Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Gewerbesteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Liegt eine neue Tatsache von einigem Gewicht im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO hinsichtlich des Gewinns aus Gewerbebetrieb vor, so genügt dies, um in dem Verfahren betreffend die Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags eine Berichtigung auch hinsichtlich der Hinzurechnungen und Kürzungen nach den Vorschriften des GewStG vorzunehmen.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; GewStG § 8 Ziff. 8, § 8/7, §§ 9, 35b

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Berichtigung der rechtskräftigen Gewerbesteuermeßbeträge für die Jahre 1953 bis 1955 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO zulässig ist.

Der Bf. war in den Streitjahren Pächter einer Apotheke. In seinen Gewerbesteuererklärungen fehlten Angaben über die Mitpachtung des Apothekeninventars. Es unterblieb daher zunächst eine Hinzurechnung der Miet- und Pachtzinsen für die Benutzung der nicht in Grundbesitz bestehenden Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens gemäß § 8 Ziff. 8 GewStG 1950. Nachdem dem Finanzamt im Jahre 1957 auch die Mitpachtung des Inventars bekanntgeworden war, berichtigte es die Gewerbesteuermeßbescheide für 1953 und 1954 nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO. Es zog von den vom Bf. an den Verpächter geleisteten Zahlungen für Miete und Pacht den Betrag von 7.200 DM, der vom Bf. für die überlassung der Räume gezahlt worden war, ab und rechnete die Hälfte des überschießenden Betrags dem Gewerbegewinn hinzu. In dem sich daran anschließenden Einspruchsverfahren legte der Bf. den Pachtvertrag vor, der folgende Regelung enthält: "Die Pachtsumme beträgt jährlich 10 v. H. des Umsatzes, mindestens jedoch 7.200 DM für die Räumlichkeiten und 3.000 DM für die gesamte Einrichtung." Auf Grund dieses Vertragstextes gab das Finanzamt dem Antrag des Bf. statt und legte als Pachtzins für das Inventar nur 29,4 v. H. des gesamten Pachtzinses mit Rücksicht darauf zugrunde, daß der über die Mindestsummen von 7.200 DM und 3.000 DM hinausgehende Betrag nur in dem gleichen Verhältnis aufgeteilt werden könne (Berichtigungsbescheide nach § 94 Abs. 2 AO vom 26. August 1957). In gleicher Weise wurde in dem gleichzeitig ergangenen ersten Gewerbesteuermeßbescheid für 1955 verfahren.

Anläßlich einer nach Erlaß der letzterwähnten Gewerbesteuermeßbescheide im Jahre 1958 durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Prüfer neue Tatsachen von erheblichem Gewicht fest, die die Höhe der Gewinne aus Gewerbebetrieb für 1953 und 1954 beeinflußten. Der Prüfer ermittelte außerdem, daß der Teil der Pacht, der über die festgelegten Mindestbeträge für die Einrichtung und Räume hinausgeht, für die pachtweise überlassung des Apothekenbetriebsrechts gezahlt wurde und demnach zur Hälfte dem Gewerbegewinn hinzuzurechnen ist. Das Finanzamt berichtigte auf Grund dieser Feststellungen die Festsetzungen der Gewerbesteuermeßbeträge für 1953 bis 1955 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO (Berichtigungsbescheide vom 12. Juli 1958) und rechnete nach § 8 Ziff. 8 GewStG nunmehr wieder die Hälfte des über 7.200 DM hinausgehenden Betrags dem gewerblichen Gewinn hinzu.

Einspruch und Berufung blieben erfolglos. Das Finanzgericht ließ sich bei seiner Entscheidung im wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten:

Das Finanzamt habe für 1953 und 1954 bezüglich der Höhe des Gewerbegewinns erhebliche neue Tatsachen festgestellt, die für diese Jahre die Berichtigung der Veranlagung der Gewerbesteuermeßbeträge rechtfertigten. Nach dem Wortlaut des § 222 AO könnten nicht nur Steuerbescheide, sondern auch Steuermeßbescheide berichtigt werden. Lägen bezüglich der Höhe des Gewinns, der nach § 7 GewStG die Grundlage für die Ermittlung des Gewerbeertrags bilde, neue Tatsachen vor, so berechtigten diese zur Berichtigung des Gewerbesteuermeßbescheids auch hinsichtlich der im übrigen unbestrittenen Hinzurechnungen. Für 1955 sei die Berichtigungsveranlagung ungeachtet dessen, daß erhebliche neue Tatsachen hinsichtlich des Gewinns aus Gewerbebetrieb nicht vorlägen, zulässig, weil durch die Betriebsprüfung im Jahre 1958 erstmals festgestellt worden sei, daß der Teil der gezahlten Pacht, der über die festgesetzten Mindestbeträge für Einrichtung und Räume hinausgehe, für die pachtweise überlassung des Apothekenbetriebsrechts gezahlt worden sei. Dieses aber gehöre zu den Wirtschaftsgütern im Sinne des § 8 Ziff. 8 GewStG. Die frühere Entscheidung des Finanzamts im ersten Einspruchsverfahren stehe der Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagung für 1955 nicht entgegen.

Mit der Rb. wendet sich der Bf. erneut gegen die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagungen für 1953 bis 1955 vom 12. Juli 1958. Die neuen Tatsachen, die zu einer Erhöhung der gewerblichen Gewinne für 1953 und 1954 und damit zu einer Berichtigung der Einkommensteuerveranlagungen geführt hätten, seien nicht auch gleichzeitig für die Gewerbesteuer neue Tatsachen. Die Gewerbesteuermeßbescheide könnten nur dann geändert werden, wenn neue Tatsachen vorlägen, die ausschließlich die Sondervorschriften des Gewerbesteuerrechts berührten. Dies sei aber nicht der Fall, weil der Sachverhalt insoweit bereits im ersten Einspruchsverfahren von dem Finanzamt geprüft worden sei. Die änderung der Gewerbesteuermeßbescheide sei daher dem Finanzamt nur im Rahmen des § 35 b GewStG möglich. Nach dieser Vorschrift könne aber nur eine änderung in bezug auf die Höhe des Gewinns erfolgen, nicht dagegen auch in bezug auf die Hinzurechnungen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO ist eine Berichtigungsveranlagung nur zulässig, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn sich aus den Unterlagen der Veranlagungsstelle kein Anhalt dafür ergibt, daß die Steuererklärung unrichtig ist, nachträglich aber Umstände bekannt werden, nach denen eine höhere Steuerfestsetzung begründet erscheint. Die von den Vorinstanzen als "neu" im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO angesehene Tatsache, daß nämlich der Teil der gezahlten Pacht, der über die festgelegten Mindestbeträge für Einrichtung und Räume hinausgeht, für die pachtweise überlassung des Apothekenbetriebsrechts gezahlt wurde, muß also der für den Erlaß der Gewerbesteuermeßbescheide für den Bf. zuständigen Veranlagungsstelle zumindest im Zeitpunkt des Ergehens der Berichtigungsbescheide für die Gewerbesteuer 1953 und 1954 vom 26. August 1957 und des ersten Gewerbesteuermeßbescheids für 1955 vom gleichen Tage unbekannt gewesen sein, d. h. diese Tatsache darf zu diesem Zeitpunkt weder dem zuständigen Sachbearbeiter noch dem diesem übergeordneten Sachgebietsleiter bekannt gewesen sein. Ausweislich der Akten und nach dem von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt war der für den Bf. zuständigen Veranlagungsstelle im Zeitpunkt des Ergehens der Bescheide vom 26. August 1957 auf Grund des Einspruchsschreibens des Bevollmächtigten des Bf. vom 5. April 1957 und des in Abschrift vorgelegten Pachtvertrages nur bekannt, daß die Pachtsumme jährlich 10 v. H. des Umsatzes, mindestens jedoch 7.200 DM für die Räumlichkeiten und 3.000 DM für die gesamte Einrichtung beträgt, und daß die auf das Inventar entfallende Pacht sich somit auf 29,4 v. H. der Gesamtpacht beläuft. In dem genannten Einspruchsschreiben heißt es hierzu wörtlich:

"Die über die fixe Pacht in Höhe von 10.200,00 DM hinausgehenden Beträge können deshalb entsprechend dem Verhältnis der feststehenden Pacht für das Inventar zur fixen Pachtsumme allenfalls aufgeteilt werden. Das würde bedeuten, daß für 1953 von dem überschießenden Betrag 29,4 % der feststehenden Pacht für das Inventar hinzugeschlagen ist, so daß die auf das Inventar entfallende Pacht für 1953 4.940 DM beträgt.

Für 1954 ergibt sich bei dem gleichen Rechenexempel eine Pacht für das Inventar von 6.768 DM. Die Hinzurechnungsbeträge nach § 8 Ziff. 8 GewStG können sich deshalb für 1953 nur auf 2.470 DM und für 1954 auf 3.384 DM belaufen."

Hieraus ergibt sich zweifelsfrei, daß im Zeitpunkt des Ergehens der Bescheide vom 26. August 1957 seitens des Bf. und seines Bevollmächtigten nicht davon die Rede war, daß der über die vertraglich festgelegten Mindestbeträge für Räume und Inventar hinausgehende Betrag für die pachtweise überlassung des Apothekenbetriebsrechts gezahlt wurde, wie es späterhin im Jahre 1958 im Rahmen der Betriebsprüfung festgestellt wurde. Hieraus folgt, daß diese Tatsache der Veranlagungsstelle im entscheidenden Zeitpunkt nicht bekannt war.

Eine Tatsache ist aber auch dann nicht "neu" im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, wenn sie dem Finanzamt zwar nicht bekannt war, wenn das Finanzamt aber bei ausreichender Erfüllung der amtlichen Ermittlungspflicht davon hätte Kenntnis erlangen können. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn das Finanzamt trotz ersichtlicher Unklarheiten auf weitere Ermittlungen verzichtet. Hierauf kann sich aber nur ein Steuerpflichtiger berufen, der seiner Mitwirkungspflicht selbst voll nachgekommen ist (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs IV 143/56 U vom 10. Juli 1958, BStBl 1958 III S. 365, Slg. Bd. 67 S. 239; VI 296/57 S vom 5. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 86, Slg. Bd. 68 S. 223, und I 155/57 U vom 20. Januar 1959, BStBl 1959 III S. 221, Slg. Bd. 68 S. 581). Im Streitfall kann es dahingestellt bleiben, ob das Finanzamt hinsichtlich der Pacht weitere Ermittlungen hätte anstellen müssen. Denn andererseits hat der Bf. die ihm obliegende Erklärungs- und Darlegungspflicht (ß 171 AO) nicht in zumutbarem Umfang erfüllt; er hat sogar dem Finanzamt gegenüber insofern irreführende Angaben gemacht, als er unter Verschweigung der Tatsache, daß mit einem Teil der Pachtzahlung auch das Apothekenbetriebsrecht abgegolten werden sollte, begehrt hat, daß die Hinzurechnungsbeträge nach § 8 Ziff. 8 GewStG unter Zugrundelegung eines Prozentsatzes von 29,4 v. H. der Gesamtpacht für das Inventar zu ermitteln seien.

Demnach handelt es sich für die gesamten streitigen Erhebungszeiträume 1953 bis 1955 um eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, auch um eine solche von erheblichem Gewicht, so daß die insoweit von den Vorinstanzen vorgenommenen bzw. in ihrer Zulässigkeit bestätigten Berichtigungsveranlagungen vom 12. Juli 1958 gerechtfertigt sind, ohne daß es eigentlich noch eines Eingehens auf die Frage bedürfte, ob bereits die für 1953 und 1954 bezüglich der Höhe der Gewinne festgestellten erheblichen neuen Tatsachen eine Wiederaufrollung der rechtskräftig abgeschlossenen Gewerbesteuermeßbetragsfestsetzungen auch hinsichtlich der Hinzurechnungen gerechtfertigt hätten. Die Vorinstanzen haben im übrigen diese Frage mit Recht bejaht. Der Bf. kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß insoweit die änderung der Gewerbesteuermeßbescheide nur gemäß § 35 b GewStG mit Beschränkung auf eine Berichtigung der Gewinne aus Gewerbebetrieb möglich gewesen wäre. Wenn auch nach § 2 Abs. 1 GewStG der Begriff des Gewerbebetriebs für die Einkommensteuer und Gewerbesteuer der gleiche ist, so handelt es sich doch bei der Veranlagung zur Einkommensteuer und bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags um zwei getrennte selbständige Verfahren. Das Finanzamt ist in seiner Beurteilung in dem einen Verfahren nicht an diejenige im anderen Verfahren gebunden. Auch durch § 35 b GewStG (änderung des Gewerbesteuermeßbescheids infolge änderung des Einkommensteuerbescheids) ist keine solche Bindung geschaffen worden; die Vorschrift dient lediglich der Vereinfachung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 336/59 U vom 27. April 1961, BStBl 1961 III S. 281, Slg. Bd. 73 S. 34). Wohl werden unterschiedliche Entscheidungen in den beiden Verfahren praktisch kaum vorkommen. Doch sind sie theoretisch durchaus möglich (vgl. hierzu Grieger, Deutsche Steuer-Zeitung / A 1960 S. 25, und Jüsgen, Deutsche Steuer-Zeitung / A 1961 S. 305). Da zwischen den beiden Verfahren keine Bindung besteht, ist eine Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO bei Vorliegen einer sich nur auf den Gewinn aus Gewerbebetrieb beziehenden neuen Tatsache von einigem Gewicht im Verfahren betreffend die einheitliche Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags auch hinsichtlich der Hinzurechnungen und Kürzungen nach den Sondervorschriften des Gewerbesteuerrechts vorzunehmen, d. h. die Wiederaufrollung des Falles erstreckt sich auch auf diese. Der Bf. kann sich demgegenüber auch nicht mit Erfolg auf die Grundsätze des Urteils des Reichsfinanzhofs I 119/43 vom 23. März 1944 (RStBl 1944 S. 370) berufen. In dem dort entschiedenen Fall handelt es sich um die Mehreinkommensteuer, die in ihren Grundlagen mit der veranlagten Einkommensteuer und Körperschaftsteuer gemäß § 30 der Durchführungsverordnung zum Neuen Finanzplan unlösbar verknüpft war. Der Steuerpflichtige konnte daher bei der Veranlagung zur Mehreinkommensteuer anders als bei der Gewerbesteuermeßbetragsfestsetzung nicht einwenden, daß der Gewinn bei der Einkommensteuer- bzw. Körperschaftsteuerveranlagung unrichtig festgestellt war. Dementsprechend ist die Vorentscheidung auch unter diesem Gesichtspunkt für die Jahre 1953 und 1954 - für 1955 haben die Vorinstanzen das Vorliegen neuer Tatsachen von erheblichem Gewicht bezüglich des Gewinns aus Gewerbebetrieb zutreffend verneint - rechtlich nicht zu beanstanden.

Da nur Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagungen Gegenstand der Rb. waren, die fraglichen Gewerbesteuermeßbescheide 1953 bis 1955 auch sonst weder tatsächliche noch rechtliche Mängel aufweisen, die Höhe der Hinzurechnungen im übrigen unstreitig ist, war die Rb. als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410597

BStBl III 1963, 10

BFHE 1963, 25

BFHE 76, 25

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