Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Steuerpflichtige. Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Einheiten, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe’). Nationale Regelung, die den Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt. Begriff ‚enge finanzielle Verbindung’. Erfordernis, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt. Fehlen. Beurteilung der Selbständigkeit einer wirtschaftlichen Einheit nach Maßgabe standardisierter Kriterien. Bedeutung

 

Normenkette

EWGRL 388/77 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2

 

Beteiligte

Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie

Finanzamt Kiel

Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 11.12.2019; Aktenzeichen XI R 16/18; BFH/NV 2020, 598)

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 18.01.2023; Aktenzeichen XI R 29/22 (XI R 16/18))

 

Tenor

1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.

2. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.

3. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388 in geänderter Fassung

dahin auszulegen, dass

er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. März 2020, in dem Verfahren

Finanzamt Kiel

gegen

Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Richter,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, S. Eisenberg und S. Heimerl als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Januar 2022

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 4 sowie von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. 2000, L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt Kiel (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) und der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH...

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