Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Grado, einen italienischen Staatsangehörigen, und Herrn Bashir, der die Staatsangehörigkeit eines Drittlandes besitzt.
3.
Nach § 407 der deutschen Strafprozeßordnung (StPO) kann die Staatsanwaltschaft, wenn sie eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, beim Strafrichter den Erlaß eines von ihr vorgefertigten Strafbefehls beantragen. Nach § 408 StPO hat der Richter diesen Antrag mit Datum und seiner Unterschrift zu versehen, wenn dem Erlaß des Strafbefehls seiner Meinung nach keine rechtlichen Bedenken entgegenstehen. Mit der Unterschrift wird aus dem Antrag ein Strafbefehl des Gerichts mit urteilsähnlicher Wirkung.
4.
Am 9. April 1996 beantragte die Staatsanwaltschaft Tübingen durch den Staatsanwalt des Referats 35 nach diesen Vorschriften beim Amtsgericht Reutlingen den Erlaß eines Strafbefehls
”gegen
- Martino G r a d o …
- Shahid B a s h i r …”
u. a. wegen des Vergehens des unerlaubten Entfernens vom Ort eines Autounfalls, an dem sie beteiligt waren.
5.
Der zuständige Richter beim Amtsgericht Reutlingen war der Ansicht, daß das Weglassen der Anrede ”Herr” vor dem Namen der Personen, gegen die sich der Strafbefehlsantrag richte, gegen die Menschenwürde und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, die in den Artikeln 1 und 3 des deutschen Grundgesetzes verankert seien, verstoße, und bat den Staatsanwalt um Nachbesserung seines Antrags, allerdings vergeblich.
6.
Da der Amtsrichter der Auffassung war, daß er nach der StPO, wonach der Strafrichter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen habe, sofern keine rechtlichen Bedenken entgegenstünden, nicht selbst den Strafbefehl abändern oder ergänzen könne, sah er davon ab, seinen Namen unter den Antrag zu setzen.
7.
Das Landgericht Tübingen billigte mit Beschluß vom 30. Juli 1996 die Vorgehensweise des Staatsanwalts und entschied, daß der Amtsrichter von Gesetzes wegen nicht befugt sei, das Verfahren nicht weiterzubetreiben.
8.
Unter diesen Umständen hat der zuständige Richter beim Amtsgericht Reutlingen das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes über folgende Vorlagefrage ausgesetzt:
Ist es mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar, oder verstößt es gegen das Diskriminierungsverbot in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union, daß ein Staatsanwalt in einem von ihm vorgefertigten und anschließend vom Gericht zu unterzeichnenden Strafbefehlsantrag gegenüber einem ausländischen Arbeitnehmer (im Sinne von Artikel 48 – 51 des Vertrages über die Europäische Union) aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ausdrücklich die Höflichkeitsanrede ”Herr” verweigert – und zwar entgegen der sonst bei der Staatsanwaltschaft üblichen und auch von diesem Staatsanwalt sonst selbst geübten Praxis?
9.
Der Amtsrichter weist in seinem Vorlagebeschluß darauf hin, daß sich die Staatsanwaltschaft weigere, gegenüber den ausländischen Angeschuldigten, von denen einer ein Gemeinschaftsbürger sei, die Höflichkeitsanrede ”Herr” zu verwenden, obwohl sie sich dieser Höflichkeitsform in anderen Verfahren, die keine Ausländer beträfen, bediene.
10.
Die Staatsanwaltschaft Tübingen macht dagegen geltend, die Formulierung der Strafbefehlsanträge hänge davon ab, ob die Anträge eine oder mehrere Personen beträfen. Denn in Anträgen, die sich nur gegen einen Angeschuldigten richteten, sei die Anrede ”Herr” oder ”Frau” üblich, während die Verwendung dieser Anrede in Anträgen, die sich gegen mehr als einen Angeschuldigten richteten, sprachlich nicht möglich sei. Diese Praxis sei unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Angeschuldigten und entspreche der Praxis anderer deutscher Staatsanwaltschaften und zahlreicher Gerichte.
11.
Die Kommission trägt vor, zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens bestehe offensichtlich kein Zusammenhang. Außerdem fiel...