Beteiligte
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Januar 2000 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt ab 1. April 1995 Pflegegeld nach der Pflegestufe III anstelle der Pflegestufe II.
Die im August 1988 geborene Klägerin kam mit einem Tumor zur Welt, der operativ entfernt werden mußte. Als Operationsfolge besteht bei ihr eine Querschnittslähmung unterhalb des zwölften Brustwirbels mit kompletter Lähmung der Beine und einer Harnblasenlähmung, weswegen sie katheterisiert werden muß. Die Klägerin lebt im Haus ihrer Eltern, das im Erdgeschoß rollstuhlgerecht ausgebaut ist. Seit dem Sommer 1995 besucht sie die Regelschule. Sie ist bei der Beklagten pflegeversichert. Ihre Pflege wird im wesentlichen durch ihre Mutter sichergestellt, die den Beruf der Kinderkrankenschwester erlernt hat. Die Klägerin erhielt von der Krankenkasse bereits Pflegegeld nach § 57 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) aF. Im Januar 1995 beantragte sie die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe III. In einem auf Veranlassung der Beklagten eingeholten Gutachten aus dem Oktober 1995 kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zu dem Ergebnis, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe ein Pflegebedarf im zeitlichen Umfang von insgesamt vier Stunden und fünf Minuten. Hiervon müsse der Pflegebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes noch abgezogen werden. Danach lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. November 1995 die Gewährung von Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe III ab. Im Verlauf des Widerspruchsverfahrens machte die Klägerin geltend, sie müsse täglich fünfmal katheterisiert werden, was jeweils mit dem Aus- und Anziehen der Kleidung sowie dem Wechsel des Stützmieders und der Gehschienen verbunden sei. Es bestehe auch nachts Hilfebedarf. Nach dem von ihrer Mutter erstellten Tagesprofil betrug der zeitliche Pflegebedarf, bezogen auf einen Tag im Januar 1996, fünf Stunden und fünfzig Minuten. Der MDK ermittelte in einem weiteren Gutachten einen Bedarf an Grundpflege von insgesamt 193 Minuten. Der Widerspruch wurde daraufhin zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 1996).
Im nachfolgenden Klageverfahren machte die Klägerin zusätzlich als Pflegebedarf geltend, wegen einer bei ihr erforderlichen Therapie müsse sie auch nachts zum Trinken angehalten werden. Darüber hinaus müsse eine zu Hause durchgeführte physikalische Therapie nach der Methode Castillo Morales im zeitlichen Umfang von 30 bis 45 Minuten berücksichtigt werden. Aus einem weiteren von der Mutter der Klägerin erstellten Tagesprofil ergibt sich ein täglicher Pflegeaufwand einschließlich der hauswirtschaftlichen Verrichtungen von ca 9 ½ Stunden. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage nach Anhörung der Mutter stattgegeben (Urteil vom 23. Januar 1997). Es hat die Maßnahmen der Behandlungspflege einschließlich des Durchknetens der Beine, von Geh- und Stehübungen und der von der Mutter zu Hause durchgeführten Therapie nach Castillo Morales berücksichtigt und einen Zeitaufwand von täglich durchschnittlich 23 Minuten für Fahrten zu Ärzten, zur Krankengymnastik und zum Orthopädiemechaniker angerechnet, wobei teilweise auch Fahrten einbezogen wurden, die nicht jede Woche zumindest einmal stattfanden. Hiernach sah es die Grenze von 240 Minuten für Maßnahmen der Grundpflege als überschritten an.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Januar 2000). Das SG habe sich in bezug auf die Berücksichtigung behandlungspflegerischer Maßnahmen zu Unrecht auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. April 1996 (SozR 3-2500 § 53 Nr 10) gestützt, das noch zum Rechtszustand nach den §§ 53 ff SGB V aF ergangen sei und auf das Elfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) nicht übertragen werden könne. Durch das Urteil des BSG vom 19. Februar 1998 (SozR 3-3300 § 14 Nr 2) sei klargestellt, daß die Behandlungspflege hier nicht beim grundpflegerischen Bedarf zu berücksichtigen sei. Die erneute Begutachtung durch Dr. D. vom MDK (Gutachten vom 23. April 1999) habe ergeben, daß sich eine Gesamtpflegezeit von 208 Minuten ergebe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 14 Abs 4 und 15 Abs 3 Nr 3 SGB XI. Das LSG habe die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Einbeziehung von krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen in den grundpflegerischen Zeitbedarf verkannt. Danach müßten alle Maßnahmen berücksichtigt werden, die im Zusammenhang mit dem Tragen des Schienenhülsenapparates erforderlich seien, weil die Klägerin auf dieses Hilfsmittel angewiesen sei, um die Verrichtungen Gehen und Stehen ausführen zu können. Entgegen der Auffassung des Gutachters des MDK müsse auch der Zeitbedarf für das „eigentliche” Katheterisieren einbezogen werden, weil ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Katalogverrichtung Blasenentleerung bestehe. Der Gutachter habe auch der aus therapeutischen Gründen erforderlichen erhöhten Flüssigkeitsaufnahme nicht die erforderliche Bedeutung eingeräumt, obwohl er das Trinkverhalten der Klägerin als schlecht bewertet habe. Zu berücksichtigen sei schließlich auch der Zeitaufwand für das Durchkneten der Beine und die Krankengymnastik nach Castillo Morales.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. Januar 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Ulm vom 23. Januar 1997 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. Januar 2000 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die Feststellungen des LSG lassen eine Entscheidung darüber, ob der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe III begründet ist, nicht zu.
1. Der Anspruch auf Pflegegeld wegen Schwerstpflegebedürftigkeit, den die Klägerin seit dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 (Art 68 Abs 2 Pflegeversicherungsgesetz ≪PflegeVG≫) geltend macht, setzt voraus, daß Pflegebedürftigkeit iS des § 14 SGB XI in einem Ausmaß vorliegt, das in § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 3 und § 15 Abs 3 Nr 3 SGB XI (idF des 1. SGB XI-ÄndG vom 14. Juni 1996, BGBl I 830) festgelegt ist. Die Anforderungen an das zeitliche Ausmaß des Pflegebedarfs in der Zeit seit dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung waren nicht anders (vgl BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1). Eine Zuordnung zur Pflegestufe III setzt danach insbesondere voraus, daß der Pflegebedürftige rund um die Uhr, auch nachts, einen Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege von insgesamt durchschnittlich 240 Minuten täglich hat.
Zu berücksichtigen ist hierbei, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2), ausschließlich der Umfang des Pflegebedarfs bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, die in § 14 Abs 4 SGB XI ausdrücklich aufgeführt sind und in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Grundpflege) sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung aufgeteilt werden. Eine Berücksichtigung krankheitsspezifischer Hilfeleistungen (sog Behandlungspflege) als Hilfen bei Verrichtungen der Grundpflege kommt nur dann in Betracht, wenn und soweit sie (a) Bestandteil der Hilfe für die sog Katalog-Verrichtungen sind oder (b) im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7), wobei Behandlungspflege dann „Bestandteil einer Verrichtung” ist, wenn sie mit ihr untrennbar verbunden ist, wie dies etwa bei der Sondenernährung und der Stomaversorgung (Darmentleerung) der Fall ist. Ein zeitlicher Zusammenhang mit einer Verrichtung reicht nur dann aus, wenn die gleichzeitige oder unmittelbar vorhergehende oder anschließende Durchführung der krankheitsspezifischen Maßnahme objektiv erforderlich ist (zB Pflegebad anstelle eines normalen Bades und anschließende Hautbehandlung bei einem Neurodermitis-Patienten, vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9).
2. Aus den Feststellungen des LSG läßt sich nicht einmal ansatzweise erkennen, welche der von der Klägerin geltend gemachten krankheitsspezifischen Hilfeleistungen nach diesen Vorgaben berücksichtigungsfähig sind und welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Das LSG begnügt sich insoweit mit dem pauschalen Satz, daß – auf der Grundlage der in SozR 3-3300 § 14 Nr 2 abgedruckten Entscheidung des Senats – die Behandlungspflege „hier” nicht beim grundpflegerischen Zeitbedarf zu berücksichtigen sei. Soweit das LSG außerdem auf das Gutachten des Dr. D. Bezug nimmt, kann diese Aussage jedenfalls im Hinblick auf die bei der Klägerin erforderliche Katheterisierung nicht zutreffen. Die Katheterisierung zählt zu den krankheitsspezifischen Hilfeleistungen; sie ist mit der Verrichtung Blasenentleerung untrennbar verbunden. Der Gutachter Dr. D. ist insoweit erkennbar von einer anderen, der Rechtsprechung des erkennenden Senats widersprechenden Rechtsauffassung ausgegangen.
Auch die hilfsweise angedeutete Begründung, der Sachverständige habe zu erkennen gegeben, daß sich die Klägerin möglicherweise ab dem Alter von zehn Jahren selbst katheterisieren könne, kann die Auffassung des LSG nicht stützen, denn die Klägerin war zu Beginn des streitigen Leistungszeitraums gerade sechs Jahre alt. Das LSG wird zu ermitteln haben, welcher Zeitaufwand für den „eigentlichen Katheterisierungsvorgang”, den der Gutachter nicht einbezogen hat, anzusetzen ist.
Das angefochtene Urteil läßt auch nicht erkennen, ob die von der Klägerin darüber hinaus geltend gemachten weiteren Hilfeleistungen, wie das An- und Ablegen des Schienenhülsenapparates, die Begleitung der Klägerin beim „selbständigen” Gehen und Stehen unter Benutzung dieses Hilfsmittels sowie das Durchkneten der Beine zur Gewährleistung einer hinreichenden Durchblutung bereits Berücksichtigung gefunden haben oder aber nach den aufgezeigten Kriterien noch zu berücksichtigen sind. Während der geforderte unmittelbare Bezug zu einer Katalogverrichtung im Hinblick auf die Benutzung des Schienenhülsenapparates noch zu erkennen ist, bedarf diese Frage in bezug auf das Durchkneten der Beine weiterer Aufklärung. Ob die von der Klägerin im Beschwerdeverfahren geltend gemachte Anwendung der physikalischen Therapie nach Castillo Morales, die eine Entlastung bestimmter Segmente der Wirbelsäule bewirken soll, berücksichtigungsfähig ist, erscheint eher unwahrscheinlich, weil es sich um eine rehabilitative Maßnahme handeln dürfte, mit deren Hilfe eine Besserung oder die Verhinderung einer Verschlechterung des Behinderungsbildes der Klägerin für die Zukunft erreicht werden soll. Maßnahmen, die therapeutischen Zielen in der Zukunft dienen, fallen nicht in den Risikobereich der Pflegeversicherung (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9 und 10). Berücksichtigungsfähig wäre die Maßnahme nur dann, wenn sie erforderlich wäre, um – etwa im Bereich der Mobilität – aktuell die Durchführung einer Verrichtung wie Gehen, Stehen, Sitzen oder Liegen (vgl hierzu BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 14) zu ermöglichen oder im Sinne der aktivierenden Pflege zu verbessern. Auch insoweit sind weitere Ermittlungen unter Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich. Das LSG wird hierbei zu berücksichtigen haben, daß die Frage, welche Hilfeleistungen aus dem Bereich der Behandlungspflege nach diesen Vorgaben „verrichtungsbezogen” und daher als Pflegebedarf iS des § 14 SGB XI berücksichtigungsfähig sind, nicht einheitlich beantwortet werden kann, sondern teilweise auch vom Lebensalter des Betroffenen abhängt (SozR 3-3300 § 14 Nr 11).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen