Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerberhaftung nach Betriebsübereignung (§ 75 AO 1977)

 

Leitsatz (NV)

Zu den Voraussetzungen der Erwerberhaftung nach Betriebsübereignung, (§ 116 AO, § 75 AO 1977), wenn sich die Betriebsanlagen teilweise auf fremdem Boden befinden.

 

Normenkette

AO § 116; AO 1977 § 75

 

Tatbestand

Die Klägerin erwarb im Januar 1974 betriebliche Einrichtungen zur Herstellung und Lieferung von Fertigbeton von einer KG. Das Betonwerk hatte die KG im Jahr 1971 auf einem gepachteten Grundstück in Betrieb genommen. Nach Auslaufen des Pachtvertrages (31. Juli 1972) gestatteten der Pächter und die an dem Grundstück weiterbeteiligten Eigentümer der Klägerin die Nutzung noch bis zum 30. April 1974. Um die Transportbetonproduktion über diesen Zeitpunkt hinaus weiterführen zu können, erwarb die KG von einer Erbengemeinschaft Ende 1972 ein Erbbaurecht an dem Grundstück in W und begann hierauf in 1973 eine weitere Transportbetonanlage zu errichten.

Die KG stellt in D, in L und in B Transportbeton her. Im Januar und Februar 1974 veräußerte die KG, die seit Herbst 1973 in Zahlungsschwierigkeiten geraten war, die beweglichen Anlagen ihrer Produktionsstätten an verschiedene Erwerber. Im April 1974 beantragte sie die Eröffnung des Konkursverfahrens. Zu diesem Zeitpunkt bestanden erhebliche Steuerrückstände, darunter die Umsatzsteuerabschlußzahlung 1973 sowie die Vorauszahlungen für Januar und Februar 1974.

Mit privatschriftlichem Vertrag vom Januar 1974 erwarb die Klägerin von der KG

1. die Anlage S (darunter Mischanlage 120 000 DM) 135 000 DM

2. die Anlage W 201 000 DM

3. 2 Transportbetonmischer 65 134 DM

Zwischensumme 401 134 DM

einschließlich einer Zinsvergütung von 20 000 DM

zum Gesamtpreis von 421 134 DM

Die KG hatte mit der Anlage S bis zur Veräußerung Fertigbeton produziert. Mit dem Erwerb durch die Klägerin wurde die Produktion eingestellt. Die Mischanlage wurde von der Klägerin als Ersatzteilträger verwendet. Die Anlage W war von der KG nicht mehr fertiggestellt worden. Die Produktion wurde dort erst ca. 1/2 Jahr später von der Klägerin nach umfangreichen Investitionen aufgenommen.

Mit Bescheiden vom Mai und Juli 1975 nahm das FA die Klägerin wegen der Umsatzsteuerrückstände 1973 und I/1974 der KG, soweit sie - nach anteiliger Schätzung - auf das Betonwerk in D entfielen, mit rd. 45 000 DM in Haftung.

Mit der Klage hat die Klägerin die Aufhebung des Haftungsbescheids begehrt. Sie habe mit dem Betonwerk in S und der Anlage W keinen in der Gliederung eines Unternehmens im ganzen gesondert geführten Betrieb erworben. Der Betrieb in D habe keine Selbständigkeit gehabt. Sie, die Klägerin, habe lediglich die technische Einrichtung der beiden Betriebsstätten übernommen. Die Anlage S habe wegen der Kündigung des Mietverhältnisses (30. April 1974) abgebrochen werden müssen. In der zum Kaufzeitpunkt noch nicht fertiggestellten Betriebsstätte in W habe die Produktion erst nach Investitionen von ca. 200 000 DM nach ca. 5 Monaten aufgenommen werden können. Fehlende technische Geräte habe sie zum Teil von anderen Firmen übernommen. Außer der unvollständigen technischen Einrichtung habe sie von der KG keine geschäftlichen Unterlagen, keine Verbindlichkeiten und Aufträge, insbesondere auch keine immateriellen Wirtschaftsgüter wie Firma, Kundenstamm, Marktanteil oder Wettbewerbsverbot erworben.

Das FG hat zur Frage des Zustandes der Anlagen in S und W Beweis erhoben durch Zeugenvernehmung.

Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme hat das FG den Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung aufgehoben. Nach den im wesentlichen übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen habe es der Betriebsstätte S nahezu an jeglicher Selbständigkeit gefehlt. Sie habe kein eigenes Büro, kein eigenes Geschäftspapier, keine eigene kaufmännische Verwaltung, insbesondere keine eigene Buchführung, kein eigenes Bankkonto, kein eigenes Recht zur Preisbildung, keine eigene Befugnis zum Warenbezug und zur Einstellung oder Entlassung von Personal, keinen eigenen Betriebsleiter gehabt. Die kaufmännische Verwaltung der W sei zentral vorgenommen worden. Die Geschäftsleitung habe unmittelbar in Händen der Geschäftsführer des Gesamtunternehmens gelegen. Es seien daher wesentliche Voraussetzungen für die Annahme eines selbständigen Teilbetriebs nicht erfüllt gewesen. Entsprechendes gelte für die geplante, noch im Aufbau befindlich gewesene Anlage in W, die zudem noch in ihren baulichen und technischen Anlagen bei weitem nicht fertiggestellt gewesen sei. Es sei zweifelhaft, ob beide Betriebsstätten als eine betriebliche Einheit zu würdigen seien. Selbst wenn man dem FA insofern folgen wollte, fehle es aus den dargestellten Umständen an der erforderlichen kaufmännisch-geschäftlichen Selbständigkeit.

Mit der Revision beantragt das FA, unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen. Es rügt unrichtige Anwendung von § 116 AO. Das FG habe mit der Verneinung der Selbständigkeit der Anlagen in D den Begriff des in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebs (Teilbetriebes) verkannt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Es kann auf sich beruhen, ob die Erwerberhaftung nach § 116 AO schon deshalb entfällt, weil - wie das FG ausgeführt hat - die Anlage S und die Anlage W, einzeln oder zusammengenommen, wegen fehlender Selbständigkeit i. S. der vom FG angegebenen Rechtsprechung des BFH keine gesondert geführten Betriebe (Teilbetriebe) nach § 116 Abs. 1 Satz 1 AO gewesen sind. Denn die Anwendung dieser Vorschrift entfällt bei beiden Anlagen jedenfalls im Hinblick darauf, daß bei keiner der beiden eine Übereignung im ganzen an die Klägerin stattgefunden hat. Eine solche Übereignung im ganzen liegt vor, wenn dem Erwerber die wesentlichen Grundlagen eines Unternehmens bzw. Teilbetriebes übertragen wurden und er dadurch in die Lage versetzt wurde, mit den auf ihn übertragenen Gegenständen ohne nennenswerte Investitionen einen gleichen Betrieb fortzuführen (vgl. Urteile des BFH vom 4. Februar 1974 IV R 172/70, BFHE 112, 110, BStBl II 1974, 434, und vom 20. Juli 1967 V 240/64, BFHE 89, 466, BStBl II 1967, 684). Dies beinhaltet, daß ein ,,lebendes" Unternehmen, also ein lebender Organismus auf den Erwerber übertragen wird (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., Tz. 7 zu § 116 AO mit Hinweisen).

Die Anlage S wurde zufolge den finanzgerichtlichen und für den erkennenden Senat rechtsverbindlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) auf fremden Grundstücken unterhalten, und zwar aufgrund von Nutzungsgestattungen, welche bis zum 30. April 1974 befristet waren. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH und der herrschenden Meinung in der Literatur ist in Fällen der hier vorliegenden Art, in denen der Betrieb auf fremdem Grund und Boden aufgrund eines obligatorischen Nutzungsrechts unterhalten wird, eine Betriebsübereignung nach § 116 AO nur gegeben, wenn der Veräußerer dem Erwerber die Möglichkeit verschafft, mit dem Grundeigentümer ein neues Nutzungsverhältnis (gleich welcher Art) abzuschließen (Urteile des BFH vom 11. Juli 1963 V 208/60, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 116, Rechtsspruch 21, und vom 24. Januar 1963 V 52/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1964, 220; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., Anm. 2 Buchst. b, aa zu § 75 AO 1977; Tipke/Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., Tz. 6 u. 7 zu § 75 AO 1977).

Das ist hier - nach den finanzgerichtlichen Feststellungen - nur insoweit der Fall gewesen, als die Grundeigentümer sich zwar bereit gefunden hatten, die Nutzung der Klägerin für die Zeit nach der Übernahme der Anlage (25. Januar 1974) zu gestatten, aber eben nicht über den vorgesehenen und unmittelbar bevorstehenden Endtermin (30. April 1974) hinaus. Es bestand also bereits bei Übernahme der Anlage Ende Januar 1974, als dem für die rechtliche Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt (vgl. Urteil des BFH vom 6. August 1985 VII R 189/82, BFHE 144, 204, BStBl II 1985, 651), für die Klägerin die Gewißheit, die Anlage - unter Berücksichtigung einer unvermeidbaren Räumungsfrist - allenfalls noch 2 bis 2 1/2 Monate nutzen zu können. Damit stand bereits im Zeitpunkt der Übernahme eindeutig fest, daß der Betrieb in S nicht fortgesetzt werden konnte, wie dies zufolge den finanzgerichtlichen Feststellungen tatsächlich auch nicht geschehen ist. Denn die Mischanlage wurde von der Klägerin ausschließlich als Ersatzteilträger verwendet. Die Klägerin war also mit der Übernahme der Anlage nicht in die Lage versetzt worden, einen Betrieb gleicher Art - nämlich einen Produktionsbetrieb - fortzusetzen. Die Verwendung als Ersatzteilträger und die Nutzung als Produktionsbetrieb sind wirtschaftlich nicht das gleiche. Damit entfällt die Anwendung von § 116 AO.

Die Anlage W war nach den finanzgerichtlichen Feststellungen bei der Übernahme Ende Januar 1974 nicht fertiggestellt und daher nicht betriebsbereit. Der Betrieb konnte von der Klägerin erst ein halbes Jahr nach der Übernahme und nach Vornahme erheblicher Investitionen erstmals aufgenommen werden. Die Anwendung von § 116 AO scheidet damit, wenngleich aus anderem Grunde, hier ebenfalls aus.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414318

BFH/NV 1986, 577

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