Leitsatz

1. Bei richtlinienkonformer Auslegung des § 3 Abs. 4 Satz 1 UStG 1993 sind unter "Zutaten" und "sonstige Nebensachen" Lieferungen zu verstehen, die bei einer Gesamtbetrachtung aus der Sicht des Durchschnittsbetrachters nicht das Wesen des Umsatzes bestimmen.

2. Die orthopädische Zurichtung von Konfektionsschuhen ist eine sonstige Leistung; deshalb kommt die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG 1993 i.V.m. Nr. 52 Buchst. b der Anlage hierzu nicht in Betracht.

 

Normenkette

§ 3 Abs. 4 UStG , § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage Nr. 52 Buchst. b , Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL , Art. 6 Abs. 1 der 6. EG-RL

 

Sachverhalt

Eine orthopädische Fachwerkstatt (die Klägerin) richtete u.a. auch vom Kunden mitgebrachte Konfektionsschuhe entsprechend einer ärztlichen Verordnung orthopädisch zu, z.T. mit Hilfe serienmäßig hergestellter besonderer oder auch sonst für Schuhreparaturen verwendeter Materialien, z.T auch mit individuell nach Fußabdruck mit Hilfe von eingekauften Rohlingen angefertigten Einlagen. Sie meinte, bei den orthopädischen Zurichtungen handele es sich um Lieferungen, die dem ermäßigten Steuersatz unterlägen.

Das FA sah dies anders. Das FG gab der Klägerin Recht.

 

Entscheidung

Der BFH hat – wie das FG – die Leistungen der Klägerin als einheitliche Leistung beurteilt; die Auffassung des FG, das sich zur Beurteilung der Frage, ob die Klägerin Lieferungen oder sonstige Leistungen erbracht hat, allein auf den Wortlaut des § 3 Abs. 4 Satz 1 UStG gestützt hatte ("Zutat", "Nebenstoff"), hat der BFH als nicht richtlinienkonform verworfen.

Die Leistung der Klägerin sei in erster Linie vom Dienstleistungselement bestimmt, denn sie müsse die notwendigerweise abstrakt formulierte, die körperliche Fehlbildung oder die spezifischen Hilfsmittel zur Beseitigung einer bestimmten körperlichen Fehlbildung beschreibende Verordnung auf die individuellen Verhältnisse des Patienten, ihres Kunden, umsetzen. Die dabei verwendeten Materialien hätten aus der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers deshalb keine selbstständige, leistungsbestimmende Bedeutung.

 

Hinweis

1. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG gilt der ermäßigte Steuersatz für Lieferungen der in der Anlage zum UStG bezeichneten Gegenstände, u.a. – Nr. 52 Buchst. b der Anlage – für "orthopädische Apparate und andere orthopädische Vorrichtungen einschließlich Krücken sowie medizinisch-chirurgischer Gürtel und Bandagen, ausgenommen Teile und Zubehör" aus Unterpos. 9021.19 ZT (jetzt Kombinierte Nomenklatur – KN –).

Bei Leistungen mit Liefer- und Dienstleistungselementen ist zunächst festzustellen, ob der Steuerpflichtige – aus der maßgeblichen Sicht des Durchschnittsverbrauchers – mehrere selbstständige Hauptleistungen oder eine einheitliche Leistung erbringt.

2. Handelt es sich um eine einheitliche Leistung, gelten die gemeinschaftsrechtlich geklärten Grundsätze für die Abgrenzung Lieferung und Dienstleistung. § 3 Abs. 4 Satz 1 UStG findet in der 6. EG-RL keine Parallele. Zu ermitteln ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH vielmehr das Wesen des Vorgangs; maßgebend ist die Sicht des Durchschnittsverbrauchers (vgl. z.B. EuGH, Urteil CPP vom 17.5.2001, Rs. C-322/99 und C-323/99, Fischer, Brandenstein, BFH-PR 2001, 230; BFH, Urteil vom 9.10.2002, V R 5/02, BFH-PR 2003, 186).

Wenn die Lieferungen nur einen Teil des Umsatzes darstellen, die Dienstleistungen aber überwiegen, ist der Umsatz als Dienstleistung zu beurteilen. Die subtilen Erwägungen zu den Begriffen "Zutat", "Haupt- oder Nebenstoff", die der aus der Umsatzsteuer-Urzeit unverändert weitergeschleppte § 3 Abs. 4 Satz 1 UStG nahe legt, lassen sich mit der 6. EG-RL und der Rechtsprechung hierzu nicht vereinbaren. Bei richtlinienkonformer Auslegung sind unter "Zutaten" und "sonstige Nebensachen" i.S.d. § 3 Abs. 4 UStG daher solche Elemente einer einheitlichen Leistung zu verstehen, die bei einer Gesamtbetrachtung aus der Sicht eines Durchschnittsbetrachters nicht das Wesen des Umsatzes bestimmen. Wert- oder Mengenverhältnisse sind nicht per se wesensbestimmend.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 9.6.2005, V R 50/02

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