Tz. 16

Stand: EL 36 – ET: 06/2022

Der Vollständigkeitsgrundsatz kann allg. dahingehend ausgelegt werden, dass sämtliche Geschäftsvorfälle und Gegenstände zu erfassen und alle zugänglichen Informationen auszuwerten sind (vgl. Leffson (1987), S. 219). Im Hinblick auf die GoI ist der Vollständigkeitsgrundsatz in zwei Richtungen zu konkretisieren. Einerseits sind sämtliche vorhandenen VG (und Schulden) aufzunehmen, andererseits müssen Doppelerfassungen einzelner VG (und Schulden) vermieden werden (vgl. Fülling (1976), S. 52). Diese Interpretation wirft zwangsläufig die Frage nach den aufzunehmenden VG (und Schulden) auf.

a) Abgrenzung des Vermögensgegenstands

 

Tz. 17

Stand: EL 36 – ET: 06/2022

Zur adäquaten Beachtung des Vollständigkeitsgrundsatzes ist es von großer Bedeutung, den Begriff des VG operational abzugrenzen. Hierbei ergibt sich insbesondere die Frage, inwieweit der Begriff des VG sich von dem Begriff des WG, der im Bilanzsteuerrecht Verwendung findet, unterscheidet. Diese Frage hat durch den Prozess der (Neu-)Formulierung der RL-Vorschriften im Zuge des sog. Bilanzrichtlinien-Gesetzes (BiRiLiG) vom 19.12.1985 (BGBl. I 1985, S. 2355ff.) besondere Bedeutung erlangt. Noch bis zu dem RegE vom 26.08.1983 (vgl. BT-Drs. 10/317) wurde auf das WG abgestellt. Erst durch den sog. Helmrich-Ausschuss ist der im Handelsrecht bereits seit jeher verwendete Begriff des VG wieder der Gesetzesterminologie zugeführt worden.

Knobbe-Keuk ((1993), S. 55) weist diesbezüglich darauf hin, dass es als gesichert gilt, dass der "Begriff des Vermögensgegenstandes über den des bürgerlich-rechtlichen "Gegenstandes" (Sachen und Rechte) hinausgeht und auch Güter umfaßt, die nicht mit einem Recht verbunden sind", z. B. ungeschützte Erfindungen. Ein VG liegt stets dann vor, wenn ein Gut verkehrsfähig ist und wenn es sichere, zukünftige Werte verkörpert (vgl. ausführlich zum VG-Begriff HdR-E, HGB § 246, Rn. 6 ff).

 

Tz. 18

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Das Kriterium der Verkehrsfähigkeit beinhaltet die freie Übertragbarkeit durch ein Rechtsgeschäft. Dies bedeutet, dass nur dann von einem VG gesprochen werden kann, wenn ein Gut losgelöst von den sonstigen unternehmerischen Verhältnissen einzeln übertragbar (z. B. veräußerbar) ist. Das Kriterium der zukünftigen Werte meint, dass ein Gut dann als VG angesehen wird, wenn der Kaufmann aus diesem Gut zukünftige Nutzungen erwarten kann.

Unter Beachtung des Vorsichtsprinzips gilt, dass diese Nutzungen mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit erwartet werden müssen.

Nach der BFH-Rspr. wird der WG-Begriff weit gefasst. "Er umfasst zum einen alle Gegenstände im Sinne des § 90 BGB (Sachen und Rechte), darüber hinaus aber auch sonstige Vorteile. Darunter sind tatsächliche Zustände sowie konkrete Möglichkeiten und Vorteile für den Betrieb zu verstehen, deren Erlangung der Kaufmann sich etwas kosten lässt und die nach der Verkehrsauffassung einer besonderen Bewertung zugänglich sind" (BFH, Urteil vom 12.06.2019, X R 20/17, DStR 2019, S. 2240 (2243)). Die selbständige Nutzungsmöglichkeit, d. h. die Loslösung von anderen WG, wird nicht als Voraussetzung für das Vorliegen eines WG angesehen, zumal dieses Kriterium zusätzlich als Voraussetzung bei den GWG (vgl. § 6 Abs. 2 EStG) formuliert wird. Im Gegensatz zum VG wird demnach von der Existenz eines WG bereits dann ausgegangen, wenn ein Tatbestand für die Gesamtheit des Betriebs von Bedeutung ist; die Einzelveräußerbarkeit ist dagegen nicht Voraussetzung für die Annahme eines WG (vgl. Knobbe-Keuk (1993), S. 55).

 

Tz. 19

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Vorstehende Argumentation zeigt deutlich, dass der noch in der RegB vom 26.08.1983 (vgl. BT-Drs. 10/317, S. 72f.) zum BiRiLiG zu findende Hinweis, die Einführung des Begriffs "WG" im Handelsrecht habe keine materielle Auswirkung, nicht zutreffend war. Ergänzend ist noch zu bedenken, dass es erklärtes Ziel der damals neuen RL-Vorschriften gewesen ist, deren Steuerneutralität auch unter dem Prinzip der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen für die steuerrechtliche Gewinnermittlung gemäß § 5 Abs. 1 EStG sicherzustellen. Hieran haben auch die zwischenzeitlichen Anpassungen bei der Maßgeblichkeit nichts geändert (vgl. HdR-E, Kap. 3, Rn. 1ff.). Die Einführung des WG-Begriffs in das Handelsrecht hätte wegen § 5 EStG jedoch zu einer gesetzlichen Sanktion der bisherigen und damit möglicherweise zukünftig noch weitergehenden Ausweitung der steuerrechtlichen Bilanzierungsfähigkeit geführt.

Die Weiterverwendung des Begriffs "VG" war bzw. ist demnach gerade unter dem Blickwinkel der Steuerneutralität der geltenden RL-Vorschriften zu begrüßen (vgl. Schneider, 1983, S. 2090f.).

 

Tz. 20

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Einem VG haftet wegen des Wortbestandteils "Vermögen" sprachlich lediglich die positive Seite der einer Person zuzurechnenden Sachgesamtheit an. Da jedoch ein Kaufmann auch negative Vermögensbestandteile verwaltet, empfiehlt es sich, zur vollständigen Umschreibung der i. R.e. Inventur aufzunehmenden Tatbestände von VG und Schulden zu sprechen. Der Begriff des WG ist demgegenü...

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