Leitsatz (amtlich)

1. Ein in Form einer verbindlichen Zolltarifauskunft ergangener Bescheid kann den Anforderungen an eine Einspruchsentscheidung genügen.

2. Waren mit einer charakterbestimmenden Folie aus isocyanatvernetztem Acryl mit Methacryl-Anteil und eingebetteten Mikro-Glaskugeln sind "andere" Mischpolymerisationserzeugnisse der Tarifst. 39.02 C XIV GZT (Kunststofferzeugnisse).

 

Orientierungssatz

EG-Tarifentscheide sind ebenso wie die Erläuterungen zum Zolltarif zwar nicht rechtsverbindlich, wohl aber wesentliches Erkenntnismittel bei der Auslegung des Zolltarifs (vgl. EuGH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

AO 1977 § 348 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2; FGO § 44; GZT Tarifnr 39.02 Tarifst C-12; GZT Tarifnr 39.02 Tarifst C-14; GZT ATV 3b

 

Tatbestand

I. Die Klägerin beantragte eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) über reflektierende Polyacrylatfolie, die in Rollen aus Japan eingeführt und zur Herstellung reflektierender Verkehrsschilder verwendet werden soll und die nach Ansicht der Klägerin der Code-Nummer 3902 910 10 zuzuordnen ist. Die Oberfinanzdirektion (OFD) erteilte der Klägerin zunächst eine vZTA, durch die das Erzeugnis der Tarifst. 39.07 B V d des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zugewiesen wurde. Gegen diese vZTA legte die Klägerin Einspruch ein, mit dem sie begehrte, das Erzeugnis der Code-Nummer 3902 910 10 zuzuweisen. Unter Aufhebung der vorbezeichneten vZTA erteilte die OFD der Klägerin aufgrund des Einspruchs eine neue vZTA mit Tarifierung der Ware nach Tarifst. 39.02 C XIV b . Nach dieser vZTA hat die Ware die Beschaffenheit einer mehrlagigen reflektierenden Folie aus einem isocyanatvernetzten Acryl-Methacryl-Mischpolymerisat (AMM) mit eingebetteten aluminiumverspiegelten Mikro-Glaskugeln und einer vorderen dünnen Deckfolie aus einem AMM. Beide Schichten sind oberflächenbearbeitet, nämlich stegartig miteinander verbunden ("verklebt"). Auf der Rückseite weist die Folie eine Acrylatkleberbeschichtung auf, die mit einer abziehbaren Schutzfolie aus Polypropylen versehen ist. Die Glasperlenbinderschicht weist insgesamt eine Dicke von 0,15 mm auf, die Mikro-Glaskugeln allein haben einen Durchmesser von jeweils etwa 0,05 mm.

Mit der Klage macht die Klägerin geltend, die Ware gehöre gemäß ATV 3a zur Tarifst. 39.02 C XII (Code-Nummer 3902 910 10 -"reflektierende Polyacrylfolien, Mikrokügelchen enthaltend"). Diese Tarifierung gelte selbst bei Anwendung von ATV 3b, weil die von den Glasmikrokügelchen --nicht von der Glasperlenbinderschicht-- ausgehende reflektierende Wirkung das wesentliche Merkmal der Folien sei. Auch wenn diese Schicht als charakterbestimmender Bestandteil der Folie angesehen werde, führe die Tarifierung zur Tarifst. 39.02 C XII, denn die Glasperlenbinderschicht sei eine Polyacrylfolie mit nur geringen Anteilen Methacryl (1 bis 2 %). Die Vernetzung sei keine entscheidende Modifikation. Ergänzend führt die Klägerin aus, den Charakter der Ware bestimmten nach ihrem Verwendungszweck die Mikro-Glaskugeln, weil sie die Folien für die Herstellung von (großflächigen) Verkehrszeichen geeignet machten; dies ergebe sich aus der optimalen retroreflektierenden Wirkungsweise von Glaskugelfolien. Eine Vernetzung des AMM bleibe mithin ohne Einfluß auf die Tarifierung.

 

Entscheidungsgründe

II. 1. Die Klage ist zulässig.

Das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf --Einspruch, § 348 Abs.1 Nr.5, Abs.2 der Abgabenordnung (AO 1977)-- hat stattgefunden und ist erfolglos geblieben; damit ist die Sachurteilsvoraussetzung nach § 44 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegeben. Maßgebend dafür ist, daß die OFD die von der Klägerin begehrte Überprüfung ihres Standpunkts tatsächlich durchgeführt und die Klägerin entsprechend beschieden hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 8.Februar 1974 III R 140/70, BFHE 112, 6, 9, BStBl II 1974, 417).

Daß der Einspruch der Klägerin hinsichtlich des Tarifierungsbegehrens nicht ausdrücklich zurückgewiesen worden ist, ist unschädlich, ebenso die fehlende Bezeichnung als Einspruchsentscheidung (vgl. Urteil in BFHE 112, 6, 9, BStBl II 1974, 417; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 366 AO 1977 Tz.1). Auch in förmlicher Hinsicht genügt der in der Form einer vZTA ergangene Bescheid den Anforderungen an eine Rechtsbehelfsentscheidung. Er ist insbesondere zugestellt worden und mit Rechtsbehelfsbelehrung versehen (§ 366 AO 1977), und zwar mit der Belehrung über den Rechtsbehelf --die Klage (§ 37 Nr.2 FGO)--, der nach erfolglosem Einspruch gegen eine vZTA gegeben ist. Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen im Hinblick auf § 44 Abs.2 FGO auch nicht deshalb Bedenken, weil mit ihr die Aufhebung der mit der Einspruchsentscheidung erteilten vZTA begehrt und die ursprüngliche vZTA im Klageantrag nicht mehr erwähnt wird. Den Ausführungen der Klägerin ist zu entnehmen, daß sie sich gegen die vZTA in der Einspruchsentscheidung gewandt hat, weil diese nunmehr die für sie maßgebende Auskunft ist, die die frühere vZTA ersetzt hat.

2. Die Klage ist nicht begründet.

Die OFD hat die Ware zutreffend tarifiert - nach der charakterbestimmenden Glasperlenbinderschicht aus isocyanatvernetztem Acryl, einem (trotz nur geringfügigen Methacryl-Anteils) "anderen" Mischpolymerisationserzeugnis der Tarifst. 39.02 C XIV, und die zolltarifliche Behandlung des Erzeugnisses als Ware der Tarifst. 39.02 C XII mit Recht abgelehnt.

Die von der Klägerin begehrte Tarifierung läßt sich nicht auf den Wortlaut der Code-Nummer 3902 910 10 --Zollaussetzung für reflektierende Polyacrylfolien, Mikrokugeln enthaltend-- stützen. Diese Code-Nummer des Deutschen Gebrauchszolltarifs (DGebrZT) --Handbuch für die Zollabfertigung-- ist keine Tarifstelle des Zolltarifs (vgl. auch § 20 Abs.1 Satz 3 der Allgemeinen Zollordnung in der Fassung der Verordnung vom 9.Dezember 1985, BGBl I 1985, 2181); sie erfaßt im übrigen nur Waren, die zur Tarifst. 39.02 C XII gehören. Das Erzeugnis ist jedoch wegen der Isocyanat-Vernetzung der für die Tarifierung maßgebenden Schicht keine solche Ware.

Die Tarifierung der zusammengesetzten Ware richtet sich nach der Allgemeinen Tarifierungsvorschrift (ATV) 2b Satz 3, ATV 3 und 5. Da kein Bestandteil von einer Tarifnummer oder -stelle mit genauerer Warenbezeichnung erfaßt wird (ATV 3a), kommt es auf den charakterbestimmenden Bestandteil an (ATV 3b). Der Charakter der Ware wird nicht durch die Deckfolie bestimmt, sondern durch die Glasperlenschicht aus vernetztem AMM, der die eigentliche, mit der Ware bezweckte Wirkung --Herstellung reflektierender Verkehrsschilder-- beikommt und die zudem nach Umfang (Dicke), Menge und Gewicht überwiegt; diese Kriterien sind bei der Ermittlung des charakterbestimmenden Bestandteils zu berücksichtigen, wie sich auch aus den Erläuterungen zum Zolltarif --ErlZT-- (hier: ErlZT zu ATV 3 Teil I Rdziff.17) ergibt, die zwar nicht rechtsverbindlich, wohl aber nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und des Senats wesentliches Erkenntnismittel bei der Auslegung des Zolltarifs sind.

Die für die Tarifierung maßgebende Glasperlenschicht weist den Charakter eines Kunststofferzeugnisses auf, obwohl in sie Mikro-Glaskugeln eingebettet sind. Die Schicht könnte allerdings nicht als ein solches Erzeugnis gewertet werden, wenn die Glaskugeln charakterbestimmend wären. Diese von der Klägerin zuletzt vertretene Auffassung --sie vermöchte im übrigen, falls zutreffend, die von der Klage begehrte Tarifierung (Kap.39) nicht zu stützen-- ist jedoch nicht richtig. Der Kunststoffanteil der Schicht überwiegt umfangmäßig erheblich gegenüber den Glaskugeln; das äußere Erscheinungsbild der Schicht wird von dem Kunststoff geprägt (nicht von den Mikro-Glaskugeln); dessen Trägerfunktion ist für die Verwendung der Ware von gleichrangiger Bedeutung wie die von den aluminiumverspiegelten Mikro-Glaskugeln ausgehende reflektierende Wirkung. Diese Umstände rechtfertigen es, die Schicht zolltariflich als Kunststofferzeugnis anzusehen (vgl. auch ErlZT zu Kap.39 Teil I Rdziff.27 und 62).

Diese Schicht besteht wie die Deckfolie aus AMM, unterscheidet sich aber von dieser durch ihre Isocyanat-Vernetzung. Der Unterschied ist zolltariflich von Bedeutung. Zwar gilt jede Anführung eines Stoffes in einer Tarifnummer oder -stelle für diesen Stoff sowohl in reinem Zustand als auch gemischt oder in Verbindung mit anderen Stoffen (ATV 2b Satz 1, ATV 5), doch darf ein Zusatz der Ware nicht das Gepräge eines zolltariflich anderweit einzuordnenden Erzeugnisses geben (vgl. ErlZT zu ATV 2 Teil I Rdziff. 15; ATV 1). Ebenso darf eine zu einer anderen Tarifstelle führende Bearbeitung nicht außer Betracht gelassen werden.

Erzeugnisse, die an sich zu einer der vorangehenden Tarifstellen der Tarifnr. 39.02 gehören, fallen, wenn sie in bestimmter Weise modifiziert sind, als "andere" Polymerisations- oder Mischpolymerisationserzeugnisse unter die Tarifst. 39.02 C XIV. Das ergibt sich aus den ErlZT zu Tarifnr. 39.02 Teil II Rdziff.17, nach denen z.B. Polyäthylen, an sich zur Tarifst. 39.02 C I gehörend, wenn es chloriert ist, der Tarifst. 39.02 C XIV zuzuweisen ist. Dasselbe muß für vernetzte AMM gelten. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich dies mit dem von der OFD angeführten Tarifentscheid begründen läßt, nach dem reflektierende Acrylpolymerisatfolien, mit Melaminformaldehyd modifiziert, in der Masse Mikrokugeln (Ballotini) enthaltend, zur Tarifst. 39.02 C XIV gehören (vgl. ErlZT, a.a.O., Teil III Rdziff.12 ff.), ob die Ware --was die Klägerin bestreitet-- einem solchen Erzeugnis gleichzuachten ist. Jedenfalls läßt sich dem Tarifentscheid vom 29.Mai 1980 (vgl. ErlZT, a.a.O., Rdziff.16 ff.) entnehmen, daß nach Auffassung des Ausschusses für das Schema des GZT Polyacrylsäure (-pulver), mit Polyalkenylpolyäther vernetzt (bis etwa 1,3 %), unter die Tarifst. 39.02 C XIV fällt. Ein Tarifentscheid ist zwar nicht rechtsverbindlich, jedoch, ähnlich wie die ErlZT, ein Hilfsmittel zur Anwendung des GZT, "wertvolles Erkenntnismittel" (EuGH-Urteile vom 15.Februar 1977 Rs 69-70/76, EuGHE 1977, 231, 238, und vom 11.Juli 1980 Rs 798/79, EuGHE 1980, 2639, 2646). Der Senat teilt die dem vorbezeichneten Tarifentscheid zugrunde liegende Tarifauffassung, die in gleicher Weise für die zu tarifierende Ware maßgebend ist. Die Vernetzung --räumliche Verknüpfung von Polymerketten untereinander zu einem Netzpolymeren-- bewirkt eine Härtung von Kunststoffen (Neumüller in Römpps Chemie-Lexikon, 7.Aufl. 1977, S. 3800); schon geringe Mengen vernetzender Zusätze wirken sich aus (vgl. auch Vieweg/Esser, Kunststoff-Handbuch, Band IX-Polymethacrylate, 1977, S.150, hinsichtlich vernetzter Acrylgläser). Dies rechtfertigt es, eine isocyanatvernetzte AMM-Schicht von Beschaffenheit der hier charakterbestimmenden Folie nicht mehr als Ware der Tarifst. 39.02 C XII, sondern als "anderes" Mischpolymerisationserzeugnis anzusehen (vgl. auch derzeit Code-Nummer 3902 982 80 DGebrZT).

Innerhalb der Tarifst. 39.02 C XIV gehört die charakterbestimmende Schicht unter Berücksichtigung ihrer Form (vgl. Vorschrift 3d zu Kapitel 39 sowie ErlZT zu Kapitel 39 Teil II Rdziff.3), wie von der OFD richtig entschieden, zum Absatz b.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61927

BFHE 150, 253

BFHE 1987, 253

HFR 1987, 578-579 (ST)

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