Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. kein wahrnehmbarer Aufruf der Sache vor dem Sitzungssaal. Umfang der Beweiskraft des Verhandlungsprotokolls. Vermutung der Kausalität der Gehörsverletzung. Zurückverweisung. Rechtliches Gehör. Verletzung. Aufruf der Sache. Verhandlungsprotokoll. Beweiskraft. Vermutung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat
2. Jedenfalls dann, wenn das Gericht die Sache über eine Sprechanlage außerhalb des Verhandlungssaals aufruft, die sich im Nachhinein als nicht voll funktionstüchtig erweist, sagt der formularmäßige Vermerk in der Sitzungsniederschrift, der Aufruf zur Sache sei erfolgt, von vornherein nichts darüber aus, ob dieser Aufruf auch außerhalb des Sitzungssaals zu hören war.
3. Da sich der geplante Ablauf einer mündlichen Verhandlung erfahrungsgemäß verzögern kann, kann von den Beteiligten nicht verlangt werden, sogleich mit Beginn der Terminsstunde den Saal zu betreten und damit die möglicherweise noch in vollem Gang befindliche vorangegangene Verhandlung zu stören.
4. Wird einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht, ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruhen kann; nähere Darlegungen zur Kausalität einer Gehörsverletzung sind dann regelmäßig entbehrlich.
Orientierungssatz
1. Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat (vgl BSG vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 = USK 81204).
2. Jedenfalls dann, wenn das Gericht die Sache über eine Sprechanlage außerhalb des Verhandlungssaals aufruft, die sich im Nachhinein als nicht voll funktionstüchtig erweist, sagt der formularmäßige Vermerk, der Aufruf zur Sache sei erfolgt, von vornherein nichts darüber aus, ob dieser Aufruf auch außerhalb des Sitzungssaals zu hören war (vgl BSG vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 aaO).
3. Wird einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht, ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruhen kann. Nähere Darlegungen zur Kausalität einer Gehörsverletzung sind dann regelmäßig entbehrlich (vgl BSG vom 11.2.1982 - 11 RA 50/81 = BSGE 53, 83 = SozR 1500 § 124 Nr 7).
Normenkette
SGG §§ 62, 112 Abs. 1 S. 2, §§ 122, 124 Abs. 1, § 160a Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO § 165; SGG § 121 S. 2, § 132
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 30.06.2014; Aktenzeichen L 10 SB 139/12) |
SG Lüneburg (Gerichtsbescheid vom 01.08.2012; Aktenzeichen S 6 SB 273/11) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. Juni 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit steht die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" (Blindheit).
Bei der Klägerin waren zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 aufgrund der Funktionsbeeinträchtigung hochgradige Sehbehinderung (Einzel-GdB 100), zerebrales Anfallsleiden (Einzel-GdB 40) und Hirntumor mit operativer Behandlung (Einzel-GdB 30) festgestellt sowie die Merkzeichen "H", "G", "B" und "RF" (Bescheide vom 11.10.2007 und 1.2.2008).
Den Antrag der Klägerin, bei ihr ab Juni 2010 auch das Merkzeichen "Bl" festzustellen, lehnte das beklagte Land nach Einholung mehrerer augenärztlicher Gutachten ab (Bescheid vom 28.2.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.9.2011).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1.8.2012). Im Berufungsverfahren hat das LSG Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie ein weiteres augenärztliches Gutachten eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 6.11.2013 ausgeführt, es sei unbestritten, dass die Sehfähigkeit der Klägerin stark eingeschränkt sei und nur knapp über der Grenze zur Blindheit im Sinne des Gesetzes liege. Eine Nachuntersuchung solle innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre durchgeführt werden.
Mit Urteil auf in Abwesenheit der Klägerin durchgeführte mündliche Verhandlung vom 30.6.2014 hat das LSG Niedersachsen-Bremen einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" (Blindheit) verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Das Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel, weil das LSG ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Sie habe sich am Terminstage in Begleitung ihres Ehemanns rechtzeitig bei Gericht eingefunden und im gekennzeichneten Wartebereich auf die mündliche Verhandlung gewartet, die laut der aufgehängten Terminsrolle für 11:00 Uhr geplant gewesen sei. Während die Klägerin mit ihrem Ehemann gewartet habe, seien aus anderen Gerichtssälen mehrere Aufrufe zu anderen, dort abgehaltenen Verhandlungen erfolgt, die akustisch gut wahrnehmbar gewesen seien. Ihre Sache sei dagegen nicht aufgerufen worden. Gegen 11:10 Uhr habe die Protokollführerin den Wartebereich betreten, sich dort umgeblickt und sei wieder verschwunden. Nachdem ihr Ehemann gegen 11:20 Uhr festgestellt habe, dass die Sache der Klägerin auf der Terminsrolle zwischenzeitlich gestrichen worden sei, hätten sie gemeinsam den vorgesehenen Verhandlungssaal betreten. Die dort mit den ehrenamtlichen Richtern und der Protokollführerin anwesende Vorsitzende habe ihr mitgeteilt, die mündliche Verhandlung sei bereits beendet und sie könnten nach Hause fahren. Im Rahmen der weiteren Aufklärung der Angelegenheit sei festgestellt worden, dass das Mikrofon im Verhandlungssaal defekt gewesen sei und der Aufruf der Sache über dieses Mikrofon offensichtlich nicht in den Wartebereich übertragen worden war. Das LSG habe ihr dadurch ohne hinreichenden Grund die Möglichkeit genommen, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und dadurch ihr rechtliches Gehör verletzt.
II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das LSG hat das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, indes es ihr ohne hinreichenden Grund die Möglichkeit genommen hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen (1.). Es ist nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht (2.). Der Senat macht daher von seinem durch § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG eingeräumten Ermessen Gebrauch, indem er das LSG-Urteil aufhebt und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverweist (3.).
1. Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 SGG). Die Anhörung kann zwar auch schriftlich geschehen (§ 62 Halbs 2 SGG). Findet jedoch - wie hier vor dem LSG - eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht des Beteiligten zur Äußerung in dieser Verhandlung (BVerfGE 42, 364, 370). Um den Beteiligten die Wahrnehmung dieses Rechts zu gewährleisten, wird vom Vorsitzenden des Spruchkörpers Ort und Zeit des Termins den Beteiligten vorher mitgeteilt (§ 110 Abs 1 S 1 SGG) und zu Beginn der mündlichen Verhandlung die Sache aufgerufen (§ 112 Abs 1 S 2 SGG). Durch den Aufruf der Sache wird den Beteiligten bekanntgemacht, dass nunmehr in die mündliche Verhandlung eingetreten werde. Besteht eine Gewohnheit, außerhalb des Sitzungsraums auf den Aufruf zu warten, so muss die Sache deutlich hörbar und verständlich auch außerhalb des Raums aufgerufen werden. Das Gericht kommt damit seiner Pflicht nach, die anwesenden Beteiligten effektiv in die Lage zu versetzen, den Termin auch tatsächlich wahrzunehmen (s BVerfGE 42, 364, 371).
Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist dagegen verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat (BSG Urteil vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 - Juris). So liegen die Verhältnisse zur Überzeugung des Senats hier. Nach Angaben der Klägerin hatte sie sich mit ihrem Ehemann am Terminstag rechtzeitig bei Gericht eingefunden und im dafür vorgesehenen Bereich auf den Beginn der mündlichen Verhandlung gewartet, ohne dass ein Aufruf ihrer Sache erfolgt wäre. Aufrufe aus anderen Sälen seien akustisch gut wahrnehmbar gewesen. Als sie nach der vorgesehenen Terminsstunde den Sitzungssaal betreten habe, habe die Vorsitzende ihr mitgeteilt, der Termin sei bereits beendet und sie könnten nach Hause fahren. Ein von der Vorsitzenden und der Protokollführerin unterzeichneter Vermerk bestätigt diesen Geschehensablauf im wesentlichen Kern. Danach hat das Gericht am Terminstag die Sache zweimal über die Sprechanlage aufgerufen, bevor es in Abwesenheit der Klägerin verhandelt und - nach erneutem Aufruf der Sache - das angefochtene Urteil gesprochen hat. Erst während der Verhandlung der nachfolgenden Sache habe die Klägerin mit ihrem Ehemann den Saal betreten und geltend gemacht, ein Aufruf sei nicht zu hören gewesen. Wie der Vermerk weiter ausführt, hat ein anschließender mehrfacher Test der Sprechanlage kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Diese sei zuerst draußen nicht zu hören gewesen, habe dann aber funktioniert. Berechtigte Zweifel an der Darstellung der Klägerin, ein für sie hörbarer Aufruf der Sache im Wartebereich außerhalb des Saales sei nicht erfolgt, hat der Senat angesichts dessen nicht. Solche Zweifel ergeben sich insbesondere nicht aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung des LSG vom 30.6.2014, in dem formularmäßig der (einmalige) Aufruf der Sache vermerkt ist. Insoweit kann dahinstehen, ob der Aufruf der Sache zu den wesentlichen Förmlichkeiten gehört, die von der besonderen Beweiskraft der Niederschrift gemäß § 122 SGG iVm § 165 ZPO umfasst werden (vgl Zeihe, SGG, Stand November 2012, Anhang 8, § 165 ZPO RdNr 2 mwN; vgl OLG Köln NJW-RR 1992, 1022). Denn jedenfalls dann, wenn das Gericht die Sache über eine Sprechanlage außerhalb des Verhandlungssaals aufruft, die sich im Nachhinein als nicht voll funktionstüchtig erweist, sagt der formularmäßige Vermerk, der Aufruf zur Sache sei erfolgt, von vornherein nichts darüber aus, ob dieser Aufruf auch außerhalb des Sitzungssaals zu hören war (vgl BSG Urteil vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 - Juris = USK 81204).
Die Klägerin braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, nicht alles getan zu haben, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Da sich der geplante Ablauf einer mündlichen Verhandlung erfahrungsgemäß verzögern kann, kann von den Beteiligten nicht verlangt werden, sogleich mit Beginn der Terminsstunde den Saal zu betreten und damit die möglicherweise noch in vollem Gang befindliche vorangegangene Verhandlung zu stören. Als die Klägerin sich nach längerer Wartezeit schließlich in den Sitzungssaal begeben hat, war das Urteil bereits verkündet und damit wirksam, § 132 SGG. Ein Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung nach § 121 S 2 SGG kam nicht mehr infrage (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 121 RdNr 3).
2. Entgegen der Ansicht des Beklagten lässt sich auch nicht ausschließen, dass das angefochtene Urteil auf der festgestellten Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Wird einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht, ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruhen kann. Nähere Darlegungen zur Kausalität einer Gehörsverletzung sind dann regelmäßig entbehrlich (vgl BSGE 53, 83 = SozR 1500 § 124 Nr 7). Denn die mündliche Verhandlung ist grundsätzlich das Kernstück der Rechtsfindung; sie ist in ihrem inneren Ablauf, wenn sie nach den Vorschriften des Gesetzes durchgeführt wird, nicht vorhersehbar und kann nachträglich nicht fiktiv rekonstruiert werden. Im Fall der Klägerin hätte das LSG aufgrund der mündlichen Verhandlung möglicherweise doch zu dem Ergebnis gelangen können, es müsse - ua wegen der persönlich vorgebrachten Einwände der Klägerin gegen das vom LSG zuletzt eingeholte Sachverständigengutachten über ihre Sehfähigkeit und der inzwischen verstrichenen Zeit - zumindest noch ergänzend Beweis erheben etwa durch ergänzende Befragung des Sachverständigen (vgl BSG Beschluss vom 31.3.2004 - B 4 RA 126/03 B - SozR 4-1500 § 112 Nr 2 = SozR 4-1500 § 62 Nr 2).
3. Der Senat macht von seinem durch § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG eingeräumten Ermessen zur Verfahrensbeschleunigung (vgl Zeihe, SGG, Stand November 2012, § 160a RdNr 38 mwN) Gebrauch und verweist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Im Revisionsverfahren könnte eine möglicherweise noch ergänzend durchzuführende Beweisaufnahme nicht nachgeholt werden.
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beim BSG zu entscheiden haben.
Fundstellen