Leitsatz

1. Der Antrag auf Einbeziehung der Kapitalerträge in die Einkommensteuerveranlagung nach § 32d Abs. 4 EStG (sog. Antragsveranlagung) stellt ein unbefristetes Veranlagungswahlrecht dar (Bestätigung der BFH-Rechtsprechung).

2. Der Antrag nach § 32d Abs. 4 EStG kann zeitlich auch nach der Abgabe der Einkommensteuererklärung gestellt werden, sofern die Steuerfestsetzung zu diesem Zeitpunkt verfahrensrechtlich noch änderbar ist.

3. Bei der Entscheidung, ob die nachträglich bekanntgewordene Tatsache der Erzielung von Einkünften aus Kapitalvermögen zu einer höheren (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder einer niedrigeren (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) Steuer führt, ist nicht nur die festgesetzte Einkommensteuer, sondern auch die durch den Abzug vom Kapitalertrag abgegoltene Einkommensteuer in den Vergleich einzubeziehen.

4. Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen kann nur ausnahmsweise, nämlich bei Vorliegen von Willkürmaßnahmen, zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides führen.

 

Normenkette

§ 32d Abs. 4, Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 6 EStG, § 125 Abs. 1, § 162 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AO

 

Sachverhalt

Die Kläger wurden im Streitjahr 2009 zusammen veranlagt. Die Klägerin war als Hundeausbilderin gewerblich tätig und erklärte hieraus für die Jahre 2000 bis 2005 Einkünfte zwischen ./. 1.500 EUR (2002) und 4.800 EUR (2005). Der Kläger war Arbeitnehmer und erzielte auch Einnahmen aus einer (typisch) stillen Beteiligung.

Ab 2006 gaben die Kläger keine Steuererklärungen mehr ab. Für das Streitjahr 2009 schätzte das FA 2010 einen Gewinn der Klägerin in Höhe von 16.000 EUR. Bei den Einkünften des Klägers berücksichtigte es aber nicht dessen Einkünfte aus Kapitalvermögen. Die Einkommensteuerfestsetzung 2009 wurde bestandskräftig. 2015 reichten die Kläger eine Steuererklärung für 2009 ein, in der sie einen Gewinn der Klägerin von 6.700 EUR sowie nicht berücksichtigte Einkünfte aus Kapitalvermögen des Klägers von 21.800 EUR erklärten und darauf hinwiesen, dass sie den Sparer-Pauschbetrag bislang nicht in Anspruch genommen hätten.

Im Einspruchsverfahren machten die Kläger die Nichtigkeit der Schätzung des FA geltend und verlangten die Steuerfestsetzung mit der Anwendung des Abgeltungsteuersatzes von 25 % für die Kapitaleinkünfte nach § 32d Abs. 4 EStG. Einspruch und Klage blieben erfolglos (Niedersächsisches FG, Urteil vom 1.3.2017, 4 K 111/16).

 

Entscheidung

Auch die Revision hatte keinen Erfolg. Der BFH sah den Schätzungsbescheid nicht als nichtig an. Auch eine Änderungsmöglichkeit gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht gegeben, da die begehrte Änderung zugunsten der Kläger wirke und den Klägern grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Kapitaleinkünfte vorzuwerfen sei.

 

Hinweis

Dieses Urteil enthält sowohl Aussagen zur Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden (unter 1.) als auch zur Frage, wann eine Änderung des Steuerbescheids aufgrund der Ausübung eines Wahlrechts (im Streitfall gemäß § 32d Abs. 4 EStG) nach § 173 AO zugunsten des Steuerpflichtigen wirkt (unter 2. – 4.).

1. Bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen sind nach § 162 Abs. 1 Satz 2 AO alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Ausnahmsweise kann eine fehlerhafte Schätzung die Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Steuerbescheids zur Folge haben, wenn sich das FA nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat.

Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können ebenfalls einen besonders schweren Fehler i.S.v. § 125 Abs. 1 AO darstellen (sog. subjektive Willkürmaßnahme). Die Schätzung darf insbesondere auch nicht dazu verwendet werden, "die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten"; "Strafschätzungen" eher enteignungsgleichen Charakters sind zu vermeiden.

Eine sog. objektive Willkürmaßnahme liegt vor, wenn ein ebenfalls als fehlerhaft zu disqualifizierendes Schätzungsergebnis trotz vorhandener Sachverhaltsaufklärungsmöglichkeiten krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden.

2. Im Fall einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, die darauf beruht, dass der Steuerpflichtige seiner Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuer­erklärung nicht nachgekommen ist, kann eine nachgereichte Steuererklärung nachträglich bekannt werdende Tatsachen enthalten, die zu einer höheren Steuer (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder zu einer niedrigeren Steuer (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) führen.

Sind Tatsachen bzw. die ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte nur auf Antrag zu berücksichtigen oder ist bei ihnen ein Wahlrecht auszuüben, können Antrags- oder Wahlrechte grundsätzlich bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids (erstmals) a...

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