Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für eine nur anteilige Gewährung deutschen Kindergeldes

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Bei der Befugnis nach § 76 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71, den Kindergeldanspruch eines im Inland beschäftigten Elternteils ruhen zu lassen, soweit im Wohnsitzstaat (hier: Belgien) auf Grund einer Erwerbstätigkeit bzw. vorausgegangener Arbeitslosigkeit des anderen Elternteils ebenfalls ein Kindergeldanspruch besteht, dort aber keine Familienleistungen beantragt werden, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung.
  2. Übt die Familienkasse ihr Ermessen nicht aus (sog. Ermessensausfall), weil sie von einer gebundenen Entscheidung ausgeht, liegt hierin ein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründender Ermessensfehler.
  3. Bei der Ermessensentscheidung dürfte zu berücksichtigen sein, ob die Kindergeldberechtigten Kenntnis von einem vorrangigen ausländischen Anspruch auf Familienleistungen hatten.
 

Normenkette

VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 13 Abs. 2 Buchst. a; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 73; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 76 Abs. 1-2; EStG § 62 Abs. 1 Nr. 2b, § 63 Abs. 1 S. 3; FGO § 102 S. 1

 

Streitjahr(e)

2006

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 05.02.2015; Aktenzeichen III R 40/09)

BFH (Beschluss vom 27.09.2012; Aktenzeichen III R 40/09)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin für ihren Sohn Elias (geboren am 24.05.1995) ab Juli 2006 Kindergeld in voller Höhe beanspruchen kann.

Die Klägerin besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie übt in Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus und wird gemäß § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Deutschland als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt. Der Ehemann der Klägerin und Kindesvater besitzt die belgische Staatsangehörigkeit.

Die Klägerin bezog für Elias fortlaufend in Deutschland Kindergeld. Nach einer Mitteilung der Meldebehörde über den Wegzug der Klägerin und des Sohnes am 30.06.2006 nach Belgien hob die Beklagte im Bescheid vom 22.03.2007 die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2006 nach § 70 Abs. 2 EStG mit der Begründung auf, dass ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach § 62 EStG nicht mehr gegeben seien. Zugleich forderte die Behörde das für den Zeitraum von Juli 2006 bis März 2007 gezahlte Kindergeld in Höhe von 1.386 Euro zurück.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein und verwies zur Begründung darauf, dass ihr im Hinblick auf ihre unbeschränkte Einkommensteuerpflicht ein Kindergeldanspruch zustehe. Ihr Mann arbeite seit November 2006 bei einer Zeitarbeitsfirma in Belgien. Zuvor habe er in Belgien Arbeitslosengeld bezogen. Ihr Mann habe in Belgien kein Kindergeld erhalten. Zum Nachweis legte die Antragstellerin eine behördliche Bescheinigung vor.

Unter dem 26.03.2008 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid, in dem sie die Rückforderung überbezahlten Kindergeldes auf 702,69 Euro (77,05 Euro x 3 Monate = 231,15 Euro und 78,59 Euro x 6 Monate = 471,54 Euro) herabsetzte. Zur Begründung stellte sie darauf ab, für die Klägerin bestehe in der Zeit von Juli 2006 bis März 2007 ein Kindergeldanspruch nach dem EStG unter Anrechnung von Familienleistungen, die ihr in Belgien zugestanden hätten. Insofern werde für die Zeit von Juli bis September 2006 ein Betrag von monatlich 77,05 Euro und für die Zeit von Oktober 2006 bis März 2007 ein Betrag von monatlich 78,59 Euro angerechnet.

In der Einspruchsentscheidung vom 16.04.2008 wies die Beklagte den Einspruch im Übrigen als unbegründet zurück und führte aus: Die Klägerin erfülle zwar die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 EStG. Für den Sohn der Klägerin bestehe jedoch zugleich in Belgien ein Kindergeldanspruch. Welcher Kindergeldanspruch vorrangig sei, bestimme sich im Verhältnis zu anderen EU-Staaten nach den Regelungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bzw. der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 576/72. Diese Verordnungen gingen als überstaatliche Vorschriften der deutschen Rechtsordnung vor und seien in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Die Konkurrenz zwischen Kindergeldansprüchen verschiedener Mitgliedstaaten werde durch die Art. 76 bis 79 VO Nr. 1408/71 und Art. 10 VO Nr. 576/72 aufgelöst. Aus den Regelungen der Art. 76 bis 79 VO Nr. 1408/71 und des Art. 10 VO Nr. 576/72 lasse sich eine Rangfolge für Kindergeldansprüche herleiten. Danach bestehe zunächst ein Kindergeldanspruch im Wohnland des Kindes, wenn dort von einer anspruchsberechtigten Person eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werde. Nachfolgend bestehe ein Kindergeldanspruch in dem Staat, in dem eine anspruchsberechtigte Person eine Erwerbstätigkeit ausübe. Sei nach dieser Rangfolge ein Anspruch in einem anderen Staat vorrangig, werde der deutsche Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistung ausgesetzt und es könne nur der Differenzbetrag ausgezahlt werden. Einer Aussetzung des nachrangigen deutschen Kindergeldanspruchs stehe nach dem Rechtsgedanken aus Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 nicht ...

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