Rz. 3

Europarechtliche Bedenken bestehen zunächst gegen den Tatbestand der Entstrickung[1], der der Bildung eines Ausgleichsposten sachlogisch vorausgeht. Wird ein einzelnes Wirtschaftsgut oder eine Sachgesamtheit durch einen Stpfl. innerhalb Deutschlands (auch zwischen Betriebsstätten oder ggf. Betrieben des Stpfl.) verlagert, ergibt sich typischerweise keine Aufdeckung von stillen Reserven und mithin auch keine Besteuerung aus dieser Transaktion. Wird ein Wirtschaftsgut demgegenüber in eine ausl. Betriebsstätte überführt, fingiert § 4 Abs. 1 S. 3 EStG eine Entnahme, die zur Steuerentstrickung in Form einer Aufdeckung der stillen Reserven und mithin zu einer Sofortversteuerung führt. Insoweit kommt es zu einer Ungleichbehandlung von rein inländischen Sachverhalten und solchen mit Auslandsbezug, die grundsätzlich geeignet ist, Unternehmen davon abzuhalten, Investitionen im Ausland vorzunehmen.[2] Folglich ist die Gründung von Zweigniederlassungen durch in Deutschland ansässige Unternehmen im europäischen Ausland betroffen, sodass die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV beeinträchtigt ist.[3]

Damit eine Einschränkung der Grundfreiheiten jedoch auch europarechtswidrig ist, muss diese einer Rechtfertigung entbehren. Eine Rechtfertigung ergibt sich nur durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, operationalisiert in Form der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten[4], der Kohärenz der betroffenen Regelung[5] oder der Vermeidung von Missbräuchen.[6] Sofern man der Argumentation des BFH zur Aufgabe der finalen Entnahmetheorie folgt, gibt der deutsche Fiskus bei der Verlagerung von Wirtschaftsgütern aus in Deutschland belegenem Betriebsvermögen in Betriebsstätten, die in einem ausl. Staat belegen sind, kein Besteuerungsrecht auf. Vielmehr besteht das Besteuerungsrecht der stillen Reserven ab dem Zeitpunkt der Verlagerung fort, bis das Wirtschaftsgut endgültig aus dem (ausl.) Betriebsvermögen des Stpfl. ausgeschieden ist, sodass eine Rechtfertigung nicht vorliegen dürfte.

 

Rz. 4

Der EuGH hat mit Urteil v. 29.11.2011 – National Grid Indus[7] hingegen entschieden, dass die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedsstaaten grundsätzlich als Rechtfertigung dienen kann, um im Falle eines Wegzugs einer Gesellschaft eine Schlussbesteuerung auf nicht realisierte Wertzuwächse herbeizuführen. Lediglich der sofortige Einzug der sich hieraus ergebenden Steuer sei unverhältnismäßig und verstoße gegen die Niederlassungsfreiheit. Vielmehr würde eine Regelung, die dem Stpfl. die Wahl einer Sofortversteuerung oder einer zeitlich aufgeschobenen Versteuerung ggf. zzgl. einer angemessenen Verzinsung sowie der Stellung von Sicherheiten zur Absicherung der Steuerforderung, weniger stark beeinträchtigend auf die Niederlassungsfreiheit wirken.[8] Seither galt § 4g EStG insoweit als "Speerspitze" des deutschen Fiskus, um den Eingriff in die Niederlassungsfreiheit gem. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG europarechtlich zu rechtfertigen und die Regelung verhältniswahrend auszugestalten.[9] Gleichwohl wurde infolge des Urteils bezweifelt, ob die Vorschrift wirklich umfangreich genug ist, um die deutsche Entstrickungsvorschrift für einzelne Wirtschaftsgüter "retten" zu können.[10] Ein häufiger Kritikpunkt ist insoweit die lediglich fünfjährige Stundungsmöglichkeit durch § 4g EStG unabhängig von der tatsächlichen Wertrealisierung.[11] Mit Urteil v. 23.1.2014, Rs. C-164/12 (DMC)[12] hat der EuGH indes für § 20 Abs. 6 UmwStG 1995 i. V. m. § 21 Abs. 2 S. 3 bis 6 UmwStG 1995 entschieden, dass die fünfjährige Stundungsdauer dieser Vorschrift durchaus als ausreichend angesehen werden kann, zumindest um einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 63ff. AEUV zu rechtfertigen. Insoweit liegt die Vermutung nahe, dass § 4g EStG grundsätzlich geeignet ist, die europarechtliche Zulässigkeit der deutschen Entstrickungsregelung im Grundfall abzusichern, obgleich hierbei die Niederlassungsfreiheit betroffen ist. Hieran anschließend hat der EuGH recht eindeutig entschieden, dass die Entstrickungsbesteuerung zumindest bei einer partiellen Stundung der Steuer über einen Zeitraum von 5 bis 10 Jahren zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse der Mitgliedsstaaten zulässig ist.[13] Soweit § 4g EStG greift, kann es m. E. als geklärt angesehen werden, dass die Regelung mit Europarecht vereinbar ist.

 

Rz. 5

Europarechtliche Bedenken ergaben sich allerdings aus dem Umstand, dass der Anwendungsbereich des § 4g EStG nur im Verhältnis zu EU-Staaten besteht, nicht jedoch im Verhältnis zu EWR-Staaten. Für die EWR-Staaten gilt die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 31 des EWR-Abkommens jedoch gleichermaßen[14], was auch der EuGH anerkennt.[15] Die EU hatte den Geltungsbereich der ATAD daher bereits auf die Staaten erweitert, die Vertragspartei des EWR-Abkommens sind und ein Amtshilfe-Abkommen abgeschlossen haben (Art. 5 Abs. 2 und 3 ATAD). In aktueller Fassung, die auf sämtliche noch offene Fälle anzuwenden ist (Rz. 2), ist d...

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