Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld für ein in den Haushalt aufgenommenes erwachsenes, behindertes Pflegekind

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein familienähnliches Band i. S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu einem Volljährigen kann bereits dann vorliegen, wenn aufgrund einer Behinderung ein derartiger Betreuungsbedarf besteht, dass der Volljährige anderenfalls in einem Heim leben müsste.

 

Normenkette

EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 2; SGB XII § 53 ff.; BSHG § 39

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 09.02.2012; Aktenzeichen III R 15/09)

 

Tenor

1. Unter Aufhebung des Bescheids vom 18. September 2007 und der Einspruchsentscheidung vom 31. Dezember 2007 wird die Beklagte verpflichtet, über den Antrag der Klägerin, ihr für Frau S Kindergeld für die Zahlungszeiträume ab Januar 2002 zu gewähren, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

4. Der Streitwert wird festgesetzt auf 12.782 Euro.

5. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 Euro, hat die Klägerin in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 Euro kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin für ein Pflegekind i. S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Kindergeld zu gewähren ist.

Die Klägerin hat eine – am 16. August 1952 geborene – Frau S (künftig: S), in ihren Haushalt aufgenommen. Sie betreut S im Rahmen der „Familienpflege für erwachsene geistig und körperlich behinderte Menschen”, und zwar seit dem 8. Oktober 1999.

S ist seit Geburt schwerbehindert. Der Grad ihrer Behinderung betrug zunächst 50 vom Hundert. Seit dem 26. Februar 2007 ist er mit 90 vom Hundert festgestellt.

S bezieht seit April 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Das Vormundschaftsgericht hat für S einen Betreuer bestellt. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst

  • die Vermögensangelegenheiten,
  • die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts,
  • die Mitwirkung bei Maßnahmen der Heilbehandlung und Gesundheitsfürsorge und
  • die Entgegennahme der Post.

Das Sozialamt gewährt seit September 2006 die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen im Sinne der §§ 53 ff. des Sozialgesetzbuches (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe – (SGB 12). Die Klägerin erhält ein Pflegegeld von 385,75 Euro, S einen Betrag in Höhe von 70 Euro.

Mit Bescheid vom 18. September 2007 lehnte die Beklagte den – mit Datum vom 23. November 2006 unterzeichneten – Antrag der Klägerin, ihr Kindergeld für die Zahlungszeiträume ab Januar 2002 zu gewähren, ab. Der Einspruch hiergegen blieb erfolglos. Mit ihrer Einspruchsentscheidung vom 31. Dezember 2007 führte die Beklagte aus, die Aufnahme eines Volljährigen in die Hausgemeinschaft und die Sorge für ihn begründe für sich allein regelmäßig kein Pflegekindschaftsverhältnis, selbst wenn dieser behindert sei. Wenn der Volljährige jedoch schwer geistig oder seelisch behindert sei und dadurch in seiner geistigen Entwicklung einem Kind gleichstehe, könne ausnahmsweise ein Pflegekindschaftsverhältnis unabhängig von seinem Alter begründet werden.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin weiterhin das von ihr beantragte Kindergeld.

Die Beklagte beantragt im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung,

die Klage abzuweisen.

Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf

  • den – dem Gericht nur auszugsweise (Seite 1) vorgelegten – Rentenbescheid vom 21. Juli 1997 (ABl. 49),
  • das Schreiben der Familienpflege der … an den …verband vom 3. Januar 2000 (Kindergeldakte, Bl. 308 f.),
  • die „Richtlinien des …verband für Leistungen im Rahmen der ambulanten Hilfen für erwachsene behinderte Menschen in Familienpflegestellen” in der Fassung vom 5. November 2002 (Kindergeldakte, Bl. 310 f.),
  • die Mitteilungen zur Leistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli der Jahre 2001 bis 2003, 2005 und 2007 (Kindergeldakte, Bl. 291, 292, 293, 296, 297),
  • den Beschluss des Vormundschaftsgerichts vom 5. August 2002 (Kindergeldakte, Bl. 277),
  • den Bescheid des Sozialamts über die Eingliederungshilfe vom 8. September 2006 (Kindergeldakte, Bl. 298 ff.),
  • den Bescheid des Versorgungsamts vom 29. Mai 2007 (Kindergeldakte, Bl. 268 ff.; ABl. 45 ff.),
  • die Schwerbehindertenausweise vom 24. Juli 1997 und vom 29. Mai 2007 (Kindergeldakte, Bl. 278, 279) und
  • das Schreiben der … e.V. an die Beklagte vom 6. Juli 2007 (Kindergeldakte, Bl. 274 ff.).
 

Entscheidungsgründe

1. Die Klage ist teilweise begründet.

Gegenstand des Klagebegehrens im Sinne von § 65 Abs. 1 Satz 1, § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist, den Bescheid vom 18. September 2007 in der Gestalt der Einspruchse...

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