Entscheidungsstichwort (Thema)

Ruhen des Verfahrens wegen eines EGMR-Verfahrens. Bestimmtheit eines Vorläufigkeitsvermerks

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das FA ist nicht verpflichtet, das Einspruchsverfahren gem. § 363 Abs. 2 S. 1 AO mit Zustimmung bzw. auf Antrag wegen eines anhängigen Beschwerdeverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur sog. pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG zur beschränkten Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen gem. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a S. 2 EStG ruhen zu lassen, wenn sich die Kläger im Einspruchsverfahren konkret lediglich auf das BFH-Verfahren X R 15/09 und das BVerfG-Verfahren 2 BvR 2299/04, nicht jedoch auf die vor dem EGMR anhängige Beschwerde berufen, welche sie erst im Klageverfahren wegen der Ablehnung der Verfahrensruhe anführen.

2. Für die Anordnung einer Zwangsruhe gem. § 363 Abs. 2 S. 2 AO genügt ein anhängiges Beschwerdeverfahren vor dem EGMR nicht. Der EGMR ist nicht von § 363 Abs. 2 S. 2 AO erfasst.

3. Ein Vorläufigkeitsvermerk, der auf § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO und auf die Besteuerungsgrundlage hinweist, hinsichtlich derer die Steuer vorläufig festgesetzt wird, ist inhaltlich nach Grund und Umfang hinreichend bestimmt. Es ist nicht erforderlich, die betragsmäßige Auswirkung der vorläufigen Festsetzung anzugeben und die anhängigen Musterverfahren nach Gericht und Aktenzeichen zu bezeichnen. Damit muss im Vorläufigkeitsvermerk auch nicht ein EGMR Verfahren bezeichnet werden.

 

Normenkette

AO § 363 Abs. 2 Sätze 1-2, § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3; EMRK Art. 6 Abs. 1; EStG § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a S. 2, Abs. 4; AO § 5; FGO § 102

 

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Beklagte verpflichtet werden kann, das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 S. 1 oder S. 2 der Abgabenordnung (AO) ruhen zu lassen.

Die Kläger, beide pensionierte Ärzte, werden als Eheleute gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Mit Datum vom Mai 2009 erging der Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag. Der Bescheid war nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 Abgabenordnung (AO) vorläufig hinsichtlich verschiedener Punkte, insbesondere auch hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4 und 4 a EinkommensteuergesetzEStG –). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid verwiesen. Gegen diesen Einkommensteuerbescheid 2007 vom Mai 2009 legten die Kläger form- und fristgerecht Einspruch ein. Sie begehrten neben der Berichtigung von Besteuerungsgrundlagen auch die Aufnahme des Solidaritätszuschlages in den Vorläufigkeitsvermerk. Mit Schreiben vom Juli 2009 ergänzten die Kläger ihren Einspruch. Nunmehr begehrten sie die Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen als Sonderausgaben. Zusätzlich beantragten die Kläger das Ruhen des Einspruchsverfahrens. Sie stützten sich hierbei auf das Verfahren des Bundesfinanzhofes (BFH) mit dem Aktenzeichen X R 15/09 und auf die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit dem Aktenzeichen 2 BvR 2299/04.

Mit Bescheid vom Oktober 2009 half der Beklagte dem Einspruch teilweise ab. Die Besteuerungsgrundlagen wurden zugunsten der Kläger korrigiert.

Dem Begehren der Kläger, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen, entsprach der Beklagte nicht. Mit Schreiben vom Sept. 2009 lehnte der Beklagte das Ruhen ab. Zur beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 3, 4, 4a Einkommensteuergesetz (EStG) und zur Höhe des Grundfreibetrages nach § 32 a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG sei ein Vorläufigkeitsvermerk ergangen. Dieser Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und Nr. 4 EStG sei inhaltlich hinreichend bestimmt, sodass das Rechtsschutzbedürfnis der Kläger gewahrt sei und es keines Einspruchs bedürfe. Die Voraussetzungen für ein Ruhen des Verfahrens seien damit gemäß § 363 Abs. 2 S. 2 AO nicht gegeben.

Mit Bescheid vom Febr.2011 wies der Beklagte den Einspruch (im Übrigen) als unbegründet zurück. Die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 AO lehnte er ab.

Gegen die Ablehnung der Verfahrensruhe wenden sich die Kläger mit ihrer Klage. Sie machen im Klageverfahren erstmals geltend, dass das Einspruchsverfahren im Hinblick auf ein laufendes Beschwerdeverfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR; Beschwerde-Nr. …) zur sogenannten pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur beschränkten Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe a S. 2 EStG (BVerfG-Beschluss vom 13.02.2008 2 BvL 1/06, BGBl I 2008, 540, NJW 2008, 1868) ruhen müsse. Es könne nicht richtig sein, dass eine verfassungswidrige Norm weiterhin zu Lasten des Steuerpflichtigen Anwendung finde.

Die Kläger sind der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 S. 1 oder § 363 Abs. 2 S. 2 AO vorliegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sei auch bei Rechtsverletzunge...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge