Rn. 292

Stand: EL 19 – ET: 05/2014

Was vorsichtige Bewertung bedeutet, lässt sich nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Bewertungssituation konkretisieren (vgl. zum Folgenden Bertram/Kessler 2013 § 253, Rn. 52). Kann bei einer einzeln zu bewertenden Verpflichtung für einen künftigen Ausgabenanfall ein Punktwert mit hoher Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit angegeben werden, ist dieser der Rückstellungsbewertung zugrunde zu legen. Das betrifft Verpflichtungen, die der Höhe nach bekannt sind, deren Entstehen dem Grunde nach allerdings noch ungewiss ist. Beispiele sind Rückstellungen für voraussichtlich zu zahlende Vertragsstrafen, Urlaubsrückstellungen oder Steuerrückstellungen. Das Prinzip der Bewertungsvorsicht wirkt sich bei diesen praktisch nicht aus (vgl. Wohlgemuth, in: Bonner Handbuch 1994, § 253, Rn. 92).

 

Rn. 293

Stand: EL 19 – ET: 05/2014

Als problematisch erweist sich die Einzelbewertung ungewisser Schulden, für die sich lediglich eine Bandbreite möglicher Erfüllungsbeträge angeben lässt. Zu denken ist etwa an Sachleistungsverpflichtungen (z. B. Rekultivierungs-, Instandsetzungs- und Erneuerungsverpflichtungen, Verpflichtungen zur Beseitigung von Umweltschäden, Entfernungs- und Entsorgungsverpflichtungen), bei denen Ungewissheit über die künftige Preis- und Kostenentwicklung besteht. Auch bei zahlreichen Geldleistungsverpflichtungen lässt sich der Erfüllungsbetrag vielfach nur relativ grob angeben. Das gilt etwa für Ausgleichsverpflichtungen gegenüber Handelsvertretern nach § 89b, für drohende Inanspruchnahmen aus Bürgschaften oder für Sozialplanverpflichtungen, die noch durch eine Betriebsvereinbarung zu konkretisieren sind. Schubert schlägt vor, die betr. Verpflichtungen i. H. d. Betrags mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu passivieren. Diese Entscheidungsregel soll nur greifen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit des betreffenden Betrags wesentlich höher ist als die Eintrittswahrscheinlichkeit größerer Beträge innerhalb der Schätzbandbreite. Andernfalls soll ein größerer Betrag zurückzustellen sein. Sind verschiedene Werte mit der gleichen Eintrittswahrscheinlichkeit zu erwarten, verlangt nach seiner Auffassung das Vorsichtsprinzip den Ansatz des höchsten Werts (vgl. Schubert, in: Beck Bil-Komm. 2014, § 253, Rn. 155).

 

Rn. 294

Stand: EL 19 – ET: 05/2014

Ein Vorzug dieser Entscheidungsregel liegt in der von ihr ausgehenden Begründungsnotwendigkeit. Sie zwingt den Bilanzierenden, sich mit unterschiedlichen Szenarien auseinanderzusetzen und darzulegen, welche Annahmen der Rückstellungsschätzung zugrunde liegen. Zudem dürfte diese Bewertungsanweisung in der Theorie das Vorsichtsprinzip zutreffend interpretieren. Damit ist zugleich die Schwäche des Ansatzes angesprochen. Für die praktische Ermittlung des Rückstellungsbetrags erweist er sich in der Mehrzahl der Fälle als wenig hilfreich. Wie soll etwa der Betrag mit der höchsten Einrittswahrscheinlichkeit bei Ungewissheit bestimmt werden? Die gleiche Frage stellt sich im Hinblick auf den alternativ vorgeschlagenen Erwartungswert aller möglichen Ausgabenbeträge, der ggf. um eine ­(wie auch immer zu bestimmende) Vorsichtskomponente zu erhöhen ist (vgl. HdR-E, HGB § 249, Rn. 296ff.). Bewertungsanweisungen dieser Art sind nur dann umsetzbar, wenn – z. B. aufgrund betrieblicher oder branchenspezifischer Erfahrungen – belastbare Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Unter dieser Voraussetzung spricht viel für den Ansatz des wahrscheinlichsten Werts. Eine Nebenbedingung ist dabei zu beachten: Die Rückstellung darf nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unterdotiert sein.

 

Rn. 295

Stand: EL 19 – ET: 05/2014

 

Beispiel:

In einem Schadenersatzprozess sehen die Anwälte des Beklagten gute Chancen, sich mit der Gegenseite auf einen Vergleich zu einigen. Sollten die Vergleichsverhandlungen scheitern, erachten sie abhängig vom Umfang, in dem das Gericht die geltend gemachten Ansprüche anerkennt, zwei Szenarien für denkbar, die jeweils zu höheren Schadenersatzzahlungen führen werden.

Eine Rückstellungsbewertung auf Basis des angestrebten Vergleichs ist nur zulässig, wenn für diese Entwicklung eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit spricht als für einen aus Sicht des UN eher ungünstigeren Fortgang des Rechtsstreits.

 

Rn. 296

Stand: EL 19 – ET: 05/2014

Beruhen die geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeiten ausschließlich auf subjektiven Erwartungen, die sich einer Objektivierung durch Erfahrungswerte entziehen, vermag auch die Errechnung von Erwartungswerten das Ermessen des Bilanzierenden nicht wirksam zu begrenzen. In diesen Fällen ist der zu passivierende Rückstellungsbetrag zweistufig abzuleiten (ähnlich IDW RS HFA 34, Rn. 16): In einem ersten Schritt ist die Bandbreite der möglichen Erfüllungsbeträge zu bestimmen. Entspr. der vom Gesetz geforderten vernünftigen kaufmännischen Beurteilung ist bereits auf dieser Stufe dem Vorsichtsprinzip Rechnung zu tragen, mithin im Zweifel eine eher ungünstige Entwicklung zu unterstellen. Andererseits verbietet sich die Einbeziehung extrem pessi...

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